Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

DDR 1963-1965
Atmosphäre zwischen Aufbruch und Resignation

Spricht man mit DDR-Bürgern, die zwischen 1963 und 1965 als Jugendliche gelebt haben, so erinnern sich viele an eine Aufbruchsstimmung. Besonders im kulturellen und wirtschaftlichen Bereich, der 1965 abrupt abgewürgt wurde. Mit seinem Buch "1965 - Der kurze Sommer der DDR" zeichnet der Theaterwissenschaftler Gunnar Decker nun ein facettenreiches Bild jener Jahre.

Von Marcus Heumann | 20.07.2015
    Ein Foto des früherenDDR/SED-Chefs Erich Honecker neben einem Gemälde von dessen Vorgänger Walter Ulbricht
    1965 war ein entscheidendes Wendejahr der DDR, das auch die Ablöse Ulbrichts einleitete. (dpa/picture alliance/Waltraud Grubitzsch)
    Ost-Berlin, Mai 1964: Im Jugendklub des Kulturhauses Treptow spielt eine junge Amateur-Band namens "Die Sputniks" Twist und Beat für die Jugendfreunde der FDJ. Was noch kurz zuvor als westlich-dekadent gegolten hätte, war nun plötzlich möglich - dank des neuen Jugendkommuniques der SED, das im Herbst 1963 die DDR-Teenager zu den "Hausherren von morgen" erklärt und konstatiert hatte:
    "Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll."
    Zwei Jahre nach dem Mauerbau stieß ausgerechnet der als Altstalinist geltende erste Mann im SED-Staat, Walter Ulbricht, eine Reihe von Reformen an, die - wären sie denn zu Ende geführt worden - tatsächlich Bewegung in das verkrustete System gebracht hätten, meint Gunnar Decker, Autor des Buches "1965 - Der kurze Sommer der DDR":
    "Also er stellt sich nach dem 6. Parteitag 1963 hin und sagt: Wir brauchen ein Primat der Ökonomie über die Politik. Also Freiheit für die Wirtschaft, Freiheit auch für eine bestimmte Art von Marktwirtschaft. Er will im Grunde auch die Funktionärskaste entmachten, er will eigentlich Spezialisten, Fachleute auf den entscheidenden Posten in der Wirtschaft und Verwaltung. Ulbricht traut sich diese Reform eigentlich nur durch Rückendeckung aus Moskau von Chruschtschow. Chruschtschow wird Ende 1964 gestürzt, 1965 etabliert sich Breschnew, und Breschnews Mann in Ost-Berlin ist eben Honecker."
    Brisantes Theater und tragische Einzelschicksale
    Was im Dezember 1965 dramatische Folgen zeitigen wird. Zunächst aber wirkt die vom 6. Parteitag ausgehende Reformstimmung in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein, besonders in den kulturellen: In mehreren Lyrik-Anthologien erscheinen Texte Wolf Biermanns, das staatliche Label Amiga veröffentlicht Beatles-Platten, Dramatiker wie Heiner Müller und Peter Hacks schreiben brisante Theaterstücke, in denen Arbeiter und Parteifunktionäre keine stereotypen realsozialistischen Helden mehr sind . Aber auch die zwei Jahre vor dem Plenum waren in der DDR nicht etwa ein vorgezogener Prager Frühling.
    Decker verdeutlicht das anhand von Einzelschicksalen, Robert Havemann und Stephan Hermlin sind nur zwei Beispiele. Ersterer hatte als Professor an der Humboldt-Universität in seinen Vorlesungen eine "Dialektik ohne Dogma" gefordert und wurde dafür prompt zwangsemeritiert und aus der Partei geworfen. Der Schriftsteller Hermlin wiederum hatte als Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege an der Akademie der Künste einen Lyrikabend mit Texten junger Autoren wie Volker Braun und Wolf Biermann organisiert, der ihm den Vorwurf einbrachte, "parteifeindliche Ideen in die literarische Debatte" eingeschmuggelt zu haben.
    All dies zeigt: Zwischen 1963 und 1965 ringen hinter den Partei-Kulissen Reformer und Betonköpfe um den künftigen Kurs - bis letztere auf dem 11.Plenum triumphieren. Ursprünglich allein zu Wirtschaftsfragen geplant, erlebt die Tagung ein makabres Vorspiel, als am 3. Dezember der Chef der Staatlichen Plankomission Erich Apel, ein Reformer und erklärter Feind Breschnews, mit tödlichen Schussverletzungen in seinem Büro aufgefunden wird - nur Stunden vor der Unterzeichnung eines Wirtschaftsabkommens mit der UdSSR , das die DDR massiv übervorteilt. Ob Apel sich selbst richtete oder von fremder Hand erschossen wurde, ist bis heute ungeklärt.
    Betonköpfe setzen sich über Reformer durch
    Am Vorabend der Tagung dann offenbart sich den ZK-Mitgliedern, was hier eigentlich gespielt werden soll: Sie bekommen eine dicke Lesemappe mit Texten von Wolf Biermann, Stefan Heym und anderen aufmüpfigen Schriftstellern und Künstlern in die Hand gedrückt, die auch Berichte über eine angebliche ideologische Aufweichung der Jugend enthält. Außerdem wird den Genossen der kritische DEFA-Film "Das Kaninchen bin ich" gezeigt. Derart präpariert, vernehmen Sie am nächsten Tag das Referat Erich Honeckers, zu dieser Zeit im Politbüro zuständig für Sicherheitsfragen.
