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Der "Great Moon Hoax"
Geburtsstunde der "Fake News"

Geflügelte Menschen, die auf dem Mond leben - mit dieser erfundenen Entdeckung gelang der "New York Sun" vor 185 Jahren ein weltweiter Coup. Die aufwendig illustrierte Lügengeschichte wurde noch monatelang weiterverbreitet.

Von Michael Borgers | 16.09.2020
Außerirdische mit Flügeln und Federn: Illustration aus der Serie, die als "The Great Moon Hoax" in die Geschichte einging
Mit fantasievollen Illustrationen berichtete die "New York Sun" 1835 von Fledermausmenschen, die angeblich auf dem Mond leben. Die Falschmeldung ging daraufhin um die Welt (imago images/KHARBINE-TAPABOR/Collection British Library)
Es ist 1835, Richard Wagner komponiert die "Columbus-Overtüre", ein heroisch anmutendes Stück, das der junge Deutsche dem - aus europäischer Sicht - Entdecker Amerikas, Christopher Columbus, widmet.
In der neuen Welt selbst, in den USA, schlägt wenig später eine andere, astronomische Entdeckung Wellen: Unter dem Titel "Great astronomical discoveries" berichtet die "New York Sun" ihren Leserinnen und Lesern von Leben auf dem Mond. In der Tageszeitung heißt es, der britische Astronom Sir John Herschel habe von Südafrika aus "mit Hilfe eines Teleskops mit gewaltigen Abmessungen und eines völlig neuen Prinzips" eine besondere Spezies beobachtet: Fledermausmenschen.
Engel und Einhörner am Fluss
"Von der Statur her übertrafen sie nicht jene zuletzt beschriebenen, aber sie waren von unendlich größerer persönlicher Schönheit, und sie erschienen in unseren Augen kaum weniger lieblich als die üblichen Darstellungen von Engeln durch die phantasievolleren Malerschulen."
In insgesamt sechs Teilen führt das Blatt die Geschichte in langen Texten aus. Illustrationen zeigen, wie es denn nun zugehen soll auf dem Mond. Zu sehen sind nackte Frauen und Männer, denen gewaltige Flügel aus dem Rücken wachsen. Sie fliegen in der Luft oder stehen friedlich badend in einem Fluss, während sie dabei – nur wenige Meter entfernt am Ufer – von Einhörnern beobachtet werden.
Eine Aktivistin hält bei einer Demonstration für legale Abtreibungen einen Karton in Form eines Frauenkörpers in die Höhe, auf dem steht "Mein Körper, meine Entscheidung". 
Falsche US-Berichte über Abtreibung
Geschichten von Bedrohung, Zwang und düsteren Praktiken – zwei Studien bescheinigen US-Medien ein verzerrtes Bild, wenn es um das Thema Abtreibung geht. Vor allem der Fernsehsender Fox News dominiere die Debatte mit vielen Falschmeldungen.
Die Sensationsgeschichte wird für einige Wochen Thema Nummer eins. Andere Verleger drucken sie nach, zunächst nur in den Vereinigten Staaten, und die "New York Sun" verkündet stolz, die höchste Auflage aller Zeitungen weltweit erreicht zu haben. Ein Erfolg, für den Globalisierungshistoriker Roland Wenzlhuemer diese Erklärung hat:
"Meine These ist, dass dieser Schwindel, funktionieren konnte, weil derjenige, der sich das ausgedacht hat, Richard Adams Locke, aufsetzt mit seiner Geschichte auf Dinge, auf viele Dinge, die durch globale Verflechtungen zwischen Europa, Nordamerika im 19. Jahrhundert durchaus für die Leserschaft in New York bekannt waren. Also man kannte John Herschel, man wusste auch, dass John Herschel gerade auf dem Weg war nach Südafrika war, um da sozusagen den südlichen Sternenhimmel zu untersuchen."
Nach drei Wochen folgte die Enthüllung
Doch die Euphorie endet so abrupt, wie sie gekommen ist: Drei Wochen nach dem ersten Artikel, am 16. September 1835, gibt Locke, der Chefredakteur der Zeitung, bekannt, dass nichts dran ist an einem Leben auf dem Mond. Ein Skandal, ein Schwindel – der damit aber längst nicht vorüber ist, wie Roland Wenzlhuemer erforscht hat. Denn vorerst geht die Monderzählung weiter um die Welt:
"Wir kennen Zeitschriften in Frankreich, England, Deutschland, und so weiter, die diese Geschichte aufnehmen und weiterverbreiten. Immer mit so einem bisschen zwinkernden Auge, weil sich oft die Leute eben selber, also die Journalisten, nicht sicher waren: Naja, was ist das jetzt? Aber die Verbreitung können wir über viele Wochen und Monate nachweisen."
Wichtige Wegmarke der Journalismusgeschichte
Der Fall geht in den USA als "The Great Moon Hoax" in die Geschichtsbücher ein, wird bis heute als "wichtige Wegmarke der Journalismus- und Kulturgeschichte" gewertet, so wie hier im in den USA populären Podcast "Stuff you missed in history class": "It’s an important landmark in journalism history as well as cultural history."
Der "Great Moon Hoax" hat die Geschichte der Massenmedien entscheidend beeinflusst, auch weil er erklärt, wie leicht Massen zu beeinflussen sind, so das allgemeine Urteil. Zu Print und Radio sind mit TV und Internet weitere Medien hinzugekommen. Noch mehr Möglichkeiten, Menschen zu manipulieren, ob mit Staatspropaganda oder bewussten und gezielten Falschinformationen, um Quote oder Auflage zu steigern.
Absicht dahinter ist bis heute unbekannt
Auch in Deutschland gibt es immer wieder Fälle, die das Vertrauen in Medien erschüttern. 2018 wird bekannt, dass der "Spiegel"-Autor Claas Relotius systematisch Teile seiner Reportagen frei erfunden hat. Der deutsche Mondschwindel? Ein Vergleich, der nur bedingt funktioniert, findet Roland Wenzlhuemer. Denn die New Yorker Zeitungsmacher wissen damals genau, dass sie über kurz oder lang mit ihrer Geschichte auffliegen werden:
"Es ging am Ende nicht darum, jemanden auf Dauer hinters Licht zu führen, sondern eigentlich weiß man im engeren Sinne noch immer nicht, worum es ging." Der Chefredakteur der "New York Sun" erklärt erst Jahre später, es habe sich um Satire gehandelt.
Wenzlhuemer sagt dazu: "Wenn Sie mich fragen: Naja, es ging wohl mehr um die Verkaufszahlen und darum die zu puschen." Und hier sei dann doch eine gewisse Analogie zur heutigen Zeit zu erkennen.