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Das polnische Berlin im Blick

Unter dem Titel "Wir Berliner!" startet das Zentrum für Historische Forschung in Berlin ein mehrjähriges Forschungsprojekt über die vielfältige Beziehung von Polen zur deutschen Hauptstadt und deren Einfluss auf die Metropole.

Moderation: Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Berlin lebt. Es lebt fast so, als ob nichts passiert wäre: impertinent, laut, unbedingt und leidenschaftlich. Nur manchmal pfeift der Wind. Aber vielleicht reden da auch die Götter miteinander, die dort mit zerschlagenen Antlitz auf der Erde liegen. So ist es beim Polen Aleksander Rogalski 1946 zu lesen in der neuen Anthologie "Berlin. Polnische Perspektiven". Die polnische Perspektive auf Berlin ist seit drei Jahrhunderten intensiv gelebt worden. Etwa der aus einer polnischen Familie stammende Kupferstecher Daniel Chodowiecki hatte im 18. Jahrhundert die ganze deutsche Literaturklassik illustriert. Der Kunstsammler Raczynski hat im 19. Jahrhundert die Kunst seiner Epoche in großem Stil gesammelt. Auf seinem Grundstück wurde später der Reichstag errichtet. Unter dem Motto "Me Berlintschetze", "Wir Berliner!" startet das Zentrum für Historische Forschung in Berlin ein mehrjähriges Projekt über die vielfältige Beziehung von Polen zu Berlin und deren Einfluss auf die Metropole. Das Zentrum für Historische Forschung ist ein Unternehmen der Polnischen Akademie der Wissenschaft. Martin Sander in Berlin, heute war die Auftaktdiskussion zum Projekt. Welche polnische Geschichte Berlins soll denn gezeigt werden?

    Martin Sander: Eine Geschichte, die zeigt, wie stark Polen Berlin beeinflusst und verändert haben, und zwar sowohl auf der hohen kulturellen Ebene, Sie haben ja gleich zwei prominenten Beispiele genannt, aber auch auf einer zweiten, für Berlin sehr wichtigen Ebene, nämlich der vielen Menschen, die aus Polen nach Berlin gekommen sind, um Arbeit zu suchen zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und die die damals expandierende Industriestadt mitgeprägt haben. Dieses polnische Berlin, vielleicht zusammengefasst, wie man es sieht in diesem Projekt, das hat der Leiter Robert Traba, der auch der Leiter des Zentrums an der Akademie der Wissenschaften ist, des Historischen Zentrums, folgendermaßen ausgedrückt:

    "Berlin ist wirklich eine letzte Metropole im Osten Europas, was aber vielleicht nicht gut klingt für die Berliner, aber das ist doch Ostmitteleuropa."

    Wenn das Robert Traba so sagt, und der sagt, es klingt ein bisschen provokativ, dann ist das vielleicht die Höflichkeit des Gastes. Denn er ist auch erst als Professor und Leiter des Zentrums seit einem Jahr in Berlin tätig. Ich glaube, in Berlin nimmt man solche Stimmungsbilder und solche Definitionen recht gelassen.

    Schmitz: Herr Sander, manches weiß man schon über die Polen in Berlin. Welche weißen Flecken müssen denn in der historischen Forschung ausgemalt werden?

    Sander: Viel weiß man eben über das Wilhelminische Deutschland, über die große Bedeutung der polnischen Migranten Ende des 19. Jahrhunderts. Wenig aber weiß man zum Beispiel darüber, wie eigentlich Polen nach 1945 in Ostberlin gelebt haben, wie sehr sie eigentlich ihre Identität leben konnten, wie viel sie zur Stadt beigetragen hat. Und ein zweiter noch weißer Fleck, ganz wichtig auch die Zeit nach 1933/34 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, denn damals gab es eine politische Annäherung zwischen Hitlerdeutschland und Polen unter Pilsudski, dem Staatschef. Und da hat es ein sehr, sehr umfangreiches Kulturprogramm gegeben. Man hat sich offiziell geradezu befreundet. Es hat mehr kulturellen Austausch gegeben als zuvor. Und darüber weiß man auch sehr wenig, und vielleicht wollte man in der Vergangenheit von so etwas auch nicht so viel wissen. Aber das wird jetzt erforscht.

    Schmitz: Ich habe eingangs aus dem Buch "Berlin. Polnische Perspektiven" zitiert. Ist das ein Auftakt zum Forschungsprojekt, und welchen Tenor schlägt diese Anthologie an?

    Sander: Es ist vielleicht nicht ein Auftakt, sondern es fällt mit dem Auftakt zusammen. Dieser Tenor dieses Buches, das ist ganz interessant, es sind Zeitzeugen, die sich da äußern. Es ist, sagen wir mal, ich würde nicht sagen Gebrauchsliteratur, autobiografische Texte, die stehen im Vordergrund. Es ist zum Teil auch die hohe Literatur, dann wenn natürlich Gombrowicz, ein großer polnischer Dichter, nach Berlin kommt und über Berlin schreibt. Aber wir haben auch Essays und Reportagen aus den 20er Jahren, wo ein polnischer Journalist beobachtet, wie die Berliner auf die Inflation reagieren, wie nämlich die eigentlich sehr uneleganten Berliner plötzlich, weil sie ihr Geld umwechseln wollen, die eleganteste Kleidung tragen und die besten Schuhe, witzige Texte. Insgesamt ist diese Anthologie unter dem ein wenig akademischen Titel "Polnische Perspektiven", finde ich, ganz glücklich aufgegliedert. Es gibt den Blick von Reisenden aus Polen in Berlin. Es gibt die Selbstzeugnisse der polnischen Berliner. Und dann gibt es noch als besondere Kapitel natürlich die Gefangenen im Zweiten Weltkrieg, die Zwangsarbeiter, die über ihre Erlebnisse berichten und dann auch das, was nach 1945 passiert oder eben erstmal nicht mehr passiert ist, weil es da zunächst kein polnisches Leben in Berlin mehr gab.

    Schmitz: Herr Sander, noch mal zum Veranstalter. Das Polnische Zentrum für Historische Forschung in Berlin, dass ja dieses Projekt durchführt, wurde 2006 gegründet. Warum hält es die Polnische Akademie der Wissenschaften für nötig, in Berlin Geschichtsforschung zu betreiben?

    Sander: Na ja, wenn die Deutschen Geschichtsforschung in vielen Städten der Welt und nicht nur in Rom und in London treiben, sondern auch in Warschau, denn dort gibt es schon seit Jahren ein Deutsches Historisches Institut, dann ist es ja mehr als recht und billig, dass es auch die Polen in Berlin tun.

    Schmitz: Kulturpolitische Gründe? In zwei, drei Sätzen bitte, Herr Sander.

    Sander: Ja, und der politische Hintergrund dieses Instituts, ein interessanter, finde ich, dass man hier eigentlich nicht Nationalgeschichte im polnischen Sinne betreiben will, sondern wirklich eine multiethnische Geschichte, in der Polen und Deutschland als Teil Europas und auch in ihrer wechselvollen Identität untersucht werden.

    Schmitz: Herr Sander, vielen Dank für das Gespräch über das Forschungsprojekt "Wir Berliner" des Zentrums für Historische Forschung in Berlin.