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Das Schweigen der Frauen

Die Autorin Larissa Boehning, Jahrgang 1971, gab ihr Debüt vor genau zehn Jahren. Seither hat sie nur einen Roman veröffentlicht, der prompt für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Ihr zweiter Roman "Das Glück der Zikaden" könnte sie nun auch für ein breiteres Publikum zur literarischen Entdeckung machen.

Von Oliver Seppelfricke | 19.01.2012
    Der Generationenroman ist ein beliebtes Mittel, die große Geschichte als Abfolge privater Momente über Jahrzehnte hinweg zu erzählen. Schon in ihrem Romandebüt vor vier Jahren benutzte Larissa Boehning diesen Stoff. Und auch der neue Roman "Das Glück der Zikaden" folgt diesem Muster. Aus gutem Grund. Larissa Boehning:

    "Weltwirtschaftskrise, Krieg, Nachkriegszeit – obwohl das alles so einschneidende Erlebnisse sind, geht Weltgeschichte irgendwie außerhalb von unseren Leben an uns vorbei. Natürlich touchieren wir es mit unserem Leben ab und zu. Aber eigentlich wirft sich nicht alles durcheinander. Und diese Verbindung wollte ich gerne erzählen. Dass wir unser Leben leben und unser Leben leben aus unseren Charakteren heraus. Und unsere Charaktere bestimmen die Entwicklung unseres Lebens, womöglich wesentlich mehr als es die äußere Geschichte tut."

    Larissa Boehning, die in einem privaten Projekt einige im Ersten Weltkrieg geborene Menschen nach deren Erfahrungen befragt, wählt eine über allen Personen und Zeiten stehende Erzählperspektive, in der sie uns eine Familiengeschichte über drei Generationen hinweg nahe bringt. Und: Es ist vor allem eine Frauengeschichte. Es ist ein Generationenroman, der anhand dreier Frauenschicksale 60 Jahre deutscher Geschichte erzählt.

    "Mich interessieren Frauencharaktere schon besonders. Mich interessiert sehr das, was Frauen zwischen den Generationen weitergeben. Oder eben auch nicht weitergeben. Zu welchen Zerwürfnissen, zu welchen Umschichtungen das dann führt in der jeweils nächsten Generation. Da haben Frauen, finde ich, sehr interessante Wege, die sie gehen. Die oft ja auch eher mit Nichtreden, also mit Schweigen zu tun haben. Das finde ich an sich sehr spannend. Auch die Einsamkeit von Frauen. Spezielle Formen von Einsamkeit, zu denen Frauen eher neigen als Männer."

    Da ist zunächst Nadja: Die deutschstämmige Großmutter tingelt als Revuetänzerin in Moskau, ist überzeugte Kommunistin, doch als Ende der dreißiger Jahre das deutschfeindliche Klima zunimmt, muss die Frau, die so gerne in den Illusionen ihrer Bühnenrollen lebt, zurück ins verhasste Land der Vorfahren: nach Nazi-Deutschland. Dort kann sie kaum noch auftreten, der ungeliebte Ehemann Anton ernährt die Familie durch allerlei Jobs, doch Nadja kann sich mit der Veränderung, der geografischen, politischen, persönlichen, nicht abfinden. Und greift zu einem Mittel, das fortan in der Familie weitergereicht wird: zum Schweigen.

    ":"Das Schweigen ist eine große Kraft, kann eine sehr negative Kraft sein. Bis hin, dass es auch zu den stärksten Verletzungen gehören kann, die Menschen sich zufügen können.""

    Das Schweigen, das Verschweigen, das Nichtwissenlassen, wird fortan das Schicksal der Familie bestimmen. Über drei Generationen hinweg wird es vor allem an den Frauenfiguren durchexerziert: die Auswirkungen, das Leiden daran, die Schwierigkeit, es durchzuhalten und die Schwierigkeit, es aufzuheben. Letztlich werden alle nachfolgenden Generationen am Schweigen scheitern. Senta, Nadjas Tochter, wird den Geliebten in die DDR ziehen lassen - unfreiwillig. Katarina, das Kind, das aus dieser Beziehung stammt, wird die Mutter dem neuen Freund unterschieben, und am Ende gelingt erst in der dritten Generation eine Versöhnung dieser Menschen, die sich hintergangen haben, die ihre Ideale den Umständen opferten oder aufrechtzuerhalten suchten und die dadurch ihre Beziehungen gefährdeten und die durch eines auffallen: durch ihre große Leidensfähigkeit. Gerade die Frauen! Transportiert die Autorin, auch wenn ihr Buch als Ganzes im historischen Kolorit stimmig ist und auch sprachlich und im Konfliktpotential der Figuren überzeugt, nicht doch ein überholtes Bild der Frau? Das der ewig Leidenden, die duldsam alles hinnimmt?

    "Ich bin nicht Feministin in dem Sinne. Aber mich interessieren diese Frauencharaktere, die vielleicht nicht ganz aus ihrer Haut können manchmal und da andere Wege suchen. Es ist der Kontext, in dem ich auch aufgewachsen bin, muss ich sagen. Also Frauen, die mit ihrer Emanzipation auf halber Strecke irgendwie steckengeblieben sind und diese Frustrationen darüber auch weitergegeben haben. Das ist für mich ein spannendes Thema: Warum ist auch eine Emanzipation vielleicht auf halber Strecke stehen geblieben. Wo kommt das her? Warum? Was ist da nicht weitergegangen? Wie geben Frauen dann diese nicht gelebten Sehnsüchte weiter?"

    Larissa Boehning gelingt es, in einer sehr behutsamen und ruhigen Sprache selbst die atemraubenden und schnellen Szenen der Kriegs- und Nachkriegszeit mit Hyperinflation, mit der geradezu absurden Entwertung von Lebensentwürfen und mit den Kapriolen des Schicksals, das Menschen in Sekundenschnelle auseinandertreibt oder sie wieder zusammenführt, zu beschreiben. Ihre Sprache ist anschaulich, voller ausdrucksstarker Bilder, sie harmoniert mit dem Gegenstand, den Irrungen und Wirrungen der großen und der privaten Geschichten der 30er bis zu den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Und auch da, im Schreibstil, ist sich die Autorin treu geblieben. Vielleicht erklärt es sich daraus, dass Larissa Boehning neben ihren literarischen Tätigkeiten als Schreibende und Schreibelehrende auch noch Designerin ist. Dass sie beim Schreiben immer das Aussehen des Ganzen im Auge hat. Beim Buch also dessen Atem, dessen Klang, und dass sie einen Roman wie ein Design stimmig komponiert. Und selbst das, zwei Kinder und Ehemann dazu, ist nur die halbe Wahrheit, wie Larissa Boehning gesteht, warum man sie auf Messen, Lesungen oder literarischen Festivals so selten antrifft:

    "Ich bin doch gerne ein zurückgezogener Mensch. Also auch wenn ich damit das Klischee des Autoren oder der Autorin bediene. Ich sitze gerne an meinem Schreibtisch. Ich schreibe. Für mich ist der Prozess des Schreibens wirklich ein Glück, auch ein glücklicher Zustand, ein sehr zufriedener Zustand. Ich schätze diesen ruhigen Raum, in dem ruhiges Nachdenken stattfinden kann. Woraus dann für mich irgendwann der literarische Text entsteht. Und dann eben das Buch."

    Larissa Boehnings gelungener Roman "Das Glück der Zikaden" ist im Verlag Galiani
    erschienen, 327 Seiten kosten Euro 19,99.

    Larissa Boehning: Das Glück der Zikaden, Roman, Galiani, 327 Seiten, Euro 19,99