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Der ewig junge Große Bruder

1984 diskutierte die Öffentlichkeit noch über Volkszählungen, heute überwachen Geheimdienste unvorstellbare Datenmengen. Orwells Dystopie ist längst ein Klassiker und trotzdem wieder auf den Bestsellerlisten. Denn die Idee dahinter bleibt als Mahnung hochaktuell.

Von Mirko Smiljanic |
    Die Welt in George Orwells Roman "1984" ist übersichtlich strukturiert: Drei Machtblöcke – Ozeanien, Eurasien, Ostasien – stehen sich verfeindet gegenüber. Sie führen dauerhaft Krieg und werden – zumindest Ozeanien – diktatorisch von einer Staatspartei geführt. Die Basis bildet das arbeitende Volk, die "Proles"; über sie wachen die einfachen Mitglieder der Staatspartei, Orwell nennt sie "Äußere Partei", darüber steht eine winzige Elite, die "Innere Partei", die wiederum angeführt wird vom "Großen Bruder". Niemand hat ihn je persönlich gesehen, auch Winston Smith nicht, ein einfaches Parteimitglied, das im "Ministerium für Wahrheit" alte Zeitungsartikel fälscht. Trotzdem wacht der "Große Bruder" immer und überall über sein Volk.

    "Der Flur roch nach Kohlsuppe und Flickenteppichen. An einem Ende hatte man ein Farbplakat an die Wand gepinnt, das für drinnen eigentlich zu groß war. Es zeigte nichts weiter als ein riesiges, über einen Meter breites Gesicht: das Gesicht eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes mit wuchtigem schwarzem Schnurrbart und kernig-ansprechenden Zügen. Es war eines jener Bilder, die einem mit dem Blick überallhin zu folgen schienen. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, lautet die Textzeile darunter."

    "Big Brother is watching you”! Was für ein dichter Satz! Was für eine Metapher! Die äußere Ähnlichkeit mit Josef Stalin ist kein Zufall, George Orwell – mit bürgerlichem Namen hieß er Eric Arthur Blair – war zutiefst enttäuscht von den Gräueln der Stalinzeit. "1984" hat unabhängig von seinem Inhalt ein Eigenleben entwickelt. Es ist zur wichtigsten Sozialutopie der Moderne geworden, weil es die zentrale Gefahr der aufkommenden elektronischen Medien behandelt: die Überwachung des Einzelnen durch den Staat.

    Orwell schrieb das Buch in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts – das Internet kannte er nicht – wirklich fremd sind uns seine technischen Vorstellungen zur totalen Überwachung aber keineswegs.

    "Der Teleschirm war Sende- und Empfangsgerät zugleich. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein gedämpftes Flüstern hinausging, würde registriert werden; außerdem konnte er, solange er in dem von der Metallplatte kontrollierten Sichtfeld blieb, ebenso gut gesehen wie gehört werden. Wie oft und nach welchem System sich die Gedankenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar möglich, dass sie ständig alle beobachtete."

    Weitaus perfider sind vor allem in ländlichen Regionen angebrachte Mikrofone, die jedes gesprochene Wort in eine Zentrale weiterleiten. Die permanenten Lauschangriffe erzeugen Angst und Schrecken, weil niemand weiß, wo die Mikrofone installiert sind. Fühlen sich so heute Europaabgeordnete, deren Büros möglicherweise vom US-Geheimdienst NSA verwanzt wurden?

    Trotz aller Vorsicht, Winston Smith begeht Fehler: Er verliebt sich in Julia, eine junge Frau, die in der "Jugendliga gegen Sexualität" arbeitet; und er lernt O’Brien kennen, angeblich ein Mitglied der Untergrundbewegung "Die Bruderschaft", die sich dem Kampf gegen das Regime verschreiben hat. O’Brien möchte wissen, wie weit Smith im Kampf gegen den "Großen Bruder" gehen würde. Er verhört ihn.

    "Sind Sie bereit, Ihr Leben zu opfern?
    Ja.
    Sind Sie bereit, Morde zu begehen?
    Ja.
    Ihr Land an fremde Mächte zu verraten?
    Ja.
    Sind Sie bereit, zu betrügen, zu fälschen, zu erpressen, Drogen in Umlauf zu bringen, zur Prostitution zu animieren, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten – kurz: alles zu tun, was zur Demoralisierung beiträgt und die Macht der Partei schwächt?
    Ja."


    Leider ist Winston Smith in eine Falle getappt: O’Brien entpuppt sich als fanatisches Mitglied der "Inneren Partei". Smith wird verhaftet, im "Ministerium für Liebe" gefoltert, er verrät Julia, indem er sie statt seiner mit Ratten traktieren lässt, schließlich wird er "umerzogen". "Lernen, verstehen und akzeptieren" sind die dafür notwendigen Schritte. Unter der Folter und angewidert von sich selbst, bricht sein Wille zusammen.

    "Er blickte zu dem gewaltigen Gesicht empor. Vierzig Jahre hatte er gebraucht, um herauszufinden, was für ein Lächeln sich unter dem Schnurrbart verbarg. O grausames, unnötiges Missverständnis! O störrische, eigensinnige Verbannung von der liebenden Brust. Aber jetzt war es gut, es war alles in Ordnung, der Kampf war zu Ende. Er hatte sich selbst überwunden. Er liebte den Großen Bruder."

    Hält der Roman "1984" einem Vergleich mit den aktuellen Überwachungsskandalen stand? Ja und nein! Nein, weil die Orwellschen Horrorvisionen dramaturgisch sinnvolle Übertreibungen sind, die – glücklicherweise – auch mit PRISM und Tempora nicht erreicht werden. Einem Vergleich hält das Buch aber stand, wenn es als Projektionsfläche verstanden wird, als mahnendes Beispiel, wie es kommen könnte, würde der Staat grenzenlose Machtbefugnisse haben und diese missbrauchen. Natürlich horchen Geheimdienste ihre Bürger aus; aber man kann auch dagegen kämpfen. Das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel hat in den 80er-Jahren die Volkszählung gestoppt.

    "1984" sollte Pflichtlektüre sein für alle, denen 2013 unheimlich wird vor der Allmacht internationaler Geheimdienste. Es ist ein fantastisches Buch, das so ganz nebenbei das Bewusstsein für den Datenschutz sensibilisiert.

    George Orwell: "1984".
    Z. B. Ullstein Taschenbuch-Verlag, übersetzt von Michael Walter, 384 Seiten, 9,95 Euro
    ISBN: 978-3-548- 23410-6