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Der große Tag

Jungen, das weiß die Erziehungswissenschaft seit langem, sind nicht nur äußerlich anders als Mädchen. Im Säuglingsalter machen sie mehr Probleme, sind anfälliger für Krankheiten und hängen länger an Mutters Rockzipfeln als ihre Schwestern. Irgendwann vollzieht sich ein dramatischer Schnitt, und der Vater - das künftige Rollenvorbild - tritt ins Leben des kleinen Mannes. Sollte er jedenfalls, wenn der Junge nicht das Pech hat, in einem jener väterverweigernden Haushalte aufzuwachsen, wie sie seit zwanzig Jahren immer mehr in Mode gekommen sind. Die daraus entsprießenden Muttersöhne leiden unter einem Hang zum diktatorischen Machismo und bringen selten Gutes über die Welt. So jedenfalls sah es Volker Elis Pilgrim vor zwei Dekaden und fand erhebliche Resonanz für seine Faschismustheorie aus dem Geist der Familienanalyse.

Florian Felix Weyh |
    Drehen wir den Spieß einmal um. Eine diktarorische Machismo-Gesellschaft im Herzen des zivilisierten Europas - die zähste, die den Zweiten Weltkrieg überlebte -; an ihrer Spitze der "Caudillo", ein greiser rechtsextremer General, sehr nahe am faschistischen Modell angesiedelt, nur durch die enge Verbindung zur katholischen Kirche nicht ganz so inhuman wie die anderen Regime seiner Zeit: Spanien in den fünfziger und sechziger Jahren. Von Muttersöhnen allerdings keine Spur, nicht im autobiographischen Roman "Der große Tag" von Ferran Torrent. Im Gegenteil: eine reine Männerfamilie wird uns da präsentiert, eine Onkel-Neffen-Dynastie, wie man sie eigentlich nur aus Entenhausen kennt. Ich-Erzähler Ferran und sein älterer Bruder Pepe können sich über einen Mangel an Rollenvorbildern kaum beklagen. Nach dem überraschenden Tod ihrer Mutter landen sie im Haus des Großvaters, der - ebenfalls frauenlos - seine zwei erwachsenen Söhne beherbergt, Onkel Tomás und Onkel Ramon. Weil das aber nicht genügt, nimmt der Clan trotz beengter Verhältnisse einen von seiner Frau verlassenen Hausfreund auf, und irgendwann stellt sich heraus, daß Ramon jeden Mittwoch ein Stelldichein mit einem Mann hat - nicht, wie alle vermuten, mit einer verheirateten Frau. In dieser Welt - die Neffen besuchen ein Jesuitenkolleg (reiner Männerverein!) -, werden Frauen zu einem gewaltigen und gewaltig begehrten Mysterium. Angestachelt von Onkel Tomás, einem zwielichtigen Vertreter und Spirituosenschmuggler, lernen sie von der Onanie bis zur Entjungferung alles, was ein Mann wissen muß, um auf dieser Welt zu bestehen. Ja der schmächtige und deswegen wenig erfolgreiche Ferran lernt sogar Boxen, was einerseits sein Selbstvertrauen stärkt, ihm aber andererseits eine kräftige Abreibung einbringt.

    Obwohl mit der personalen Identität von Autor und Held das autobiographische Moment ins Auge springt, kann man getrost von einer literarischen Konstruktion ausgehen. Im Roman spiegelt sich die Franco-Ära wie durch einen Polarisationsfilter wider, weil sich der Alternativentwurf dieses Haushalts allen Schemen von Macht und Kontrolle entzieht, aber dennoch ein Männermodell bleibt. Als ausgewiesener Frauenheld und Gesetzesbrecher lebt Onkel Tom das Modell Filou, während der homosexuelle Ramon außerhalb aller Rollenmuster autoritärer Gesellschaften steht. Genau dies macht vermutlich den heimischen Erfolg des Buches aus, den man hierzulande kaum nachvollziehen kann. Denn "Der Große Tag" ist ein inhomogenes Stückwerk, ein lose zusammengeheftetes Erinnerungspuzzle ohne Adhäsionskräfte. Mal fließt der - oft holpernde - Text träge dahin, dann wieder springt er über riesige Zeiträume hinweg. Über weite Strecken hat man das Gefühl, es handle sich atmosphärisch und sprachlich um ein Genrebild aus dem späten 19. Jahrhundert, außerhalb der konstruktiven Ebene ist der Franco-Faschismus nämlich vollkommen abwesend. Solche Rechtfertigungsliteratur - da hat es etwas gegeben, aber man war daran nicht beteiligt und kennt eigentlich auch niemanden, der daran beteiligt gewesen sein soll - prägte in Deutschland die fünfziger Jahre, und es ist seltsam, daß fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende der Francodiktatur noch derart harmlose Plaudereien Resonanz finden. Vielleicht eines der wenigen belletristischen Werke, die von Männern mehr gelesen werden als von Frauen. Die nämlich kommen nur als Prostituierte und Ehebrecherinnen vor - kein sonderlich attraktives Lektüreversprechen.