"Die großen Fragen", von denen Rosenberg spricht, wurden von dem Augenblick an akut, als die Mauern der Judenghettos in Europa fielen. Die Aufklärung mit ihren Vorstellungen von Toleranz, Menschenwürde und Religionsfreiheit beendete die jahrhundertelange Isolierung der Juden. Aber dadurch lösten sich auch die durch äußeren Druck erzwungenen einheitlichen Lebensbedingungen auf. Und das religiöse Selbstverständnis "zwischen Verheißung und Leiden" - wie Rosenberg formuliert -, die gemeinschaftsstiftende Fähigkeit, äußeres Leiden in ein "Gewebe aus Ziel und Sinn" einzufügen begannen zu bröckeln. Die Aufklärung versprach Universalität und Befreiung des Individuums aus überkommenden Traditionen, und Juden waren ihre eifrigsten Verfechter. Aber es dauerte nicht lange, da wurde dem individuellen und gesellschaftlichen Entfaltungsdrang der Juden erneut Grenzen gesetzt. Ein idealer Nährboden für den politischen Zionismus, der aus Rosenbergs Sicht aus der "enttäuschten Sehnsucht" der Juden "nach Normalität" entstand. Je stärker sich der moderne Antisemitismus entfaltete, desto verbissener feilte der politische Zionismus an der Utopie vom eigenen Judenstaat. Rosenberg geht soweit, von einer "Symbiose" zu sprechen, einer Symbiose von Zionismus und Antisemitismus, in dem Sinne, daß der moderne Antisemitismus den Juden ein kollektives Schicksal zudachte, das der Zionismus gewissermaßen akzeptierte, ja, auf seine Weise sogar noch messianisch überhöhte. Der Traum von der eigenen Nation war demnach bei nicht wenigen Zionisten ein Ergebnis der Einsicht, daß das zerstreute jüdische Volk in Europa doch immer nur Unruhe hervorrufe und die 'Rückkehr nach Jerusalem' das "jüdische Problem" nach fast 2000 Jahren lösen werde.
Bekanntlich hatten dann im 20. Jahrhundert die Nationalsozialisten Deutschlands eine ganz andere sogannten "Lösung des jüdischen Problems" verwirklicht. Und für Rosenberg ist es geradezu eine aberwitzige Ironie der Geschichte, daß Zionisten in Palästina noch zu einer Zeit vom "neuen jüdischen Menschen" träumten, einem Menschen, der übrigens dem faschistischen, aber auch sozialistischen Arbeiter- und Bauernideal sehr ähnlich sah, als in Europa bereits die Deportationszüge rollten. Göran Rosenberg, der während des Gesprächs mal in deutscher und mal in englischer Sprache antwortete, erklärt das so: "Diese Menschen in Palästina konnten wie viele andere Menschen auch sich einfach nicht das Ausmaß dessen, was den Juden geschah, vorstellen. Sie waren bedacht darauf, die kräftigsten, besten, jüngsten und gesündesten zum Aufbau der jüdischen Heimstatt ins Land zu holen. Während man in Deutschland erkannte, daß die Alten und Kranken der Übersiedlung bedurften, die Leute also, die die Härten des Naziregimes während der 30er Jahre nicht durchstehen konnten. Und das vielleicht macht den Unterschied deutlich zwischen dem Israel, das nach dem Holocaust entstand und dem Israel, das vor dem Holocaust geplant war. Es war sogar so, daß Ben Gurion 1942, als er zum ersten Mal vom Holo caust hörte, ausrief: ‘Und wie sollen wir nun einen Staat aufbauen?’ Er sah den Holocaust vornehmlich als Desaster für die geplante Staatsbildung an."
Aber dennoch: Die Kunde vom Holocaust verstärkte verständlicherweise die nationalistischen Bestrebungen in Palästina, den Wunsch nach einem eigenen Staat. Das Problem ist nur, sagt Göran Rosenberg, daß die Gründung des Staates Israel, worauf mit soviel Pathos und ideologischem Eifer hingearbeitet wurde, dann schließlich doch nicht die seit der Aufklärung offene Wunde heilte: Die Frage nach der jüdischen Identität. Was es heißt, Jude zu sein, in einem jüdischen Staat zu leben. Denn - was ist ein jüdischer Staat? Ist das Bindeglied die Religion, die Nation, die Tradition?
Göran Rosenberg versteht es vorzüglich, diese existenziellen Probleme scharf herauszuarbeiten, indem er z.B. immer wieder die großen geschichtlichen, religiösen, ideologischen Fragen mit dem eigenen individuellen Schicksal und dem seiner Weggefährten verknüpft. Er beschreibt, wie er nach einigen Jahrzehnten - er hat längst Israel wieder verlassen und ist nach Schweden zurückgekehrt - einstige Klassenkameraden besucht. Ihren Lebensweg verdichtet er zu Miniaturportraits, die zeigen, wie tief die israelische Gesellschaft in den Fragen nach der jüdischen Identität gespalten ist. Für die einen sollte Israel ein ganz normaler Staat werden und sie sind heute tief frustriert über den aggressiven, kriegerischen Kurs Israels. Für die anderen hat Israel im religiösen Sinne eine Mission zu erfüllen, und für diese heilige Sache ist jedes Mittel recht. Wie stark dieses militante, national-messianische Denken nach wie vor wirke, so Rosenberg, sehe man ja an der Ermordung Itzak Rabins und der Wahl Benjamin Netanjahus zum Ministerpräsidenten.
Die interessanteste und sicherlich streitbarste These des Buches ist jedoch die, daß der Messianismus nicht nur in Israel prägend gewirkt habe, sondern daß diese Verschmelzung von Heilsentwürfen und aggressiver politischer Energie durchaus typisch sei für das gesamte 20. Jahrhundert. "Die Verbindung zwischen Christentum und Judentum ist offensichtlich", so Rosenberg. "Es ist eine bedeutende Verbin dung. Und diese jüdisch-christliche Zivilsation hat die westlichen Gesellschaften geprägt. Sie ist ihre Grundlage. Und die messianische Idee, die beiden, dem Judentum und dem Christentum innewohnt, wurde in den modernen Gesellschaften pervertiert: im Sozialismus, im Faschismus, in allen säkularen Bewegungen. Sie haben diesselbe Idee, daß nämlich am Ende der Straße, am Ende der menschlichen Reise auf uns die perfekte Gesellschaft wartet. Sie nennen es ‘Das gelobte Land’ oder ‘Die klassen lose Gesellschaft’, ‘Das tausendjährige Reich’ - das ist alles dasselbe."
Trotz der Gemeinsamkeiten von Judentum und Christentum - die Feindschaft wurde für diese beiden Religionen schließlich bestimmend, nicht die Übereinstimmungen. Und Rosenberg führt letztendlich die ideologischen Erschütterungen im Europa des 20. Jahrhunderts - wie eben auch die Probleme Israels - auf diesen uralten, aber verhängnisvollen Dissens zurück, den zwischen Judentum und Christentum. Sein Plädoyer: Das Judentum müßte seine Selbstdefinition vom "auserwählten Volk" überdenken, das Christentum seine jüdischen Wurzeln akzeptieren. Ein Ratschlag, der weit über die Tagespolitik hinausweist - aber wohl gerade deshalb das Buch so lesenswert macht und es aus der Fülle der Israel-Bücher zum 50. Geburtstag des Staates Israel heraushebt.