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Der Anschlag von Djerba aus anderer Perspektive

Gernot Wolframs neuer Roman spielt in Tunesien – und erinnert an einen Anschlag, der 2002 die Insel Djerba erschütterte. Ihn interessiert der umgekehrte Blick: der Blick des Westens auf die muslimische Welt, samt blinder Flecken und den möglichen fatalen Konsequenzen.

Von Claudia Kramatschek | 23.05.2011
    "Am Mittag war der Anruf gekommen. Er nahm den Hörer ab und fragte, mit wem er spreche, ohne sofort eine Antwort zu erhalten. Die zögerliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung war leise, und dennoch war jedes ihrer Worte in der Folge so klar und deutlich zu verstehen, als würden sie ihm ins Ohr geflüstert. Die Frau sprach mit kurzen, stockenden Pausen. Ihre Stimme war weder aufgeregt noch selbstsicher. Ein vorsichtiges Tasten nach seiner Aufmerksamkeit war in ihr zu hören, ohne jegliche Geräusche der Provokation oder Überredung, die ihm von unzähligen Anrufen ähnlicher Art vertraut waren."

    Der Mann, dem dieser Anruf gilt, ist ein erfolgreicher Journalist. Alles, was er sich einst für sein Leben gewünscht hat, scheint er erreicht zu haben. Er schreibt für die Zeitung, die er schon als junger Student bewundert hat. Er ist ein weit gereister Mann, der sein Interesse für andere Kulturen zu seinem Beruf gemacht; gerade erst ist sein Buch über "Die neuen Griots von Adamaua" erschienen, in der Branche gilt er als "gewissenhafter Spurensucher alter Traditionen". Doch der Anruf der jungen Frau, die nun am anderen Ende der Leitung spricht, wird dieser Selbstgewissheit ein Ende bereiten. Eine halbe Stunde später sitzen sie sich in einem Café gegenüber. Sie rückt nicht wirklich mit der Sprache heraus, was sie von ihm will, und überreicht ihm stattdessen ein Heft mit Notizen. Er beginnt widerwillig darin zu lesen und sieht sich in eine Zeitreise versetzt, die ihn nicht nur mit seiner eigenen Vergangenheit, sondern auch mit sich selbst konfrontiert. Fünf Jahre zuvor sind er und das junge Mädchen sich zum ersten Mal begegnet: auf der Insel Djerba. Es ist das Jahr 2002 – und das idyllische Ferienparadies wird von einem Anschlag auf eine berühmte Synagoge heimgesucht, die auch im Roman geheimes Kraftzentrum ist.

    "Was mich besonders berührt hat, ist, dass der Ort, an dem dieser Anschlag stattgefunden hat, diese Al-Ghriba-Synagoge, ein jahrhundertealter Pilgerort ist. Eine jüdische Synagoge, ganz weiß mit wunderschönen blauen, fast grellblauen Türen und Innenornamenten. Und an diesem Ort, wo jahrhundertelang Menschen hin gepilgert sind, um Frieden zu finden und die jüdische und die arabische Welt auch aufeinandertreffen – dort ereignet sich dieser Anschlag. Und das ist ja das erste Mal gewesen, dass 21 Touristen dort ums Leben gekommen eigentlich das erste Mal, dass Deutschland in diesen Al-Qaida-Terror hineingezogen wurde, ohne dass das eine nennenswerte Erinnerung hinterlassen hätte in unserer Gesellschaft."