    Erich Honecker:
    "Einige Philosophen des Widerspruchs behaupten, sie hätten die Fähigkeit für sich allein gepachtet, Konflikte aufzuspüren und diese zu verallgemeinern. Sie tun fast so, als könnten die Menschen durch die Popularisierung von Schwierigkeiten satt werden."
    Honecker, politisches Ziehkind Walter Ulbrichts, tritt auf dem Plenum als Chefinquisitor auf. In Tateinheit mit seiner eben zur Volksbildungsministerin avancierten Frau Margot und mithilfe seiner Günstlinge Kurt Hager und Günter Mittag wird er das 11. Plenum als eine obskure Generalprobe für den sechs Jahre später realisierten Sturz Ulbrichts nutzen. Da ein Angriff auf dessen Wirtschaftsreformen noch zu riskant erscheint, verlegt sich Honecker auf die Kulturpolitik. Er geißelt nicht nur die DEFA, sondern fällt auch über die Werke von Heiner Müller und Stephan Heym her. Ganz besonders aber nimmt der ehemalige FDJ-Chef die Jugendpolitik ins Visier - inklusive der Beatmusik.
    Erich Honecker:
    "Dabei wurde übersehen, dass der Gegner diese Art Musik ausnutzt, um durch die Übersteigerung der Beat-Rhythmen Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen. Der schädliche Einfluss solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen wurde grob unterschätzt."
    Gunnar Decker:
    "Das widerspricht Honeckers FDJ-Ideologie, die die Jugend und die FDJ als Kampfreserve der SED auffasst. Das ist alles etwas, das Honecker auf ganz entschiedene Weise zuwiderläuft."
    Mit seinem Referat liefert Honecker den Auftakt für jenen Kultur-Exorzismus, der den weiteren Verlauf des 11. Plenums bestimmen wird. Horst Sindermann, 1. Sekretär der Bezirksleitung Halle:
    "Könnte ein Volk den Absturz vertragen von Goethes 'Edel sei der Mensch, hilfreich und gut' zu Biermanns Reimerei 'Es war einmal ein Mann, der trat in einen Scheißhaufen' ? Bei einem solch geistigen Absturz muss sich eine humanistische Nationalkultur den Hals brechen!"
    Einzig ZK-Kandidatin Christa Wolf bringt den Mut auf, sich auf dem Plenum den Kulturstalinisten entgegen zu stellen:
    "Genossen, die gleichen Leute, die alle diese Erscheinungen gekannt haben, die sie entweder haben laufen lassen oder gefördert haben, die Leute werden sich jetzt umdrehen, aber um hundertachtzig Grad und werden alles abdrehen. Die werden nicht nur jeden nackten Hals zudecken in jedem Fernsehspiel, die werden auch jede kritische Äußerung an irgendeinem Staats- und Parteifunktionär als parteischädigend ansehen und zurückdrehen - und sie tun es schon!"
    Keine Anglizismen und innere Emigration
    Doch die Würfel sind längst gefallen. Walter Ulbricht, selbst ein Getriebener der von Honecker befeuerten Eskalation, spricht das Schlusswort:
    "So, ist alles klar ja? Ist jetzt allen Genossen klar, dass es hier nicht um Literatur geht und auch nicht um höhere Philosophie, ja? Sondern dass es um einen politischen Kampf geht zwischen zwei Systemen!"
    Den Kulturschaffenden der DDR jedenfalls wurde nach dem Plenum sehr schnell klar, dass eine neue Eiszeit angebrochen war: Beat-Bands wurden reihenweise verboten, jedwede Anglizismen aus dem offiziösen Sprachgebrauch getilgt, die gesamte DEFA-Jahresproduktion 1965 wanderte in die Archivkeller, unzählige Schriftsteller wurden in die innere Emigration gedrängt - und die Reformkräfte in der SED kaltgestellt. Schon drei Jahre vor dem Ende des Prager Frühlings und ein Jahrzehnt vor der Ausbürgerung Biermanns erfror damit im Staate Walter Ulbrichts vielen der Glaube an einen reformierbaren Sozialismus. Der letzte Abschnitt von Gunnar Deckers beeindruckender Panorama-Aufnahme der DDR in diesen Jahren trägt konsequenterweise den Titel "Die Trümmer".
    Gunner Decker:
    "Darum ging es mir zu zeigen in diesem kurzem Sommer der DDR , dass es in dieser Zeit zwischen Mauerbau und 11. Plenum 1965 diese paradoxe Aufbruchstimmung gab: man ist eingemauert, empfindet sich aber jetzt in einem Zustand wo man das eigene machen kann, wo man mehr Freiheiten sich nimmt."
    Einziges Manko des Buches ist, dass es primär das kulturelle Terrain von Theater, bildender Kunst und Literatur abdeckt - die Konsequenzen für Film- und Musikszene werden vergleichsweise kurz abgehandelt, obwohl man vermuten darf, dass ein Großteil einstiger DDR-Bürger sich gerade an diese erinnern wird. Wer aber die damalige Atmosphäre zwischen Aufbruch und Resignation im Staate Walter Ulbrichts nachfühlen will, der ist mit Deckers faktengesättigter und zudem lebendig geschriebener Fleißarbeit bestens bedient.
    Gunnar Decker
    1965 - Der kurze Sommer der DDR, Carl Hanser Verlag, 496 Seiten, 26 Euro
    ISBN: 978-3446247352