Mittwoch, 08. Mai 2024

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Das verschollene Bild

Wen ergreift es nicht, dieses besänftigende Gefühl: wenn man zum Wochenende endlich die Stadt verlässt und auf dem Land plötzlich alles wieder so überraschend authentisch wirkt. Holprigc Wege und Holundcrbüsche, Viehzeug auf Wiesen und Weiden und Menschen, denen nicht mehr der Dunst der großen weiten Warenwelt anhängt, sondern der beruhigende Duft von Erde und Mist oder von angefaulten Rüben. Hunde kommen ums Haus gestürmt, und eine zur Begrüßung ausgcstreckte Hand hat den Griff, als sei sic es gewohnt, «angeschossenen Vögeln den Hals umzudrehen». Martin Clay ist ein Intellektueller aus London, der Authentizität wegen besitzen er und seine Frau Kate ein kleines Cottage auf dem Lind: Als sie einmal im Frühling gleich bei ihrer Ankunft den in der Nachbarschaft lebenden Grundbesitzer Tony Churt kennen lernen, passt auch dieser bestens ins Bild; auch Churt ist authentisch. Er trägt Cordhose und abgewetzten Twecd, und wie es sich für die niederen Stände des englischen Landadels heute gehört, ist auch Churt längst verarmt - doch mit Stil. Für den Bau einer Motocrossanlage will er ein paar alte Gcmälde aus dem Familienbesitz zu Geld machen, und als er Martin und Kate um ihren fachmännischen Rat bittet, setzen die stürmischen Turbulenzcn ein, die der britische Autor Michael Frayn dann bis zum Ende seines wunderbaren Romans immer noch weiter antreibt:

Thomas David | 17.02.2000
    Im Kunsthistorischen Museum in Wien, berichtet Frayn, habe er sich die Gemälde von Bruegel angesehen. Die Rede ist von Pieter Bruegel dem Älteren - etwa 1525 oder 30 bis 1569 -, dem sogenannten «Bauernbrucgcl», der mit seinen naturgenauen, allegorischen Landschaftsbildern auf die flämische und holländische Malerei des 17. Jahrhunderts grundlegenden Einfluss nahm und daher zu den großen Namen der Kunstgeschichte zählt. Zusammen mit einem Bild in Prag und einem in New York gelten die Wiener Gemälde «Jäger im Schnee», «Heimkehr der Herde» und «Der düstere Tag» als fünf Bilder eines Jahreszcitcn-Zyklus, dessen sechstes Bild fehlt.

    Noch während er vor den Bildern stand, so Frayn weiter, habe er sich gefragt, was er wohl tun werde, wenn er dieses eine, «das verschollene Bild», zufällig entdeckte. Und als Martin Clay im Roman dann zum erstenmal einen Blick darauf wirft, erkennt er es deshalb natürlich sofort, sein Schicksal. Seinen Triumph, seine Ungcwisshcit, seine Niederlage: seinen Bruegel. Im Frühstückszimmer der Churts klemmt das Bild unerkannt im Kamin und verhindert, dass Ruß aus dem Schornstein hereinweht. Es ist von einer Schicht aus Schmutz und Firnis überzogen, doch darunter windct sich ein Fluss durchs Tal, «vorbei an einem Dorf, an einem Schloss, das auf einem Felsen thront, bis zu einer fernen Stadt am Meer, dicht an einem hohen Horizont». Woher Martin weiß, was er da vor sich hat? Die Antwort ist leicht, «es ist wie mit der Farbe von Orangen»; man weiß es einfach: Frayns Roman handelt von Kunst und Kennerschaft.

    Die Entdeckung eines verschollenen Bruegels sei Martins große Chance, sagt Michael Frayn. Martin strebt nämlich nach Reichtum und höherem Ruhm, und obwohl er eigentlich gar kein Kunsthistoriker ist, sondern ein träumender Philosoph, dem alles Recht ist, was ihn von seiner Schreibtischarbeit an einer wissenschaftlichen Studie übcr den «Einfluss des Nominalismus auf die niederländische Malerei des 15. Jahrhunderts» befreit, wäre ihm dennoch eine Ehrensalbung durch die Kunstgeschichte so lieb und teuer wie jeder andere akademische Lorbeer vermutlich auch. Martin will Churt um den Bruegel bringen und hält die Entdeckung daher vor ihm geheim. Vielleicht sei es besser, sinniert er, «als Dummkopf oder als Gauner dazustehen, als überhaupt nicht bekannt zu sein».