    Wer nun erwartet, "Das Wüstenhaus" liefere eine weitere literarische Exegese des Terrors seitens muslimischer Fanatiker oder gar einen Kommentar zu den aktuellen Aufständen in der arabischen Welt, deren Wucht auch den Autor überrascht hat, sieht sich angenehm enttäuscht. Denn Gernot Wolfram – selbst ein Kenner und Liebhaber der mittelmeerischen Länder, wie er die nordafrikanische Region bevorzugt nennt – Wolfram interessieren nicht so sehr die Verhältnisse vor Ort. Ihn interessiert der umgekehrte Blick: der Blick des Westens auf die muslimische Welt, samt blinder Flecken und den möglichen fatalen Konsequenzen. Tatsächlich brodelt es schon damals im Land, als der Schriftsteller und die junge Frau im Foyer eines Hotels sich zum ersten Mal begegnen. Er weilt auf der Insel, die er als "Schnittstelle der Kulturen" rühmt, für ein Interview mit einem ägyptischen Schriftsteller. Sie ist 17 Jahre alt und auf Urlaubsreise mit ihren Eltern, die sich von dieser Reise frischen Wind für ihre festgefahrene Ehe erhoffen. Rasch fühlt sich die Tochter von der weltgewandten Art des jungen Mannes ebenso angezogen wie der Vater, ein Lehrer und verhinderter Schriftsteller, der den Traum von der weiten Welt schon vor langer Zeit gegen die Enge des Klassenzimmers eingetauscht hat. Der Vater ist neugierig auf Ruinen und Geschichte, nicht auf die Probleme der Gegenwart. Und auch der Journalist scheint die leisen Anzeichen einer feindlichen Stimmung nicht wirklich wahrhaben zu wollen:

    "Ich bin froh, euch hier getroffen zu haben, jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann. In Tunis habe ich nur nervöse Kollegen aus Köln und Berlin wieder gesehen oder Leute, die so hektisch Französisch sprachen, dass einem die Lust an der Sprache vergeht. Alle scheinen im Moment in diesem Land den Kopf zu verlieren. Irgendetwas brodelt unter der Oberfläche. Mach dir nicht so viele Gedanken wegen deiner Eltern – sie haben eine gute Zeit auf der Insel, und du solltest das auch versuchen. (...) Glaub mir, es ist ein gutes Leben hier."

    "Die Menschen aus dem Westen, die ich erlebe, die kurzzeitig in diesen Ländern sind, haben ganz bestimmte Bilder im Kopf – und ich auch, was ich in diesen Ländern suche, was mir gefällt und was man auch vielleicht für sich selber benötigt. Und auch eine Sehnsucht nach Exotik. Gleichzeitig gibt es natürlich auch eine Angst aufgrund der Erfahrung der letzten Jahre: Wer von diesen Menschen, die man dort trifft, ist vielleicht radikal? Wer ist vielleicht bereit, für seine Überzeugung oder seinen Glauben auch radikal gehen Leute aus dem Westen vorzugehen? Aber worüber man hier zu wenig vielleicht nachdenkt – und das ist auch mir erst langsam klar geworden: Welche Ängste löst eigentlich unser Anblick aus? Allein die Art, wie wir uns kleiden in diesen Ländern, wie wir reden, die Art unserer Sprache. Es gibt ja in diesem Buch diese eine Szene, die mir sehr wichtig ist, wo das Mädchen Maja und der Journalist am Mittag auf der Insel zu einem Strandspaziergang, zum Joggen aufbricht, und sie laufen in dieser Gluthitze des Mittags am Strand entlang und treffen dort auf Einheimische. Und plötzlich ist in diesem Blick der Einheimischen natürlich Verwunderung, aber auch Hass. Weil sie das überhaupt nicht verstehen können: In dieser brütenden Hitze aus Vergnügen laufen zu gehen, ist etwas, was sie nicht verstehen können. Es gehört nicht zu den Traditionen – und ist eigentlich auch etwas Dekadentes. Und das Buch versucht ja ganz viele dieser gegenseitigen Blicke einzufangen – ohne moralisch zu sein."

