Ein Donnerstagmorgen im Walton Gesundheitszentrum in der South Bronx. Es steht zwischen bröckelnden Fassaden und eingeschlagenen Fensterscheiben. Draussen prasseln dicke Regentropfen auf seine knallgelbe Markise. Drinnen behandeln Ärzte täglich etwa 50 Patienten, die zu arm sind, um die Rechnung zu bezahlen.
Zum Beispiel Mattie West. Die 68-jährige Schwarze leidet unter Diabetes und erhöhtem Blutdruck. Doch nach ihrem Termin mit Dr. Neil Calman ist sie sehr zufrieden.
"Dr. Calman ist ein sehr guter Arzt. Er nimmt sich Zeit. Er hat Geduld. Wenn ich ein Problem habe, dann redet er mit mir, auch wenn er viel zu tun hat."
Neil Calman hat sein erstes Gesundheitszentrum vor 25 Jahren aus Protest gegen die schlechte medizinische Betreuung der Armen eröffnet. Inzwischen leitet der Allgemeinmediziner 16 Gesundheitszentren mit 300 Mitarbeitern und 20 Millionen Dollar Umsatz im Jahr. Hinzu kommen 9 Gesundheitsstätten in Kirchen und Suppenküchen für Obdachlose und die Betreuung ehemaliger Gefängnisinsassen mit Aids.
"Mein Ziel ist, den Armen die beste medizinische Hilfe zu geben, die wir ihnen bieten können. Niemand hat es so nötig wie sie."
Calman und seinen Zentren kommt vor Ort eine besondere Rolle in der medizinischen Versorgung zu, denn die South Bronx hat eine der höchsten Diabetes, Asthma und Krebsraten Amerikas. Die Gesundheitszentren sind ein Rettungsanker für die bedürftigen Patienten, um die gegenwärtige Krise in der amerikanischen Allgemeinmedizin zu überstehen. Neil Calman:
"Was wir hier machen ist viel besser als das, was mein eigener Hausarzt macht. Eine meiner Patientinnen war seit zwei Tagen mit einer Mammographie überfällig– schon erinnert mich der Computer daran. Patienten können hier auch zum Zahnarzt, Psychiater oder zu einen Sozialarbeiter gehen, wenn sie wollen."
Für viele der angesprochenen Patienten ist das ein Luxus. 56 Millionen Amerikaner, das entspricht fast der Einwohnerzahl Italiens, haben laut Schätzung der National Association of Community Health Centers keinen Hausarzt, an den sie sich wenden können, wenn sie krank werden. Schlagzeilen, nach denen mindestens 400 Allgemeinärzte in Boston kürzlich einen Annahmestopp für neue Patienten verhängt haben, überraschen Walter Kernan nicht.
"Ich bekomme oft Anrufe von Patienten, die einen Arzt suchen. Ich vermittle sie weiter. Aber wenn sie dann in einer Praxis anrufen, sagt man ihnen, es werden keine neuen Patienten angenommen."
Kernan, Professor für Innere Medizin an der Yale Universität, versucht Amerikas Nachwuchs für den Umgang mit Patienten zu begeistern. Vergebens.
Seit 1995 hat sich die Zahl der Medizinstudenten, die Allgemeinmedizin zum Beruf erwählen, um 50 Prozent verringert. Was hält sie davon ab? Die wuchernde Bürokratie – und das schlechte Gehalt, das sich seit 1995 um etwa zehn Prozent reduziert hat. Das bestätigt Ronda Kotelchuck, Leiterin der Primary Care Development Corporation, eine Firma in Manhattan, die Gesundheitszentren bei der Finanzierung neuer Projekte und dem Ausbau hilft. Bezahlt wird sie vom Staat, Stiftungen und den Zentren.
"Hausärzte verdienen im Durchschnitt 150 000 Dollar. Ein Spezialist verdient 250.000 Dollar. Das Medizinstudium ist so teuer, dass sie mehrere tausend Dollar Schulden haben. Ihre Finanzprobleme können sie mit so wenig Geld nicht lösen. Deshalb machen sie lieber etwas anderes."
Vertrackt ist auch: Vorsorgeuntersuchungen gegen Diabetes und Asthma werden von staatlichen und privaten Versicherungen kaum übernommen. Kommt es dann aber zu einer Beinamputation eines Diabetikers zahlen die Kassen – selbst wenn die Kosten viel höher sind. Professor Kernan schüttelt verständnislos den Kopf.
"Wir verschwenden zuviel Zeit am Telefon mit Versicherungen und anderen Behörden. Die Studenten sehen das. Sie sehen den Papierkram, den wir erledigen müssen. Und sie fragen sich: Wollen wir unsere Zeit mit sowas verbringen?"
