Archiv


Dekadenz in Florenz

Der französische Romantiker Alfred de Musset schrieb mit nur 22 Jahren ein finstres Panorama einer durch und durch verkommenen Epoche. In seiner Inszenierung am Wiener Burgtheater hat Stefan Bachmann die Modernität im szenischen Gefüge des Stückes auf trickreiche Weise genutzt.

Von Michael Laages |
    Am Ende steht Tyrannenmord - aber danach doch nicht das, wofür er begangen und worüber zuvor so lang und breit gestritten und agitiert worden ist: der Aufstand, gegen überlebtes Fürstentum und für die Republik. Der Attentäter selbst war halt nur der finstre Clown, der ziemlich heruntergekommene Ober-Bohemien in der Stadt und am Hof von Florenz; und wie laut auch immer er den eigenen Plan durch die Straßen rief, so hat ihn doch keiner ernst nehmen mögen. Außerdem war dieser Fürstenmörder Lorenzaccio nicht nur der Cousin des Potentaten, sondern hatte für den (speziell was Frauen betraf) nimmersatten Herzog Alessandro jahrelang dessen Orgien organisiert - erst als der Fürst in unstillbarer Gier auch noch Lorenzaccios schöne junge Schwester zu sich ins Bett befahl, ist es dem abgewrackten Schöngeist zu bunt geworden. Er, der immer ein Doppelspiel gespielt hatte und auch für die Republikaner zu kämpfen vorgab, vermeint nun, das Fanal für die Revolte zu zünden; aber im alten Trott, in den das Fürstentum Florenz sofort nach dem Tod des einen und der Thronbesteigung des nächsten Medici-Herrschers zurück fällt, wird auch Lorenzaccio selbst für ein paar Silberlinge abgemurkst. Es war wohl unter diesen Umständen nicht anders zu erwarten.

    Alfred de Musset, selbst Lebemann und ständig unter Absinth-Strom stehender Müßiggänger, selbst Sympathisant neuer Revolutionen, schreibt mit nur 22 Jahren dieses geschichtsphilosophisch finstre Panorama einer vergangenen und durch und durch verkommenen Epoche; mit Quellen aus dem Florenz des 16. Jahrhunderts wie mit liebender Energie versorgt von der Revolutionärin George Sand. Was Stefan Bachmann da also jetzt auf die Burgtheater-Bühne hebt, ist als politischer Theaterstoff in praktisch jeder Hinsicht ziemlich weit weg. Und es bedürfte schon beträchtlicher Mühe, um das Stück in die Nähe eines Kommentars etwa zu den europäischen Aufständen vor gerade 20 Jahren zu rücken. Trotzdem wird die neue Wiener Fassung des selten gespielten "Lorenzaccio" erstaunlicherweise zum ziemlich starken Stück.

    Das hat vor allem handwerkliche Gründe. Zum einen hat Bachmann hat die Modernität im szenischen Gefüge des Stückes auf äußerst trickreiche Weise genutzt – es strotzt nur so von intelligenten Übergängen zwischen Szene und Szene. Alle Räume der Geschichte - Straßen, Festsäle, Kirchen, Hinterzimmer, Bordelle - hat Bühnenbauer Johannes Schütz in ein Bild gezwungen; wofür er allerdings, wie fast immer, Bauteile aus früheren Inszenierungen (etwa aus "Hier und Jetzt" mit Jürgen Gosch) recycelt und in neuem Zusammenhang noch einmal nutzt – aber wer merkt das schon. Ein Kasten ganz aus Platten-Gold begrenzt nach hinten die Bühne, die ansonsten ganz mit Erde ausgeschüttet ist; darin gibt’s nur ein Sofa und zu Beginn des zweiten Teils eine große Familientafel. Das Personal tritt (wie zuletzt fast immer auch bei Gosch) recht häufig aus der ersten Reihe im Zuschauerraum auf, zieht sich dort auch um; und das ist auch dringend nötig, denn fast alle Akteure im in jeder Hinsicht erstklassig besetzten Ensemble bewältigen in rasanten Umzügen mehrere Rollen. So scheint das unruhige Stück immer in Bewegung, wie auf Drogen rotiert es, selbst wo es eher bedächtig daher kommt.

    Schließlich verfügt der Regisseur noch über zwei Protagonisten, wie sie so schnell nirgends zu finden sein werden – über den wie so oft meisterhaft fahrigen, ironie- wie verzweiflungssatten Michael Maertens in der Titelpartie und über Nicolas Ofczarek, dem es als Fürst Alessandro tatsächlich gelingt, einen Menschen ohne Maß zu erfinden: ein wildes, wüstes, gerne nackt im Dreck wühlendes Kind im Kettenhemd, unberechenbar in fast jeder Sekunde, wuchtig und winselnd vor Lust und Gier, grenzdebil und delirant in seinen Süchten, unbeirrbar in der todbringenden Energie seines Wesens. Nackt und blutüberströmt lässt der Attentäter dieses Monstrum auf dem frisch geweißelten Sofa zurück, wie nach einem Kinderspiel, das nur ein bisschen zu weit gegangen ist.

    Die Aufführung prunkt jenseits dieser beiden Schauspieler-Ereignisse aber auch mit filigranen Phantasien für praktisch alle, auch die kleinsten Rollen; sie kann zirkushafte Comedy ebenso beschwören wie musikalische Italianità und den romantisierenden Eros einer Revolte, die zwar weiß, dass sie wichtig und nötig ist, aber eben nicht, wohin sie streben soll. Das letztlich ist vielleicht die haltbare Wahrheit dieser starken Alptraumphantasie - dass da fürs erste keine Hoffnung wächst aus der Revolte; und dass sie darum immer nur die beste aller schlechtesten Lösungen ist. Wie laut Churchill die Demokratie - wer mag, kann das aktuell finden. Immer wieder von neuem.