Die Demokratie ist eine schwache Herrschaftsform. Sie stellt sich dauernd infrage und lädt ihre Gegner zur Kritik ein. Sie sei, sagte Winston Churchill einmal, die schlechteste Staatsform, ausgenommen alle anderen. Den Deutschen hat die Demokratie nach 1945 alles gebracht, was sie haben: Frieden, Freiheit und Wohlstand. Doch das alltägliche Glück darüber hält sich in Grenzen. Mit Bundespräsident Joachim Gauck ist gestern ein Mann zum Präsidenten gewählt worden, der sich selbst als "Demokratielehrer" bezeichnet. Das wir "Belehrung" nötig hätten, bezweifelt der Berliner Geschichtsprofessor Paul Nolte.
"Im Prinzip sollten wir uns über die Demokratie nicht belehren lassen müssen, aber angesichts von vielen Stimmungen, die an der Demokratie in letzter Zeit zweifel, ist es ganz nützlich, wenn jemand wie Joachim Gauck uns wieder mit unbefangener Klarheit auch die Demokratie erklärt, vielleicht auch mehr vorlebt als erklärt. Er soll das ja nicht mit erhobenem Zeigefinger tun und wird das ja auch gewiss nicht."
Nolte selbst haben die Zweifler bewogen, ein Buch zu schreiben, das den Titel trägt: "Was ist Demokratie?" Er erzählt darin auf rund 500 Seiten eine Geschichte von frühen Erfolgen und häufigem Wandel einer Staatsform, die vom klassischen Griechenland über die Aufklärung, die Revolutionen des 18. Jahrhunderts, den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart reicht. Der Blick in die turbulente Krisengeschichte der Demokratie lohnt sich, glaubt Nolte.
"Der Gewinn ist, glaube ich, auch etwas mehr Gelassenheit. Wir tun häufig so, als würde es mit der Demokratie Spitz auf Knopf stehen, und da hilft dann ein Blick in die Geschichte, um zu sehen, da ist schon länger darüber gestritten worden, und wir stehen in einem kontinuierlichen Prozess des Weiterverhandelns von Demokratie. Wir sehen aber auch, dass Demokratie etwas sehr Neues ist. Wir sind nicht am Ende einer langen Lebenskurve, sondern ich versuche gerade herauszuarbeiten, dass Demokratie im Wesentlichen erst ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist."
Das Werden, Vergehen und Wiederkehren von Demokratie beschreibt Nolte, der aus der Schule des Bielefelder Historikers Ulrich Wehler kommt, in neun Kapiteln seines Buches. Er spaziert dabei chronologisch durch die Jahrhunderte, macht beim Gang durch die Geschichte seine Leser aber auch vertraut mit den philosophischen Grundlagen und Vorstellungen von Rechten, Machtaufteilung und Machtbeteiligung, die sich im Laufe der Zeit allmählich etabliert haben. Zum "Wahlvolk" beispielsweise gehörten im klassischen Athen nur die Vollbürger, eine winzige Minderheit. Arme, Sklaven oder gar Frauen waren ausgeschlossen. Von 200.000 Athenern hatten nur 30.000 das Wahlrecht. 2400 Jahre später durften im England des 18. Jahrhunderts bloß knapp ein Drittel der erwachsenen Männer wählen. Frauen erhielten das Wahlrecht dort erst nach dem Ersten Weltkrieg. Noch später war die Schweiz dran, wo das Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt wurde. Nolte zeigt an solchen Querschnitten, wie schwer erkämpft und wie stark wandelbar die Demokratie war - und bleibt. Denn auch die deutsche Nachkriegsrepublik ist steter Veränderung unterworfen. Nolte meint:
"Da hat es einen ganz tiefen generationellen Wandel gegeben, den wir noch nicht ganz begriffen haben, deshalb gibt es auch ein Unverständnis zwischen den Generationen heute. Häufig lebt die ältere und mittlere Generation noch im Nachkriegsbewusstsein einer Schenkung der Demokratie durch die Amerikaner und durch die anderen westlichen Mächte. Das reicht den Jüngeren nicht mehr. Die stellen diese Fragen noch mal ganz neu und sagen dann: hier, was ist mit der Macht der Finanzmärkte und was passiert eigentlich in den Parlamenten, haben wir Zugang dazu. Auf diese Weise müssen wir lernen, Demokratie neu zu denken, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, weil wir auf die alte Demokratie nach meiner Überzeugung auch nicht verzichten können."
Die gewohnten Demokratiemuster funktionieren weiterhin. Aber sie fransen aus. Neue Akteure treten hinzu: die Europäischen Gremien, Parteien wie die "Piraten", aber auch "Wutbüger" und digitale Schwärme. Nachdem in den 60er-Jahren der damalige Bundeskanzler Willy Brandt sagte, nun wolle man "mehr Demokratie wagen", ist nunmehr von der Notwendigkeit einer "Demokratisierung der Demokratie" die Rede. Davon will der eher konservativ gestimmte Nolte nicht sprechen.
