So sehr die Mutter auch bittet, so sehr sie fleht – Hoffnung gibt es nicht. Ihr Sohn Joseph de Rocher ist schuldig. Er hat ein Mädchen erst vergewaltigt, dann im Alkohol und Drogenrausch erstochen. Auf solch ein Delikt steht in etlichen amerikanischen Staaten die Todesstrafe. Solch Unvermeidbares allein wäre kein Thema für die Opernbühne. Mehr Spannung bringt die Rolle einer Nonne, die der zum Tode Verurteilte um seelischen Beistand bittet. Schwester Helen Prejean willigt ein. Aber schnell wird klar, wie schwer ihre Aufgabe ist. Der Mörder verleugnet seine Tat. Und sie begegnet den Eltern des toten Mädchens, die sie beschimpfen – im Glauben, sie wolle sich mit Gottes Hilfe schützend vor den Mörder stellen. Schon 1996 kam die wahre, von Helen Prejean geschriebene Geschichte in die Kinos mit der späteren Oskar Preisträgerin Susan Sarandon und Sean Penn. Im Jahr 2000 adaptierte der amerikanische Komponist Jake Heggie den Stoff für die Opernbühne. Todesstrafe, Hollywood, auch die Emotionalität von Heggies Musik mit manchen Gospel- und Rockepisoden – all das spricht für eine amerikanische Oper. Doch Wolfgang Nägele, der in Bielefeld inszenierte, sieht es nicht ganz so:
"Ich versuche immer zu sagen, dass es nicht eine spezifisch amerikanische Oper ist. Es ist, würde ich sagen, musikalisch eine spezifisch amerikanische Oper. Es ist aber thematisch ein sehr viel globalerer, universellerer Stoff, den wir hier vorliegen haben. Und ich würde gerne versuchen oder es schaffen, dass man sich nicht zurücklegen kann heute Abend und sagen kann: "Hier, das sind ja die Amerikaner, das wissen wir 2019, die Amerikaner sind ja eh ein bisschen plem plem". Sondern, das an sich selber ranzulassen und zu sagen: Wie stehen wir denn zu dem Thema? Und wie sieht es dann ganz speziell aus, ganz konkret, wenn man dann einen Angehörigen selber verliert? Wie steht es denn dann mit der Rache und dem Humanismus, den man eigentlich denkt, vertreten zu müssen, weil man ja grundsätzlich sagt, man ist gegen die Todesstrafe?"
Kaum Rätsel, kaum Ecken und Kanten in der Musik
Wolfgang Nägeles Fragen sind pointiert gestellt, auch gefährlich, indem sie – zumal in populistischen Zeiten – aus tiefem Leid schlechte Antworten geben könnten mit unabsehbaren Konsequenzen. Auch nach dem Besuch dieser Bielefelder Neuinszenierung kann Kritik an einer immer unrechtmäßigen Todesstrafe nicht verstummen. Mehr Potenzial als aus solch grundsätzlichen Fragen entwickelt die Oper Dead Man Walking in der Personendarstellung: Durchaus kann man sich einfühlen in den Todeskandidaten, in die Wut der für ihr Leben gezeichneten Eltern des ermordeten Mädchens, vor allem auch in Schwester Helen, die ständig konfrontiert ist mit der Frage, wie viel sie im Namen Gottes ausrichten kann - und darf.
Der Komponist Jake Heggie vertieft solche Empathie zu wenig. Kaum Rätsel, kaum Ecken und Kanten gibt es in diesen stets angenehmen Dur-moll Welten, die stellenweise aufgepeppt sind mit Schlagzeugbeats rockigen Zuschnitts. Der stets traditionelle englische Operngesang bleibt auch Dank hervorragender Sänger verständlich, wirkt aber seltsam entrückt angesichts des zeitgemäßen Stoffs. Anne Christine Oppermann ist Dramaturgin am Stadttheater Bielefeld. Sie hat sich unter anderem in Berlin auch mit experimentellen Musiktheater beschäftigt, sieht aber auch Vorzüge traditionell narrativer Opernformen:
"Auf den ersten Blick hat man das Gefühl, es macht einen vielleicht eng, dieses sehr dicht erzählte Stück, was auch musikalisch sehr dicht, also fast untermalt wird. Und dann schafft es Heggie aber immer wieder doch so Ausfluchten einzubauen. Also wirklich, was Oper wirklich kann: einen großen Raum aufzumachen für die großen Gefühle, wo man dann schon eingreifen kann interpretatorisch. Und wo man sagen kann: Das ist es, was Oper stark macht und große Bilder auch dazu erfinden kann."
"Wir haben versucht, einen abstrakten Raum zu erfinden"
Mit "großen" Bühnenbildern hielt sich die Bielefelder Inszenierung von Jake Heggies Dead Man Walking zurück, glücklicherweise. Das Gefängnis, dort, wo die Oper hauptsächlich spielt, wirkt karg. Sterile Neonröhren beleuchten den kühlen Raum, der die Unerbittlichkeit des Strafvollzugs bestärkt. Wolfgang Nägele:
"Und so haben wir versucht, einen eher abstrakten Raum zu erfinden, der dieses Gefühl der Klaustrophobie, des Eingesperrtseins, einen Raum ohne Türen, ein Raum, der sich verengt, dann wieder vergrößert darzustellen. Und auch einen Raum, der auf eine gewisse Weise die Subjektivität der Reise der Nonne im Verhältnis zur Todesstrafe nachzeichnet."
Kein stereotypes amerikanisches Happy End
Trotz aller Schwierigkeiten, denen die Nonne Helen Prejean begegnet – sie bleibt standhaft in ihrem Ringen um eine Linderung des allgemeinen Leids. Am Ende der Oper, kurz vor der Vollstreckung des Todesurteils, entlockt sie dem Todeskandidaten zumindest seine Schuld. Joseph de Rocher ist nun bereit für den Tod; er bittet die Eltern seines Opfers um Vergebung. Es ist kein stereotypes amerikanisches Happy End, aber doch eines mit leicht befriedendem Touch. Großen Applaus gab es im Bielefelder Stadttheater für Nohad Becker als Schwester Helen, vor allem aber für den stimmlich sehr flexiblen Bariton Evgeniy Alexiev als Joseph de Rocher und eine phantastische und stimmgewaltige Mezzosopranistin Katja Starke als Josephs Mutter. In den Ovationen bestätigten sich nicht nur große stimmliche und darstellerische Leistungen. Sondern auch ein großer Erfolg einer Oper, die zugeschnitten ist auf ein Opernmetier mit so manchen Eigenheiten.