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Der alte Mann von Heidelberg

Für die Menschheitsgeschichte ist er nicht weniger wichtig als sein Nachkomme, der Neandertaler. Trotzdem fällt sein Nachruhm wesentlich bescheidener aus: Der homo heidelbergensis, genannt der Heidelbergmensch. Er lebte bis vor ungefähr 400.000 Jahren und war ein Urmensch, der wohl ein ausgeprägtes Sozialverhalten kannte und wahrscheinlich schon gesprochen hat. Sein Entdecker war Otto Schoetensack. Doch obwohl dem Heidelberger Gelehrten mit dem homo heidelbergensis eine der wichtigsten Entdeckungen der Menschheitsgeschichte zu verdanken ist, hat man ihn außerhalb der Fachwelt vergessen. Heute vor 100 Jahren wurde in einer Sandgrube bei Mauer der Heidelbergmensch entdeckt.

Von Christian Berndt | 21.10.2007
    Am 21. Oktober 1907 herrscht in der Gastwirtschaft "Hochschwender" in Mauer bei Heidelberg Hochbetrieb. Hier, mitten im Kneipenlärm, berichtet der Sandarbeiter Daniel Hartmann von einem sensationellen Fund: Bei der Arbeit in der Sandgrube Grafenrain bei Mauer ist er auf den Kieferknochen eines Urmenschen gestoßen. Dass er sofort weiß, was er vor sich hat, verdankt er dem speziellen Training eines Gelehrten, der hier nach Spuren von Urmenschen forscht: Otto Schoetensack:

    "Seit nahezu zwei Jahrzehnten kontrollierte ich die Grabungen in der Sandgrube in Grafenrain auf Spuren des Menschen. Kohlenreste oder Brandspuren an Säugetierknochen suchte ich vergeblich. So blieb denn die einzige Hoffnung, dass sich unter den Säugetierresten auch einmal ein menschlicher zeigen würde."

    Seit Jahrzehnten hat Schoetensack, Privatdozent an der Universität von Heidelberg, sein Augenmerk auf diese Sandgrube gerichtet. Schon 70 Jahre zuvor hat man hier - in einem ehemaligen Flussbett des Ur-Neckar - die ersten Tierfossilien aus grauer Vorzeit gefunden. Schoetensack ist überzeugt, es müssten auch Reste von Urmenschen zu finden sein - so, wie sie 1856 im Neandertal entdeckt wurden. Doch was jetzt hier aufgetaucht ist, stellt ihn vor ein Rätsel: ein Unterkiefer, der aussieht wie der eines Affen, aber die Zähne sind eindeutig menschlich. Etwas völlig anderes hatte Schoetensack erwartet, erklärt Ulrich Zeller, Direktor der Zoologie am Museum für Naturkunde der Humboldt Universität Berlin:

    "Das Sensationelle war eigentlich, dass Schoetensack im Grunde einen Neandertaler suchte. Das war ja das Einzige, was über die Fossilgeschichte des Menschen bekannt war. Und als dieser Unterkiefer zum Vorschein kam, war sehr schnell klar, dass es sich nicht um einen Neandertaler, sondern irgendetwas anderes gehandelt haben muss."

    Der Fund sieht einem Wesen ähnlich, das 13 Jahre zuvor auf Java entdeckt worden ist und zunächst für ein Mischwesen aus Mensch und Affe gehalten wird. Auf Java, so vermuten damals deutsche Evolutionsforscher, habe sich aus dort lebenden Menschenaffen - den Gibbons - der Mensch entwickelt. Schoetensack glaubt nun, ein solches Übergangswesen gefunden zu haben.

    "Er hat dann erst mal diese Gibbon-Theorie wieder ausgegraben und gemeint, er hätte eine Zwischenform - man sprach ja immer gerne vom missing link, ein missing link zwischen Gibbon und Mensch gefunden."

    Schoetensack nennt seinen ungefähr 600 000 Jahre alten Fund homo heidelbergensis. Später wird man den Heidelbergmensch dem homo erectus - dem aufrecht gehenden Menschen - zuordnen, einem Frühmenschen und Vorfahren des homo sapiens. Der homo heidelbergensis gilt als europäische Variante des aus Afrika stammenden erectus und entwickelte sich in Europa wahrscheinlich zum Neandertaler. Der wiederum starb erst vor wenigen zehntausend Jahren in einer evolutionären Sackgasse aus. Anders als beim Neandertaler gibt es vom wesentlich älteren Heidelbergmenschen, der vor 800 000 bis 400 000 Jahren lebte, nur sehr spärliche Funde.

    Man geht davon aus, dass der Heidelberg-Mensch, der das Körperfell bereits verloren hatte, den systematischen Gebrauch des Feuers kannte. Er wohnte in Hütten, bearbeitete Faustkeile, trug Tierfelle und ging möglicherweise mit Holzspeeren auf die Jagd.

    "Also, der homo erectus ist für die weitere Entwicklung des Kulturmenschen von entscheidender Bedeutung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der erectus, schon allein aufgrund der Tatsache, dass er den afrikanischen Kontinent verlassen hat, in der Lage war, systematisch weite Strecken zurückzulegen, in sozialen Verbänden gelebt hat, kommuniziert haben muss, und zwar durch eine wahrscheinlich einfache Sprache."

    Im Vergleich zu seinem Nachkommen, dem Neandertaler, ist über den Homo heidelbergensis noch wenig bekannt. Sein Entdecker Otto Schoetensack ist außerhalb der Fachwelt vergessen. Und doch hat dieser Autodidakt, der erst mit über 50 Jahren seine Universitätskarriere begann, mit dem Fund des Kieferknochens einen der wichtigsten Beiträge zur Geschichte der Anthropologie geleistet:

    "Er war ein Glückspilz und ein beharrlicher Forscher, der, wie das bei vielen Fossiliensuchern der Fall ist, intuitiv wusste, wo er zu suchen hat. Und an dieser Leistung ist nicht vorbeizureden."