"Demokratisierung der Demokratie, das hört sich gerade in Deutschland manchmal so an, als sei die bisherige Demokratie noch keine richtige gewesen. Das ist aber eine fundamental unhistorische Sichtweise. Wir gehen auf andere Zeiten der Demokratie zu, wir müssen andere Formen der Demokratie wagen, so wäre das heute umzuformulieren. Den Traum von der perfekten Demokratie, den haben wir uns abgeschminkt."
Dass die Demokratie eine Zukunft habe, daran zweifelt Nolte nicht. Sein Buch kann das gut begründen, lässt dem Leser aber auch genug Raum für eigenes Denken. Nolte beschreibt mit großem Überblick die Geschichte ihres Werdens und versucht außerdem, seinen Lesern die Werte und Instrumente dieser einzigartig erfolgreichen Staatsform zu erklären. Dass die Demokratie an ihre Grenzen gekommen sei, das muss man nicht mehr befürchten, wenn man ihm folgt.
"Das Zeitalter der Demokratie geht nicht zu Ende, es beginnt in mancher Hinsicht, für viele Menschen jedenfalls erst, und wenn wir hier in Deutschland, in Europa etwas vorschnell von einer 'Postdemokratie' sprechen, dann vergessen wir doch allzu leicht, dass an vielen anderen Stellen der Welt die Menschen für das eintreten, was für uns selbstverständlich ist, freie Wahlen, Pressefreiheit, ein frei zusammengetretenes Parlament. Also da fängt für viele Menschen erst die Demokratie an, die wir schon haben. Und wir bauen sie weiter. Ich glaube, dass das 21. Jahrhundert insofern ein großes Zeitalter der Demokratie werden wird."
Bundespräsident der Deutschen ist nun ein ehemaliger Pastor und ein "Demokratielehrer". Nolte hat dazu eine Art "Katechismus der Demokratie" geschrieben, auch wenn er diesen Begriff so nicht verwenden würde:
"Ach, ich weiß nicht, ich will nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommen und Leute unterrichten, sondern mehr zum Nachdenken bewegen. Ich habe die Hoffnung, ein nachdenkliches Buch geschrieben zu haben, das auch häufig gar nicht sagen will, wo es lang geht, sondern voll ist von Einerseits-Andererseits-Überlegungen. Ich glaub, da muss jeder am Ende seine eigene Meinung zu finden, seinen eigenen Katechismus des praktischen Lebens in der Demokratie."
Wer seine eigene Haltung zur Demokratie vielleicht neu finden will oder sich für künftige Diskussionen um die Stärken der schwachen Staatsform rüsten möchte, der wird Paul Noltes souveränes Lehrstück mit Gewinn lesen.
Paul Nolte: "Was ist Demokratie. Geschichte und Gegenwart" Verlag C. H. Beck, 511 Seiten, 17,95 Euro, ISBN: 978-3-406-63028-6
"Im Prinzip sollten wir uns über die Demokratie nicht belehren lassen müssen, aber angesichts von vielen Stimmungen, die an der Demokratie in letzter Zeit zweifel, ist es ganz nützlich, wenn jemand wie Joachim Gauck uns wieder mit unbefangener Klarheit auch die Demokratie erklärt, vielleicht auch mehr vorlebt als erklärt. Er soll das ja nicht mit erhobenem Zeigefinger tun und wird das ja auch gewiss nicht."
Nolte selbst haben die Zweifler bewogen, ein Buch zu schreiben, das den Titel trägt: "Was ist Demokratie?" Er erzählt darin auf rund 500 Seiten eine Geschichte von frühen Erfolgen und häufigem Wandel einer Staatsform, die vom klassischen Griechenland über die Aufklärung, die Revolutionen des 18. Jahrhunderts, den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart reicht. Der Blick in die turbulente Krisengeschichte der Demokratie lohnt sich, glaubt Nolte.
"Der Gewinn ist, glaube ich, auch etwas mehr Gelassenheit. Wir tun häufig so, als würde es mit der Demokratie Spitz auf Knopf stehen, und da hilft dann ein Blick in die Geschichte, um zu sehen, da ist schon länger darüber gestritten worden, und wir stehen in einem kontinuierlichen Prozess des Weiterverhandelns von Demokratie. Wir sehen aber auch, dass Demokratie etwas sehr Neues ist. Wir sind nicht am Ende einer langen Lebenskurve, sondern ich versuche gerade herauszuarbeiten, dass Demokratie im Wesentlichen erst ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist."
