Archiv


Dekonstruktion versus Integration

Es half alles nichts: Da mochten sich in den Jahren nach der Wende die Intendanten Dieter Görne und Holk Freytag in Dresden und Wolfgang Engel in Leipzig noch so sehr mühen.

Von Hartmut Krug |
    Und mit Regisseuren wie Volker Lösch und Michael Simon in Dresden oder mit Thomas Bischoff, Konstanze Lauterbach, Armin Petras, Michael Thalheimer und Karin Henkel in Leipzig ein breites Spektrum moderner Inszenierungsformen und Spielweisen anbieten: das gelernte DDR-Publikum blieb weg in der vielfältige medialen Angeboten bietenden neuen Zeit, und die Nachwendegeneration wurde kaum gewonnen.

    In seiner Heimatstadt Leipzig trat Sebastian Hartmann deshalb mit einer deutlichen Absage gegen das alte Stadttheater an. Er benannte das Schauspiel in "Centraltheater" und dessen kleine Bühne, die "Neue Szene" in "Scala" um und wählte als Werbe-Logo "Ende Neu". Der Spielplan orientiert sich inhaltlich auf soziale Konflikte unserer Gesellschaft und ästhetisch auf die Theatermoden, die einst die Berliner Volksbühne entwickelt hat. Illusionstheater gibt es hier nicht, sondern meist ein bilderselig-assoziatives, dekonstruierendes offenes Spiel. Das neue, andere Theater, das bei Hartmanns fünfstündiger Auftaktinszenierung einer "Matthäuspassion", die mit Ibsens "Brand" und Ingmar Bergmanns "Abendmahlsgäste" zu einem gesellschaftlichen Sinnsucher-Triptychon verquirlt wurde oder in Jorinde Dröses "Die Schockstrategie. Hamlet" einen Shakespeare aus dem Geiste von Naomi Klein als diskursives Vorspiel- und Mitmachtheater zeigte, hat zu heftigen Protesten geführt und die Generation der über 40-Jährigen weitgehend aus dem Theater getrieben. Die jungen bis ganz jungen Leute, auch weil es für sie Eintrittspreise wie im Kino gibt, haben dagegen das Theater als ihren Szene-Ort erobert. Über das Leipziger Theater wird deutschlandweit kontrovers diskutiert, und bei einer Zuschauerkonferenz stellte sich Sebastian Hartmann im überfüllten Centraltheater seinem Publikum. Mittlerweile wurde der Spielplan vor allem inhaltlich leicht entradikalisiert: es gibt im Centraltheater Wilsons "Black Rider", Tschechows "Kirschgarten", Thomas Thiemes Versuch in "Büchner/Leipzig/Revolte", Büchner und die DDR zusammen zu denken, musikalisch-theatrale Abende von Rainald Grebe und sogar den Unterhaltungsklassiker "Arsen und Spitzenhäubchen" und ein Projekt der Performance-Gruppe "Signa." In Leipzig wird versucht, ein neues Stadttheater aus dem Geiste der alten Castorfschen Ideen zu schaffen. Selbst der Hausphilosoph, der am Haus eine öffentliche "Prüfgesellschaft für Sinn und Zweck" gegründet hat, kommt von der Volksbühne, und im Januar spielt Sophie Rois die Medea.

    Die neue Zeit unter Wilfried Schulz begann am Staatsschauspiel Dresden dagegen mit einer Reverenz gegenüber der alten, mit Martin Heckmanns nach Gesprächen mit drei seit 40 Jahren am Haus engagierten Schauspielerinnen geschriebenem Theaterprolog "Zukunft für immer" über Schauspielerdasein in sich wandelnden Zeiten. Die folgenden drei Premieren boten dann das unterhaltsame Theater einer jungen, neuen Generation um die Dreißig, die Prospekte wohl, aber nicht Video und nicht Maschinen, vor allem aber nicht Effekte aus der Pop- und Medienwelt schonte.

    Es begann mit einer Bühnenversion von Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" als großes, buntes Spektakel mit Puppen-, Masken- und Menschentheater, einer radikal in unsere Zeit geholten Jugendgangs-Version von "Romeo und Julia" und einer Bühnenfassung von Ingo Schulzes Roman "Adam und Evelyn". Das war junges Theater, inszeniert von jungen Leuten unter 30, doch inhaltlich wie ästhetisch mit Angeboten an alle Generationen. Wilfried Schulz unternimmt im kulturell eher konservativen Dresden den Versuch, die Begriffe bürgerlich und konservativ neu zu definieren und das Theater auf und vor der Bühne deutlich zu verjüngen. Auch mit seiner "Bürgerbühne", zu der sich mittlerweile über 400 spielbegeisterte Laien zusammengefunden haben. Hier befragen zum Beispiel Jugendliche die "Nibelungen". Und für die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit gab es das Dramatikerfestival "After the Fall" und ein Projekt der Gruppe "Rimini Protokoll". Deutlich anders als in Leipzig konzentriert man sich in Dresden aber vor allem auf die Schauspieler, die dem Publikum modernes Theater bieten. Damit hat Wilfried Schulz bei seinem starken Neubeginn in Dresden ein altersmäßig gut durchmischtes, begeistertes Publikum gewonnen.