"Die Geschichte hörte ich als Kind für lange Zeit nur als Märchen vor dem Einschlafen. Je nach Laune meiner Mutter veränderte sie sich. Das Grundszenario war: Ein Mann wird am Strand von einem Fremden erschossen."
Dass dies auch das Grundszenario einer der berühmtesten Romane der Weltliteratur ist, erfahren Harun, der Erzähler und seine Mutter erst Jahrzehnte später. Und auch: Dass diesem Mann am Strand, dem algerischen Mordopfer, in Albert Camus' "Der Fremde" kein Name vergönnt ist, während der französische Täter Meursault heißt und seine kosmische Unbehaustheit existenzialistisch zelebrieren darf. Es ist ein genialer Kunstgriff, dass der algerische Journalist und Schriftsteller und Journalist Kamel Daoud mit seinem Buch "Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung" diesem Opfer jetzt einen Namen gegeben hat. Und nicht nur das: In dem Monolog seines Bruders Harun bekommt er eine Familie, eine Mutter und eine Geschichte. Und dieser Bruder gleich mit ihm.
"Das ist übrigens der Grund dafür, dass ich gelernt habe, diese Sprache zu sprechen und zu schreiben, um an Stelle eines Toten zu reden, der ihre Sprache nicht sprechen konnte."
Eine Tat, so motiv- und sinnlos
Und so tilgt Kamel Daoud zum einen die Schmach des Opfers, namenlos und geschichtslos zu sein. Zum anderen erzählt er mit der Geschichte des Bruders dann auch eine davon, wie ein Opfer wiederum zum Täter wird. Denn auch dieser Bruder, Harun, hat 20 Jahre nach dem Tod seines Bruders jemanden umgebracht, diesmal einen Franzosen.
Eine Tat, ebenso motiv- und sinnlos, wie die Tat an seinem Bruder bei Camus. Es könnte eine Rache sein, aber eigentlich ist dieser Figur klar, dass Rache nicht zu Gerechtigkeit führt. Eher wurde er durch die Umstände zum Mörder: durch die jahrzehntelange Klage der Mutter und durch den Druck durch seine Umgebung. So schaut Kamel Daoud in seinem Roman zwar auf die Schuld des Kolonialismus, spricht sich aber auch dafür aus, die Verantwortung für das, was passiert, wieder selbst zu übernehmen.
In den Münchner Kammerspielen hat der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani nun versucht, diese differenzierte Haltung in einer äußerst komplexen Geschichte sehr behutsam auf der Bühne zu verdeutlichen.
Dabei erzeugt der Regisseur mit sehr einfachen Mitteln eine sehr poetische Ästhetik: Da ist etwa die ganze Bühne mit Orientteppichen ausgelegt, weil es Szenen in einer Moschee gibt. Dann ziehen Darsteller ganz langsam schwere Säcke über diese Teppiche, aus denen Sand rieselt und die Szene in jenen Strand verwandelt, an dem der Mord bei Camus passiert. Die Sonne, die den Täter, wie er sagt, im Moment seiner Tat so blendet, fährt immer wieder als riesige Scheibe herab. Später dann wird sie zum Mond, schließlich passiert der Mord an dem Franzosen bei Kamel Daoud bei Nacht und wirkt damit wie eine Blaupause für den Camusschen Mord.
Daouds Roman theatralisiert
Und während die iranische Schauspielerin Mahin Sadri als klagende Mutter durch das Stück geistert, behält der Kammerspielschauspieler Walter Hess als alter Harun mit seiner Erzählung die Fäden in der Hand. So hat Koohestani mit der Erfindung von Szenen, Dialogen und Spielorten und mit Schauspielern mit den verschiedensten kulturellen Hintergründen, von iranisch bis deutsch und von bulgarisch bis libanesisch, den als Monolog gehaltenen Roman von Kamel Daoud im wahrsten Sinne des Wortes theatralisiert.
Fast ist es, als schauten wir mit Amir Reza Koohestanis Theaterversion von Kamel Daouds "Der Fall Meursault" der modernen Variante einer Geschichte aus 1001er Nacht zu. Das erinnert auf sehr angenehme Weise daran, dass die Menschen aus den verschiedenen Kulturen einander wieder zuhören sollten und dass sie Verantwortung übernehmen müssen. Jeder für sich.