Das Werden, Vergehen und Wiederkehren von Demokratie beschreibt Nolte, der aus der Schule des Bielefelder Historikers Ulrich Wehler kommt, in neun Kapiteln seines Buches. Er spaziert dabei chronologisch durch die Jahrhunderte, macht beim Gang durch die Geschichte seine Leser aber auch vertraut mit den philosophischen Grundlagen und Vorstellungen von Rechten, Machtaufteilung und Machtbeteiligung, die sich im Laufe der Zeit allmählich etabliert haben. Zum "Wahlvolk" beispielsweise gehörten im klassischen Athen nur die Vollbürger, eine winzige Minderheit. Arme, Sklaven oder gar Frauen waren ausgeschlossen. Von 200.000 Athenern hatten nur 30.000 das Wahlrecht. 2400 Jahre später durften im England des 18. Jahrhunderts bloß knapp ein Drittel der erwachsenen Männer wählen. Frauen erhielten das Wahlrecht dort erst nach dem Ersten Weltkrieg. Noch später war die Schweiz dran, wo das Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt wurde. Nolte zeigt an solchen Querschnitten, wie schwer erkämpft und wie stark wandelbar die Demokratie war - und bleibt. Denn auch die deutsche Nachkriegsrepublik ist steter Veränderung unterworfen. Nolte meint:
"Da hat es einen ganz tiefen generationellen Wandel gegeben, den wir noch nicht ganz begriffen haben, deshalb gibt es auch ein Unverständnis zwischen den Generationen heute. Häufig lebt die ältere und mittlere Generation noch im Nachkriegsbewusstsein einer Schenkung der Demokratie durch die Amerikaner und durch die anderen westlichen Mächte. Das reicht den Jüngeren nicht mehr. Die stellen diese Fragen noch mal ganz neu und sagen dann: hier, was ist mit der Macht der Finanzmärkte und was passiert eigentlich in den Parlamenten, haben wir Zugang dazu. Auf diese Weise müssen wir lernen, Demokratie neu zu denken, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, weil wir auf die alte Demokratie nach meiner Überzeugung auch nicht verzichten können."
Die gewohnten Demokratiemuster funktionieren weiterhin. Aber sie fransen aus. Neue Akteure treten hinzu: die Europäischen Gremien, Parteien wie die "Piraten", aber auch "Wutbüger" und digitale Schwärme. Nachdem in den 60er-Jahren der damalige Bundeskanzler Willy Brandt sagte, nun wolle man "mehr Demokratie wagen", ist nunmehr von der Notwendigkeit einer "Demokratisierung der Demokratie" die Rede. Davon will der eher konservativ gestimmte Nolte nicht sprechen.
"Demokratisierung der Demokratie, das hört sich gerade in Deutschland manchmal so an, als sei die bisherige Demokratie noch keine richtige gewesen. Das ist aber eine fundamental unhistorische Sichtweise. Wir gehen auf andere Zeiten der Demokratie zu, wir müssen andere Formen der Demokratie wagen, so wäre das heute umzuformulieren. Den Traum von der perfekten Demokratie, den haben wir uns abgeschminkt."
Dass die Demokratie eine Zukunft habe, daran zweifelt Nolte nicht. Sein Buch kann das gut begründen, lässt dem Leser aber auch genug Raum für eigenes Denken. Nolte beschreibt mit großem Überblick die Geschichte ihres Werdens und versucht außerdem, seinen Lesern die Werte und Instrumente dieser einzigartig erfolgreichen Staatsform zu erklären. Dass die Demokratie an ihre Grenzen gekommen sei, das muss man nicht mehr befürchten, wenn man ihm folgt.
"Das Zeitalter der Demokratie geht nicht zu Ende, es beginnt in mancher Hinsicht, für viele Menschen jedenfalls erst, und wenn wir hier in Deutschland, in Europa etwas vorschnell von einer 'Postdemokratie' sprechen, dann vergessen wir doch allzu leicht, dass an vielen anderen Stellen der Welt die Menschen für das eintreten, was für uns selbstverständlich ist, freie Wahlen, Pressefreiheit, ein frei zusammengetretenes Parlament. Also da fängt für viele Menschen erst die Demokratie an, die wir schon haben. Und wir bauen sie weiter. Ich glaube, dass das 21. Jahrhundert insofern ein großes Zeitalter der Demokratie werden wird."
Bundespräsident der Deutschen ist nun ein ehemaliger Pastor und ein "Demokratielehrer". Nolte hat dazu eine Art "Katechismus der Demokratie" geschrieben, auch wenn er diesen Begriff so nicht verwenden würde:
"Ach, ich weiß nicht, ich will nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommen und Leute unterrichten, sondern mehr zum Nachdenken bewegen. Ich habe die Hoffnung, ein nachdenkliches Buch geschrieben zu haben, das auch häufig gar nicht sagen will, wo es lang geht, sondern voll ist von Einerseits-Andererseits-Überlegungen. Ich glaub, da muss jeder am Ende seine eigene Meinung zu finden, seinen eigenen Katechismus des praktischen Lebens in der Demokratie."
Wer seine eigene Haltung zur Demokratie vielleicht neu finden will oder sich für künftige Diskussionen um die Stärken der schwachen Staatsform rüsten möchte, der wird Paul Noltes souveränes Lehrstück mit Gewinn lesen.
Paul Nolte: "Was ist Demokratie. Geschichte und Gegenwart" Verlag C. H. Beck, 511 Seiten, 17,95 Euro, ISBN: 978-3-406-63028-6