Es handelt sich um eine Art Steiner-Lesebuch, thematisch und chronologisch weit gespannt. Die englische Ausgabe ist noch umfangreicher als die deutsche und versammelt Essays aus den Jahren 1978 bis 1996. Der Hanser-Band enthält eine Auswahl von elf Stücken. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte der abendländischen Rezeptionshaltungen, dem literarischen Ruhm Shakespeares, der Übersetzungstheorie, Komparatistik, dem Verhältnis von Judentum und Christentum, mit der kulturellen Oberflächlichkeit der amerikanischen Gesellschaft, dem Abendmahl der Evangelien und Platons Symposium - um nur die Gegenstände der gewichtigsten Essays zu nennen.
Gemeinsamer Gestus der Arbeiten ist ein Ernstnehmen des religiösen Analogons kultureller Diskurse, das die Moderne eben säkularisiert hat. Steiner sucht die Formel einer Wiederverzauberung und Resakralisierung intellektueller Bildungsgegenstände. Das macht seine Denkbilder so rührend, ernsthaft und schön, daß man bereit ist, diesem gebildeten und enthusiastischen Denker seine grundlegenden Denkfehler nachzusehen. Der gewichtigste und in gewisser Weise fast peinliche durchzog unübersehbar schon sein Buch "Von realer Gegenwart", die "Real Presences". In der Kurzfassung des vorliegenden Bandes tritt er geradezu schmerzhaft zutage. "Wenn der Nihilismus seine Stimme erhebt", schreibt Steiner, "dann muß man ihm Antwort geben."
Der Nihilismus ist die moderne Erfahrung bedingungsloser Kontingenz. Wir haben seit dem Neunzehnten Jahrhundert schrittweise erfahren müssen, daß wir nicht Herr im eigenen Haus sind. "Moi est un autre" - diese Maxime Rimbauds hat ihre Gültigkeit in metaphysischer Hinsicht ebenso wie in psychologischer längst erwiesen. Das autonome moralische Subjekt ist so vollständig entthront wie die Instanzen des Wachbewußtseins. Der letzte Angriff auf die festen Ordnungen des Sinns und auf die Stellung des Subjekts in der Welt aber wurde vom Dekonstruktivismus geführt. Steiner vollzieht ihn mit der Hellsichtigkeit nach, mit der man seinen Todfeind beobachtet. "Es ist so, als ob das wesentlichste, das ihn identifizierende Attribut des Menschen - logos, das Organon der Sprache - in unseren Mündern zerbrochen sei."
Das wichtigste Manöver des Dekonstruktivismus besteht Steiner zufolge in der Einebnung des ontologischen Unterschieds zwischen Primär- und Sekundärtext. In dieser Einebnung "kommt jene Umkehrung der natürlichen Ordnung der Werte und Interessen zum Ausdruck, die für eine alexandrinische oder byzantinische Phase in der Geschichte der Künste und des Denkens charakteristisch ist." Steiner zitiert den Ausspruch eines berühmten Dekonstruktivisten, es könne möglicherweise interessanter sein, Derridas Schriften über Rousseau als diesen selbst zu lesen und bezeichnet die darin zu Ausdruck kommende Haltung als eine "Perversion der Werte und der rezeptiven Praxis".
Ihm dagegen geht es darum, im perversen Wirbel der Texte und Paratexte einen festen Standpunkt zu gewinnen. Daß er ihn nur theologisch, nur außerhalb der Welt konstruieren kann, beweist schlagender als jedes seiner Argumente, daß zuverlässige Sinneffekte, wie sie die abendländische Tradition begründet haben, in unseren Universen kultureller Rede die provinzielle Ausnahme geworden sind. "Wir müssen lesen als ob" postuliert Steiner, "als ob der Text, den wir vor uns haben, Bedeutung besitze". Steiners "als ob" sucht nach einer Begründung, die der dekonstruktivistischen Befragung entzogen wäre. Diese Begründung ist nur zu gewinnen, indem der primäre, der künstlerisch bedeutende Text als Analogon religiöser Erfahrung befestigt wird. Denn wir lesen ihn, unwillkürlich, "als ob der Text (das Musikstück, das Kunstwerk) die reale Präsenz bedeutungsvollen Seins inkarniere (die Vorstellung gründet im Sakramentalen)".
Steiners Lektüre "als ob" will hinter eine Erkenntnis zurück, die er als alexandrinische oder byzantinische Perversion empfindet. In Wirklichkeit besteht diese Erkenntnis jedoch aus nichts Erstaunlicherem als den altbekannten Paradoxien im Verhältnis zwischen enthusiastischer Poesie und philologischem Wissen. Denn zum "ästhetischen Phänomen wird die überlieferte Poesie, seitdem ihre ursprüngliche Geltung fragwürdig geworden, d.h. seitdem das außerpoetische Wissen des logos imstande ist, seine Fragen an die Poesie zu stellen. Sobald diese Spaltung eingetreten ist, nehmen die ursprünglichen Formen der Poesie, die einst als Produkte göttlicher Inspiration geglaubt worden waren, im Rückblick des Historikers den Charakter von Vorformen der Poesie an. Zu ihnen muß er zurückgehen, um den Prozeß ihrer Entmächtigung zu verfolgen" (Heinz Schlaffer). Steiner dagegen nähert sich dem Ursprung der Kunst und Poesie nicht als Historiker, sondern als Gläubiger. Der moderne Zerfall der Werte und Subjektkontinuitäten veranlaßt ihn zum Rückzug hinter die Sicherungslinien kultureller Säkularisation, dorthin, wo Kultur als das Wort Gottes gegolten hat. Man übertreibt nicht, wenn man Steiner einen kulturellen Fundamentalisten nennt.
Sein Warnen, Mahnen und Strafen freilich verteidigt nichts Gefährlicheres und Böseres als die Geltungsansprüche, Sensibilitäten und Borniertheiten des europäischen Bildungsbürgertums. Der Theoretiker Steiner tritt als Priester auf. Der praktische Kritiker entlarvt sich durch Urteile, die man leider nur als hochfahrend und ahnungslos bezeichnen kann. Was Steiner etwa in seinem Essay "Die Archive von Eden" an kulturkritischen Allgemeinplätzen und Leerformeln über die angebliche Oberflächlichkeit und Sterilität der US-amerikanischen Afterkultur vom Stapel läßt, hätte mein Deutschlehrer in den frühen 60er Jahren auch nicht schöner sagen können.
So erweisen sich Steiners Rückzüge an den kultischen Ursprung der Kunst letzten Endes selber als Poesie. So wenig brauchbar sie als Wahrheitsaussagen über Kunst sind, so unbedingt verzaubern sie uns als Kunstprodukte eigenen Rechts. Man könnte im akademischen Milieu Deutschlands oder Großbritanniens lange suchen nach einer Studie von der suggestiven Kraft etwa des Aufsatzes, in dem Steiner das christliche Abendmahl mit dem Abschied des Sokrates von seinen Schülern vergleicht. Die beiden Traditionen, aus denen das europäische Bewußtsein sich zusammensetzt, treten hier in ihrer tragischen und ironischen Gebrochenheit wie die Figuren eines allegorischen Mysterienspiels vor uns hin. Derlei Bilder und Auftritte finden sich in fast jedem Kapitel von Steiners so wunderbarem wie falschem Buch. Nachdem seine realen Geltungsansprüche obsolet geworden sind, scheint es, nimmt die alteuropäische Bildungsreligion einen würdigen Abschied: als Poesie.