    Die Herausforderung, sich Tony Churts kulturelle Unbedarftheit zu Nutze zu machen und sich das Gemälde zu erschleichen, spreche sowohl Martins Stärken als auch seine Schwächen an, so Michael Frayn. Das gleiche gilt auch für diesen Autor selbst, dessen Schwäche das maßlos Komische ist und dessen Stärke die zurückhaltende Zügelung im letzten Moment vor dem Absturz in den Klamauk. Je länger Martin über seiner Entdeckung breitet, die Authentizität des Bildes gegen die Zweifel seiner Frau verteidigt und je hoffnungsloser er sich in den Recherchen verfährt, desto schneller wird das Tempo des Romans, und die zahlreichen, mit großer Sorgfalt passierten kunsthistorischen Erörterungen aus der teils weitschweifigen oder haarspalterischen, jedenfalls immer sehr komplexen Bruegel-Literatur, die den Roman streckenweise in einen kleineren Gang zwingen, macht Michacl Frayn in der jeweils nächsten Kurve durch einen bcschleunigenden Tritt aufs Gaspedal mühelos wieder wett. «Das verschollene Bild» ist im Präsens erzählt, der Roman hat die Dynamik von Frayns großem Bühnenerfolg «Der nackte Wahnsinn» und der nicht minder hektischen, weil ebenfalls von ihm geschriebenen Filmkomödie «Clockwise», in der John Cleese auf dem Weg zu einer Rektorenkenferenz den im Alltag ruhenden Irrwitz neu entfacht. Und auch für Martin Clay beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der bauernschlaue Tony Churt schöpft trotz Martins heruntergespieltem Interesse an seinen Bildern bald Verdacht und ist drauf und dran, einen weiteren Kunstsachverständigen heranzuziehen. Martin erfindet einen geheimnisvollen Käufer: Sein Plan ist es, den Bruegel - seinen Bruegel - zusammen mit einigen von Churts anderen, vermeintlich prominenteren und wertvolleren Gemälden unauffällig aus dem Haus zu schleusen. Churts bildschöne Frau Laura ist keineswegs abgeneigt, ihm dabei zu helfen.

    Es sei schwierig gewesen, die erfundenen Elemente mit den historischen und kunsthistorischcn zusammen zu bringen, erzählt Michael Frayn; dennoch ist ihm gerade dies sehr überzeugend gelungen. Sein Roman ist eine Ich-Erzählung, und es ist gewissermaßen Martin Clays eigene Darstellung, die zum Vergnügen des Leserssers daherkommt, und der man andererseits rückhaltlos ausgeliefert ist. Denn hat Martin tatsächlich einen verschollenen Bruegel entdeckt oder handelt es sich nur um eine fixe Idee? Während seiner Recherchen im Untergrund der Londoner Bibliotheken ändert das Bild mit jeder neu aufgeblätterten Theorie seine Gestalt, löst sich ins Nichts auf, bis Martin dann noch eine weitere Spur entdeckt, die an der Echtheit des Gemäldes wieder keine Zweifel lässt. In seinen Augen.

    Martins Besessenheit malt den ganzen Roman in Bruegels Farben, und es ist mit Bewunderung anzusehen, wie es Michael Frayn gelingt, die Kunst ins Leben zu tragen, den Blick zu schärfen, einer an sich schlichten Geschichte den Glanz alter Meister zu geben und die Antwort auf die entscheidende Fmge dennoch bis zum Ende im Unklaren zu belassen.

    "Ob ich glaube, ob Martin Clay einen echten Bruegel entdeckt hat? Merkwürdigerweise hat mich das niemals zuvor jemand gefragt. Und ich bin nicht sicher, ob ich mich das überhaupt jemals gefragt habe. Ich glaube, im Hinblick auf diese Frage bin ich ein Agnostiker. Eine wirklich feige Antwort."