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Der Bergradar der Tour de France

Antoine Vayer berechnet in einer Studie den Kraftaufwand der einzelnen Athleten und macht so die Leistungen der Sportler aus verschiedenen Epochen auch für die TV-Zuschauer vergleichbar. Aber Vorsicht: Diese Rechenformel ist nur eine Orientierungshilfe.

Von Tom Mustroph |
    Die Vorstellung ist verlockend. Man sitzt am Fernseher. Man stoppt die Zeiten, die Radprofis benötigen, um einen Berg hinauf zu fahren. Dann schlägt man in einer Tabelle nach und kontrolliert, ob diese Zeiten auf Leistungen basieren, die des Dopings verdächtig sind. Die Schwellen sind mit markanten Begriffen wie "normal", "verdächtig", "wundersam" und "mutantenhaft" versehen.

    "Ich habe vor 15 Jahren schon diese Limits gesehen","

    sagt Antoine Vayer, der Autor der Studie. Er war früher Trainer beim Team Festina - jenem Rennstall, dessen rollendes Dopinglager bei der Tour de France 1998 den gleichnamigen Skandal auslöste. Basis der Beobachtung waren Leistungsmessungen.

    ""Für mich waren das magische Zahlen."

    Die Grenze des physiologisch Möglichen zieht Vayer jetzt bei 410 Watt. Alles darüber ist verdächtig. Bei 430 Watt beginnt die Schwelle des Wundersamen, ab 450 Watt spricht er von Mutanten. In seine Berechnungen flossen auch Daten aus Studien zu Epo ein.

    "Es gibt einige wissenschaftliche Publikationen, die über die Effekte von Epo berichten. Sie bestätigen, dass damit das Leistungsvermögen mindestens um zehn, manchmal 15 oder sogar 20 Prozent gesteigert werden kann."

    Vayer sprach auch mit einigen Profis, die ihm erzählten, dass sie mit Epo 440 Watt auf die Pedale bringen konnten, während es unter normalen Bedingungen nur 400 Watt waren. Um all diese Erfahrungen zu systematisieren, hat Vayer frühere Leistungen bei schweren Bergetappen der Tour de France analysiert. Referenzrahmen ist

    "ein Aufstieg von mindestens 20 Minuten Dauer nach fünf Stunden Arbeit in anderen Bergen zuvor."

    Vayer hat für derartige Klettereien die Zeiten gestoppt, mit dem Grad der Steigung ins Verhältnis gesetzt und Faktoren wie Rollwiderstand zwischen Rad und Straße, Windverhältnisse und Reibung zwischen Kette und Kettenblatt einbezogen. Daraus wurde der Kraftaufwand jedes einzelnen Fahrers ermittelt und auf einen Athleten mit einem Standardgewicht von 70 Kilogramm projiziert. Leistungen von Profis aus verschiedenen Epochen werden so vergleichbar.

    Historisch zeichnet sich eine grüne Phase mit normalen Leistungen unter 410 Watt von Toursiegern der 80er Jahre wie Greg Lemond und Stephen Roche ab. Es gibt einen Sprung in den 90er Jahren, als Epo aufkam. Miguel Indurain gewann die Tour 1993 noch mit 407 Watt Leistung bei den Bergetappen. Ein Jahr später waren es 435 Watt. Das ist in Vayers Terminologie wundersam.

    In die Mutantenzone von über 450 Watt gelangte Indurain während der Tour 1995. Einzelne Leistungen am Berg über dieser Grenze von 450 Watt schaffen auch die Toursieger Bjarne Riis, Jan Ullrich, Marco Pantani, Lance Armstrong und Alberto Contador. Im grünen Bereich verbleibt der Toursieger von 2011, Cadel Evans. Bei Bradley Wiggins, Toursieger im letzten Jahr, konstatiert Vayer hingegen verdächtige Werte von 415 bis 429 Watt bei einzelnen Bergetappen.

    Liegt es an diesen Verdächtigungen, dass Dave Brailsford, Wiggins Rennstallchef bei Sky, Vayers Methode als Pseudowissenschaft bezeichnet? Brailsford, bekanntermaßen ein großer Freund der Messtechnik, zieht ausgerechnet in diesem Fall die Aussagekraft von Leistungsmessungen allgemein in Zweifel.

    "Wissen Sie, wir haben unsere eigenen Daten. Wir wissen, wie schwierig es ist, diese eigenen Daten akkurat zu behandeln und siocherzustellen, dass die Informationen stimmen."

    Mit Skepsis, aber durchaus auch Neugier in der Skepsis blickt der jetzige Entwicklungsmanager von Omega Pharma Quick Step, Rolf Aldag, auf Vayers Berechnungen. David Millar, ein vor längerer Zeit schon geläuterter Ex-Doper im aktuellen Tour-Peloton bemerkt:

    "Die Methode ist okay. Sie ist nicht perfekt, es ist eine grobe Annäherung. Es ist nicht schwarz auf weiß. Aber es ist okay."

    Verurteilen will auch Antoine Vayer nicht. Er will lediglich wissen – und mit diesem Wissen Fragen stellen.

    "Für mich ist es ein gutes Instrument zur Diskussion und zum Entdecken."

    Seine Daten zu vergangenen Frankreichrundfahrten hat er in der Publikation "Nicht Normal" veröffentlicht. Er wagt darin auch den Sprung in die Gegenwart. Für die heutige und die morgige Pyrenäenetappe hat er anhand des jeweiligen Profils Grenzwerte für glaubwürdige und weniger glaubwürdige Leistungen errechnet. Direkt will er daraus nicht ableiten, ob ein Fahrer gedopt hat oder nicht. Er fordert:

    "Diese Arbeit obliegt der UCI. Sie sollte sagen: 'Ja, dieser Fahrer ist normal. Er kann 409 oder 412 Watt erbringen, weil er ein sehr guter Athlet ist. Wir sind sicher.' Aber das machen sie nicht."

    Vayer hat ein Instrument entwickelt, das für Aufklärung sorgen und Glaubwürdigkeit herstellen kann. Verblüffenderweise wird dieses Potential weder bei der UCI noch bei den Organisatoren der Tour de France erkannt. Aus Angst vor unliebsamen Ergebnissen werden die Methode und deren Entwickler kurzerhand diskreditiert. Renndirektor Jean-Francois Pescheux:

    "Antoine Vayer – ich weiß nicht, was er weiß. Ich weiß nicht, ob er Mediziner ist oder Wissenschaftler oder Chemiker oder Agronom. Ich weiß es nicht. Er ist ein ehemaliger Sportler. Wenn er fähig ist, von daheim, vom Fernseher aus, zu sagen: 'ein Fahrer fährt so und so' - nun gut. Ich habe niemals etwas mit Herrn Vayer zu tun gehabt."

    Pescheux, selbst ein ehemaliger Radprofi, ist seit 1982 bei der ASO beschäftigt. Schwer vorstellbar, dass er nie etwas von seinem Landsmann gehört hat, der das Team trainierte, das den einstigen Nationalhelden Richard Virenque Epo-gestützt über die Straßen der Tour de France fliegen ließ.

    Institutionen, die sich Innovationen verschließen, sind vom Untergang bedroht. Es wird Zeit, dass auch Tourveranstalter und Radsportverband sich dieser Binsenweisheit der Managementlehre bewusst werden.