Schlecht für die Armen und Alten ist auch, dass Präsident George W. Bush die staatlichen Hilfen Medicare und Medicaid um Milliarden Dollar kürzen will. Dabei weigern sich Hausärzte schon seit längerem, Millionen armer Amerikaner mit Atemnot und hohem Blutdruck zu behandeln, weil die Vergütung der Medicaid seit Jahren weit unter den tatsächlichen Behandlungskosten liege. Ronda Kotelchuck:
"Für die Untersuchung eines armen Patienten bekommen Ärzte in New York zwischen 12 und 44 Dollar. Im Durchschnitt sind es 20 Dollar. Das geht nicht. Das ist finanziell nicht tragbar. Deshalb behandeln viele Mediziner keine armen Patienten."
Eine, die sich bemüht, armen Patienten zu helfen, ist Crystal Query. Gemeinsam mit 11 Kommilitonen hält die New Yorker Medizinstudentin samstags Sprechstunde im Walton Gesundheitszentrum in der South Bronx. Die Behandlung ist umsonst. Sie wirft einen nervösen Blick auf die lange Liste der Patienten mit Beschwerden aller Art.
"Wir sehen viele Leute mit Bluthochdruck, Diabetes und Geschlechtskrankheiten. Wir machen aber auch Vorsorgeuntersuchungen. Wir passen auf, dass sie Mammographien machen. Und wir helfen ihnen, billig an Medikamente zu kommen, wenn sie krank sind."
Ihren Samstagmorgen hat sich Amarilys Cortijo, die leitende Ärztin, anders vorgestellt. Gerade nippt die gebürtige Kubanerin im Konferenzzimmer an einem Pappbecher Kaffe, als zwei Medizinstudenten in weissen Kitteln Alarm schlagen: Eine Patientin, 23 Jahre alt, zum ersten Mal im Gesundheitszentrum, krankhaft fettleibig, sei selbstmordgefährdet.
Cortijo rät den Studenten, sofort den Psychologen zu holen. Und sich so lange mit der lebensmüden Patientin zu unterhalten, bis sie Vertrauen zu ihnen fasst. Eine Situation, die sie in der South Bronx viel zu oft erlebt.
Die beiden angehenden Mediziner sprinten in das Behandlungszimmer. Auch Cortijo macht sich auf den Weg. Als sie von ihrem Einsatz zurückkommt, ist ihr Kaffee kalt. Zwei Medizinstudenten erwarten sie bereits – sie müssen unbedingt über ihren Patienten mit ihr sprechen. Sie weiss: Es wird ein langer Tag.
Zum Beispiel Mattie West. Die 68-jährige Schwarze leidet unter Diabetes und erhöhtem Blutdruck. Doch nach ihrem Termin mit Dr. Neil Calman ist sie sehr zufrieden.
"Dr. Calman ist ein sehr guter Arzt. Er nimmt sich Zeit. Er hat Geduld. Wenn ich ein Problem habe, dann redet er mit mir, auch wenn er viel zu tun hat."
Neil Calman hat sein erstes Gesundheitszentrum vor 25 Jahren aus Protest gegen die schlechte medizinische Betreuung der Armen eröffnet. Inzwischen leitet der Allgemeinmediziner 16 Gesundheitszentren mit 300 Mitarbeitern und 20 Millionen Dollar Umsatz im Jahr. Hinzu kommen 9 Gesundheitsstätten in Kirchen und Suppenküchen für Obdachlose und die Betreuung ehemaliger Gefängnisinsassen mit Aids.
"Mein Ziel ist, den Armen die beste medizinische Hilfe zu geben, die wir ihnen bieten können. Niemand hat es so nötig wie sie."
Calman und seinen Zentren kommt vor Ort eine besondere Rolle in der medizinischen Versorgung zu, denn die South Bronx hat eine der höchsten Diabetes, Asthma und Krebsraten Amerikas. Die Gesundheitszentren sind ein Rettungsanker für die bedürftigen Patienten, um die gegenwärtige Krise in der amerikanischen Allgemeinmedizin zu überstehen. Neil Calman:
"Was wir hier machen ist viel besser als das, was mein eigener Hausarzt macht. Eine meiner Patientinnen war seit zwei Tagen mit einer Mammographie überfällig– schon erinnert mich der Computer daran. Patienten können hier auch zum Zahnarzt, Psychiater oder zu einen Sozialarbeiter gehen, wenn sie wollen."
Für viele der angesprochenen Patienten ist das ein Luxus. 56 Millionen Amerikaner, das entspricht fast der Einwohnerzahl Italiens, haben laut Schätzung der National Association of Community Health Centers keinen Hausarzt, an den sie sich wenden können, wenn sie krank werden. Schlagzeilen, nach denen mindestens 400 Allgemeinärzte in Boston kürzlich einen Annahmestopp für neue Patienten verhängt haben, überraschen Walter Kernan nicht.
