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Das Sagbare sagen

Das Werk des 1996 verstorbenen Helmut Heißenbüttel zählt zu den Klassikern der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg; eine zweischneidige Tatsache, denn der gewichtige Ausdruck "Klassiker" evoziert auch das Bild eines auf hohem Sockel stehenden, also unerreichbaren Poeten. Wenn es sich bei so einem dann noch um einen der Vertreter der experimentellen Avantgarde handelt, die mit ihrer Konzentration auf den Materialcharakter der Sprache und mit ihrem Bezugnehmen auf Strukturalismus und Linguistik besonders der gegenwärtigen Forderung nach Geschichten, nach handlungsorientiertem Erzählen diametral entgegenstehen, dann kann man für das 16-bändige Werk Heißenbüttels nur fürchten: Steht ehrbar. Setzt Staub an. Es ist daher eine mutige und schöne Idee, ein Lesebuch zu konzipieren, um das Interesse an einem gelinde gesagt nicht sehr einfachen Werk wachzuhalten oder zu wecken. Hubert Arbogast ist ein langjähriger Kenner von Heißenbüttels Arbeit. Der von ihm zusammengestellte Band ist in vier Abteilungen gegliedert. Er zeigt exemplarisch, wie Heißenbüttel das Gedicht und das Erzählen zu verändern versuchte; er umfaßt Texte, die der Autor "Gespräch" oder "Traktat" nannte, und schließlich späte Gedichte, die insofern einen Einschnitt markieren, als sie sich Tradiertes aus Barock oder Romantik zu eigen machen und in aller Behutsamkeit wieder so etwas wie Subjektivität artikulieren.

Sabine Peters |
    Heißenbüttels "Textbücher", die ab 1960 erschienen, erinnern heute noch in ihrem Titel daran, wie radikal mit dichterischen Normen und Traditionen gebrochen wurde. Der Textbegriff, der ja seinerseits einen absoluten Anspruch enthält, war zunächst als Protest gegen einengende Gattungsbezeichnungen wie Lyrik, Epik und Dramatik gedacht, auch als Protest gegen das pathetische lyrische Ich, gegen den auktorialen Erzähler. Wenn Heißenbüttel später selbst den Textbegriff relativierte, dann geschah das, um nicht in einer eigenen Programmatik zu erstarren, um sich Offenheit und Widersprüchlichkeit zu erhalten. Autor sein hieß für Heißenbüttel in aller Trockenheit und Skepsis: Im Kreuzpunkt von Strömungen sein. Vorgefundenes Sprachmaterial registrieren, isolieren, reduzieren und kombinieren. Formbestimmtheit, Rationalität und Präzision. Texte als Konzentrate, als Ensembles ohne bedeutungsstiftende Strukturierung, ohne ein konstituierendes, seiner selbst gewisses Subjekt. Der Mensch als Bündel von Redegewohnheiten; als der, der von Sprache "gesprochen wird". Die Nähe zu einem Wittgenstein oder einem Lacan ist unübersehbar, wenn es in einem frühen Text, der "grammatischen Reduktion", etwa heißt: "Ich rede wenn ich rede in einer Sprache die meiner Rede fremd ist. Meiner Rede ist die Sprache in der ich rede uneigentlich. Redend in der Sprache die der Rede fremd geworden ist wird diese Sprache anders." Das ist der abstrakte Heißenbüttel, der sich und dem Leser so viel Mühe abverlangt; der einen bis heute einschüchtern oder ärgerlich reizen kann.

    Schon früh wurde ihm die Unpersönlichkeit des wissenschaftlichen Stils, Formgefangenheit und eitle Schreibskepsis vorgehalten. Dazu kommt längst die Erkenntnis, daß viele Techniken der konkreten Poesie, die Heißenbüttel ja selbst anwandte, partiell kopierbar sind und eine Tendenz zur Selbstgenügsamkeit haben - die Anzahl wirklich gelungener Beispiele ist begrenzt. Arbogast zeigt Heißenbüttel in seiner Auswahl nicht als einen typischen "Konkreten" - er akzentuiert vielmehr in seinem gleichwohl repräsentativen Lesebuch eher den Heißenbüttel, der fortgesetzt Ungegenständliches und Gegenständliches aufeinander zuspannt. Die komplizierten Konzepte, die intellektuellen Reflektionen scheinen für den Autor geradezu eine zwingende innere Voraussetzung gewesen zu sein, sich selbst Bilder, Anschauungen und Beobachtungen zu erlauben, die - und das ist immer wieder das Überraschende - unmittelbar einleuchten und aufleuchten.

    Brigitte Kronauer beschreibt in ihrem klugen und feinfühligem Nachwort, wie eben die Bewegung von Gedanken zu den Wahrnehmungsbildern Heißenbüttels unverwechselbare Handschrift ausmache. Der Duktus des Autors ist zugegebenermaßen äußerst spröde. Immer wieder kann man auch in Arbogasts Auswahl nachlesen, wie sich da einer vorsätzlich selbst ein Bein stellt, sich unterbricht, beinahe pedantisch vorgeht - bis dann, um es in einem Bild zu sagen, der frische Wind der Anarchie den bleiernen Himmel aufreißt, und die Wolken stieben. Während der Lektüre assoziiert man häufig das Attribut "norddeutsch": Sprödigkeit, Kühle, Strenge - aber "norddeutsch" läßt eben auch an die zarte Geometrie und Genauigkeit dieser Landschaft denken. In Heißenbüttels Naturbeobachtungen artikuliert sich ein unangestrengtes Staunen, ein Unmittelbares, in dem sich Momente eines, wiederum sehr zarten Glücksgefühls mitteilen. In den "Trostsprüchen" wird mit holpriger Anmut gereimt: "Sprühregen bindet blaßblaugrüne Ferne/ Kuhrückenhorizont hat wehenden Himmel gerne." Oder: "Katze einzeln quert Wintersaat/ Bussard absegelt Planquadrat." Oder, in einem Text über den Stoff, den sich die Einbildung ausgedacht hat: "Wenn er auf den Deich geht, morgens, die Sonne scheint lang und es ist diesig, schlägt gleichsam das Panorama aus Land und Wasser langsam, sehr langsam, sein Auge auf und wieder zu." Oder: "Winter ist eine Ansammlung von Saatkrähen und Wollschafen auf einer zugeschneiten Weide." Widerspricht nicht diese mühelose Schönheit aus Sorgfalt plus Schwebe dem ganzen poetologischen Apparat Heißenbüttels? Vielleicht steht dieses mathematische Zeichen, dieses "plus", für die Zumutung und Provokation, die Heißenbüttels Texte von Anfang an darstellen: Respektlos gesagt, ohne seinen Theoriekram ist gerade dieser Autor durchaus nicht zu haben; der ist ein Teil seines Rhythmus´, seines Arbeitsprozesses, und Prozesse dürfen weit gespannt und widersprüchlich sein. In allem Respekt liest man schließlich auch immer wieder die Sinnlichkeit des Reflektierens, wenn Heißenbüttel sagt, was ihm sagbar ist: "Eingewickelt in Maschen aus Meinung und Sprichwörtern und all solch Nachschleifendem. All dies Nachschleifende hinter mir herschleifend. Wenn ich mich rühre, wird immer alles mitberührt ... Verheddert sich. Zieht sich stramm. Spannt reißt schleift hängt. Ich halte mich still und es bewegt sich alles durch mich hindurch."