    Wolfram, der auch in diesem Roman seine fein gewobenen Motive gekonnt und fast unmerklich miteinander verknüpft, erzählt daher zugleich mit gekreuzten Blicken und gekreuzten Stimmen: Hier die Notizen der jungen Frau, die wir quasi mit den Augen des Journalisten 'lesen', dort dessen eigene Erinnerungen, die während dieser Lektüre in ihm zum Leben erwachen. Es ist ein quasi gebrochenes Erzählen – denn auch wenn der Roman nicht moralisch sein will, steht doch die heikle Frage einer Schuld, wenigstens aber einer Mitverantwortung zur Debatte: Das junge Mädchen wirft dem Journalisten nämlich indirekt den Tod ihrer Eltern vor, die beim Anschlag auf die Synagoge ums Leben gekommen sind. Er war es schließlich, so das Mädchen, der den Eltern in höchsten Tönen von dieser friedlichen Begegnungsstätte der Religionen vorgeschwärmt und ihnen geraten habe, diese unbedingt noch vor der Abreise aufzusuchen.

    "Damit hatten Sie doch die Entscheidung für uns getroffen, oder nicht? Wie sollte man sich diesem Anspruch verweigern? Wo sich doch solche großen Welten dort trafen, ganze Zeitepochen – diese kulturelle Erfahrung durfte sich ein Lehrerehepaar, wenn es schon einmal die Chance hatte, nicht entgehen lassen, oder? Ein Vorschlag, ausgesprochen von einem klugen Menschen wie Ihnen, dem konnte man doch guten Gewissens vertrauen? Hatten Sie nicht gesagt, dass die sinnlichen Eindrücke wichtig sind? Das unmittelbare Betrachten und Verstehen? Erkenntnis suchen jenseits des Schulwissens, in der lichterfüllten Welt der alten Dörfer, Küsten und Strände?"

    Nicht, dass Wolfram seine Figuren bloßstellt – doch den Traum einer freien weiten Welt, gepaart mit der Attitüde des aufgeklärten liberalen Gutmenschen, wie ihn der Journalist fast durch und durch verkörpert, den führt er zumindest als so fragwürdig wie bedenkenswert vor.

    "Er ist ein Verführer. Und das auf mehreren Ebenen. Die Eltern des Mädchens, das aus Süddeutschland kommt, bewundern ihn natürlich auch dafür, dass er aus Berlin kommt. Dass er dieses Leben führt, wo er reisen kann, wo er viele Menschen kennt, wo er dieses Wissen hat, auch diese Weltläufigkeit. Und er merkt aber erst ganz spät, dass in dieser Sicherheit, etwas über Kultur sagen zu können, dass in dieser ganzen Kulturselbstgewissheit etwas höchst Gefährliches liegt. Und das ist etwas, was mich in diesem Buch auch fasziniert hat: dass genau in dieser Verführung zur Kultur, zur Weltläufigkeit im Grunde genommen, ein Ideal steckt unserer Bürger- und Bildungsgesellschaft. Viel Wissen heißt dann auch, so der Mythos, sich richtig verhalten zu können. Und das Buch zeigt dann eigentlich, dass das Gegenteil stimmt."

    Und es zeigt – auf leise und zurückhaltende Art – dass es eine Fremde gibt, die uns angeht, gerade in ihrer Unhintergehbarkeit. Auch Wolframs Alter Ego, der Journalist, begreift, er kann nicht einfach so weitermachen als wäre nichts geschehen. Er wird Maja heimlich nach Paris folgen, wo die mutmaßlichen Attentäter vor Gericht gebracht werden; ein von ihm geschätzter Kollege kommt in Tunis bei einem weiteren Attentat ums Leben – und er selbst wird am Ende nach Djerba zurückfahren, um noch einmal den Ort des Anschlags zu besuchen. Dass Gernot Wolfram dann ausgerechnet mit dem letzten Bild von "Das Wüstenhaus" die Schönheit der Landschaft gegen die Geschichte der politischen Fakten setzt, ist das einzige Fragezeichen in diesem so exakt komponierten wie sprachlich luftig gewobenen Roman.

    Gernot Wolfram: Das Wüstenhaus. Roman.
    Deutsche Verlagsanstalt 2011. 216 Seiten. 19,99 Euro