Ackroyd ist Chronist seiner Stadt und Verfechter einer visionären Tradition innerhalb der englischen Literatur: sein mittlerweile auf zwanzig Bände angewachsenes Werk versteht er als «alternative Geschichte» Londons, wo er selbst vor fünfzig Jahren geboren wurde und immer noch lebt. Er ist der Biograph von T.S. Eliot, von Dickens und William Blake; seine Romane handeln von Thomas Chatterton, dem gescholtenen «Fälscher» mittelalterlicher Dichtung, von John Milton oder dem Londoner Barock-Architekten Nicholas Hawksmoor. Eben auch von Oscar Wilde: "Das Tagebuch des Oscar Wilde" ist dessen fiktive Autobiographie. Dessen Skizzenbuch, dessen Klatschgazette; ein Zitatenschatz voller Aphorismen und Bonmots, von denen Wilde zwar die meisten nie selbst geschrieben hat, aber doch gewiss gern geschrieben hätte:
«Oscar,» sagt einer, nachdem er in dem Tagebuch gelesen hat. «Das können Sie nicht veröffentlichen. Es ist barer Unsinn - und das allermeiste davon ist schlicht und einfach nicht wahr.»
«Was um Himmels willen soll das heißen?» entgegnet Wilde.
«Es ist alles erfunden.»
«Es ist mein Leben.»
Es ist also beides: Oscar Wildes erfundenes Leben, und allein dieses Paradoxon des «erfundenen Lebens» lässt schon erahnen, wie nah Peter Ackroyd Oscar Wilde in seinem Roman kommt: Denn nicht erst Ackroyd fiktionalisiert Wildes Biographie, auch dieser selbst hatte in seinem poetologischen Dialog "The Decay of Lying" die Kunst schon zur Realität erklärt und das Leben nur zu deren Spiegel und - schlimmer noch - hatte diese Umkehrung zu seinem Unglück sogar gelebt. Ackroyds "Tagebuch des Oscar Wilde" leistet Wildes ästhetizistischem Diktum folge; nur weil er Wilde neu erfindet, statt ihn einzig faktentreu und zum Denkmal erstarrt abzubilden, gelingt es Ackroyd, ihn auf den nicht einmal 290 Seiten seines Romans glanzvoll zu neuem Leben zu erwecken:
Jedes selbst ist imaginiert. Alle biographischen Selbst sind imaginiert. Mein Dickens ist ein imaginäres Wesen, mein Blake ist ein imaginäres Wesen. Ich habe sie imaginiert. In der gleichen Weise, wie ich einen Protagonisten in einem Roman imagniere. Ich sehe wirklich keinen Unterschied zwischen einem Protagonisten in einem Roman und dem einer Biographie. Sobald man einsieht, dass jedes Schreiben nur ein essayistischer Akt der Annäherung ist, fühlt man sich frei genug, Freude an ihm zu haben. Tatsächlich erfreue ich mich an dem Akt, und für den Leser wird es um so interessanter, je mehr er sich in diesen Akt einzufühlen vermag. Und jeder Weg, auf dem die Vergangenheit wiederbelebt werden kann, ist für mich bedeutsam und interessant."
Schreiben bedeute immer imaginäres Schreiben, sagt Peter Ackroyd: Egal, ob es sich um Romane oder Biographien handele. Entscheidend sei, die Vergangenheit schreibend neu zu beleben und sie als Teil der Gegenwart wahrzunehmen.
So sind für Ackroyd nicht allein die konventionellen Gattungsbezeichnungen hinfällig und sein Romanwerk und seine biographischen Studien lediglich Kehrseiten desselben literarischen Interesses, das er mit der Bemerkung «the biography can be made up but fiction has to be true» zudem gern ironisiert. Auch die Zeit - wie Ackroyd sie begreift - bewegt sich in seinen Büchern nicht mehr chronologisch zwischen den polaren Entitäten von gestern und morgen: und ähnlich wie er etwa in "Hawksmoor", seinem in Großbritannien populärsten Roman, Vergangenheit und Zukunft einander beeinflussen und durchdringen lässt, so ist auch Das Tagebuch des Oscar Wilde keine lineare Erzählung, sondern in Ackroyds Händen ein Zusammenfließen von Erinnerung und Gegenwart in Wildes Pariser Exil und die Bekräftigung einer die Jahrhunderte überdauernden, immerwährenden schöpferischen Phantasie. Indem Ackroyd sie heraufbeschwört, bewahrt er sie: Sein Oscar Wilde ist unser Zeitgenosse:
"Ich betrachte meine Erzählungen nicht als historische Romane. Es sind einfach Romane, die zufälligerweise in einer anderen Sprache und einem anderen Zeitalter spielen. Ich sehe keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich sehe sie nicht als unterschiedliche Wesenheiten oder Dinge."
