Am Vormittag hatten bereits beide Regierungen in großer Kabinettsrunde gemeinsam getagt, und zwar - wie in Frankreich üblich - beim Staatspräsidenten im Elysée-Palast. Da dürften die deutschen Minister gehörig gestaunt haben, wie autoritär und zeremoniell so etwas vor sich geht: Der Präsident erteilt Anweisungen und nimmt Berichte entgegen, allenfalls Rückfragen sind erlaubt, doch diskutiert wird im Ministerrat mitnichten. So ähnlich sind die Erfahrungen, mit denen deutsche Austauschschüler von einem Aufenthalt in Frankreich zurückkehren: Das Lehrerpult steht vorne in der Klasse auf einem Podest, es ist mucksmäuschenstill, und alles, was Monsieur le professeur vorträgt, wird kritiklos mitgekritzelt. Genau darin liegt andererseits der Grund für die Zurückhaltung französischer Gymnasien, den Schüleraustausch mit Deutschland so zu pflegen und zu fördern, wie es in politischen Sonntagsreden stets gefordert und gefeiert wird. Nach ein paar Wochen im westlichen Nachbarland ist die Disziplin französischer Schulklassen erst mal dahin.
Und doch kommt es in Sachen Völkerfreundschaft auf nichts so sehr an wie auf den Umgang der Jugendlichen miteinander. Der politische Genius von De Gaulle zeigt sich darin, dass er dies verstanden und darauf gesetzt hat. Vor vierzig Jahren war es in der Tat ein Wunder, dass zwei Politiker wie Adenauer und De Gaulle so weit über den Mentalitäten ihrer Völker standen, eine Form von nachbarlicher Zuneigung zu institutionalisieren, die als solche noch gar nicht vorhanden war. Ohne Zuneigung jedoch ist die Zusammenarbeit zwecklos - wie notwendig diese Zusammenarbeit auch immer sei. Zusammenarbeit kann man beschließen, Zuneigung nicht. Das gilt von den Regierungschefs, die im deutsch-französischen Verhältnis bekanntlich unterschiedlich innige Freundschaften pflegten, bis zu jedem Bürger.
Deshalb gibt es stets zwei Ebenen der deutsch-französischen Beziehungen: eine offiziell-politisch-bürokratische und eine kulturell-gefühlsmäßige. Dass diese beiden Welten immer noch weit auseinander klaffen, bekam man in Versailles deutlich vor Augen geführt, wenn diejenigen, die sich im Medium der Rede verbinden und verbünden wollten, auf die Prothese der Simultandolmetscherei angewiesen waren und mit Knöpfen in den Ohren verzweifelt Anschluss an den Text zu finden suchten. In der Tat: So wenig wie De Gaulle des Deutschen und Adenauer des Französischen mächtig waren, so wenig sprechen Chirac und Schröder oder die Parlamentspräsidenten Debré und Thierse die Sprache des jeweils wichtigsten Nachbarn und engsten Handelspartners. Unter den Abgeordneten der beiden Länder können jeweils nur zwanzig die betreffende Sprache; präzisere Fragen danach bleiben von den Pressestellen beider Parlamente unbeantwortet.
Es ist schade, dass auf diese Weise den Franzosen das hübscheste Detail des Nachmittags entging, nämlich ein vom Germanisten Thierse eröffneter Wortstreit im Deutschen um einen urfranzösischen und revolutionären Begriff: "fraternité". Thierse sagte in seiner Rede absichtsvoll "Geschwisterlichkeit". Und als der Bundeskanzler den Mund aufmachte und die traditionelle "Brüderlichkeit" entließ, lachte er mit dem halben Plenum und setzte hinzu, das sei nicht als Provokation gemeint. Fraglich, wie die Dolmetscher das alles in Sekundenschnelle hätten vermitteln können.
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