"Ich bekomme oft Anrufe von Patienten, die einen Arzt suchen. Ich vermittle sie weiter. Aber wenn sie dann in einer Praxis anrufen, sagt man ihnen, es werden keine neuen Patienten angenommen."
Kernan, Professor für Innere Medizin an der Yale Universität, versucht Amerikas Nachwuchs für den Umgang mit Patienten zu begeistern. Vergebens.
Seit 1995 hat sich die Zahl der Medizinstudenten, die Allgemeinmedizin zum Beruf erwählen, um 50 Prozent verringert. Was hält sie davon ab? Die wuchernde Bürokratie – und das schlechte Gehalt, das sich seit 1995 um etwa zehn Prozent reduziert hat. Das bestätigt Ronda Kotelchuck, Leiterin der Primary Care Development Corporation, eine Firma in Manhattan, die Gesundheitszentren bei der Finanzierung neuer Projekte und dem Ausbau hilft. Bezahlt wird sie vom Staat, Stiftungen und den Zentren.
"Hausärzte verdienen im Durchschnitt 150 000 Dollar. Ein Spezialist verdient 250.000 Dollar. Das Medizinstudium ist so teuer, dass sie mehrere tausend Dollar Schulden haben. Ihre Finanzprobleme können sie mit so wenig Geld nicht lösen. Deshalb machen sie lieber etwas anderes."
Vertrackt ist auch: Vorsorgeuntersuchungen gegen Diabetes und Asthma werden von staatlichen und privaten Versicherungen kaum übernommen. Kommt es dann aber zu einer Beinamputation eines Diabetikers zahlen die Kassen – selbst wenn die Kosten viel höher sind. Professor Kernan schüttelt verständnislos den Kopf.
"Wir verschwenden zuviel Zeit am Telefon mit Versicherungen und anderen Behörden. Die Studenten sehen das. Sie sehen den Papierkram, den wir erledigen müssen. Und sie fragen sich: Wollen wir unsere Zeit mit sowas verbringen?"
Schlecht für die Armen und Alten ist auch, dass Präsident George W. Bush die staatlichen Hilfen Medicare und Medicaid um Milliarden Dollar kürzen will. Dabei weigern sich Hausärzte schon seit längerem, Millionen armer Amerikaner mit Atemnot und hohem Blutdruck zu behandeln, weil die Vergütung der Medicaid seit Jahren weit unter den tatsächlichen Behandlungskosten liege. Ronda Kotelchuck:
"Für die Untersuchung eines armen Patienten bekommen Ärzte in New York zwischen 12 und 44 Dollar. Im Durchschnitt sind es 20 Dollar. Das geht nicht. Das ist finanziell nicht tragbar. Deshalb behandeln viele Mediziner keine armen Patienten."
Eine, die sich bemüht, armen Patienten zu helfen, ist Crystal Query. Gemeinsam mit 11 Kommilitonen hält die New Yorker Medizinstudentin samstags Sprechstunde im Walton Gesundheitszentrum in der South Bronx. Die Behandlung ist umsonst. Sie wirft einen nervösen Blick auf die lange Liste der Patienten mit Beschwerden aller Art.
"Wir sehen viele Leute mit Bluthochdruck, Diabetes und Geschlechtskrankheiten. Wir machen aber auch Vorsorgeuntersuchungen. Wir passen auf, dass sie Mammographien machen. Und wir helfen ihnen, billig an Medikamente zu kommen, wenn sie krank sind."
Ihren Samstagmorgen hat sich Amarilys Cortijo, die leitende Ärztin, anders vorgestellt. Gerade nippt die gebürtige Kubanerin im Konferenzzimmer an einem Pappbecher Kaffe, als zwei Medizinstudenten in weissen Kitteln Alarm schlagen: Eine Patientin, 23 Jahre alt, zum ersten Mal im Gesundheitszentrum, krankhaft fettleibig, sei selbstmordgefährdet.
Cortijo rät den Studenten, sofort den Psychologen zu holen. Und sich so lange mit der lebensmüden Patientin zu unterhalten, bis sie Vertrauen zu ihnen fasst. Eine Situation, die sie in der South Bronx viel zu oft erlebt.
Die beiden angehenden Mediziner sprinten in das Behandlungszimmer. Auch Cortijo macht sich auf den Weg. Als sie von ihrem Einsatz zurückkommt, ist ihr Kaffee kalt. Zwei Medizinstudenten erwarten sie bereits – sie müssen unbedingt über ihren Patienten mit ihr sprechen. Sie weiss: Es wird ein langer Tag.