In diesem Sinne will Peter Ackroyd auch "Das Tagebuch des Oscar Wilde" nicht als historischen Roman missverstanden wissen: und obwohl es zweifellos dennoch das historische Milieu der Londoner Salons des Fin de siècle sein wird, das den Leser bei der ersten Lektüre des Buches fesselt - die pointierte Schilderung von Wildes Kindheit in Irland, dem Studium in Dublin und Oxford, der Selbststilisierung zum Künstler, den großen Theatererfolgen und dem tragischen Sturz, den Demütigungen in den Gefängnissen von Pentonville und Reading, der Flucht nach Paris - so sind es schließlich weniger die ohnehin landläufig bekannten biographischen Details, die sich zu diesem überaus dichten Porträt des Schriftstellers Oscar Wilde zusammenfügen, als vielmehr Peter Ackroyds bemerkenswerte Fähigkeit, seinen Roman gänzlich in Wildes eigenem Stil, in dessen Diktion, dessen Rhythmus zu schreiben, aus der dieses Porträt seine eindringliche Wirkung überhaupt erst bezieht und die deshalb auch zur eigentlichen Attraktion des Buches wird. Die spitzzüngigen Sticheleien, der ätzende Spott, hochtrabend und eitel, immer geistreich und manchmal pompös: Peter Ackroyd schreibt Oscar Wilde:
"Das ist das Wichtgste von allem. Einerseits erlaubt es dem Leser, in die Vergangenheit zu treten. Es bietet eine Möglichkeit, den Leser in eine vergangene Kultur, ein vergangenes Bewusstsein zu führen. Aber andererseits bedeutet es nur, die Möglichkeiten des Gegenwartsenglisch auf eine andere Art zu nutzen und zu suggerieren, dass hinter der Sprache, die wir benutzen, eine andere Sprache steht, die durch unsere gesprochene und geschriebene noch hindurchschimmert.
Ebenso wie Ackroyd beispielsweise seinen Roman "Hawksmoor" in einem Englisch des frühen 18. Jahrhunderts erzählt oder in dem bislang leider noch nicht übersetzten "The House of Doctor Dee" das elisabethanische Englisch verwendet, nutzt er auch im "Tagebuch des Oscar Wilde" die historischen Ressourcen der eigenen, zeitgenössischen Sprache und demonstriert, wie hinter den scheinbar unüberwindbaren Grenzen unsereres profanen Daseins eine Vergangenheit noch existiert, mit der wir in einen lebendigen Dialog treten können. Wenigstens für die Dauer der Lektüre, wenigstens bei Peter Ackroyd:
«Es ist alles erfunden,» sagt also der eine zu Oscar Wilde.
«Es ist mein Leben.»
«Aber Sie haben ganz offenkundig die Tatsachen so verdreht, wie es Ihnen gerade in den Kram paßt. [...] Beispielsweise hier: "Ich war eitel, und die Welt bewunderte meine Eitelkeit." Nein, Oscar, niemand bewunderte Ihre Eitelkeit. Das müßten Sie inzwischen eigentlich wissen.»
«Machen Sie sich nicht lächerlich [...]. Sie führen sich auf wie ein Zeitungsrezensent.»
«Und Sie haben Ihre Zeilen bei anderen Schriftstellern gestohlen. Hören Sie nur -»
«Ich habe sie nicht gestohlen,» sagt jedoch Wilde, «ich habe sie gerettet.»
Und ebenso ist auch Peter Ackroyds Roman weder Plagiat, noch Pastiche oder Imitation, hat von Wilde seinerseits nichts «gestohlen», sondern «gerettet»: Ackroyds stilistische Virtuosität zeugt von einer «kreativen Entdeckung der Geschichte der Sprache» und von der Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition seines Heimatlandes, die er in seinen Romanen und Biographien bewahrt und fortführt - der Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition seiner Heimatstadt London, welche der provokante Dandy Oscar Wilde Mitte der neunziger Jahre zu dem erst glänzenden, dann tragischen Höhepunkt führte, von dem Peter Ackroyds Roman Das Tagebuch des Oscar Wilde jetzt noch einmal erzählt.