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Der kapitalistische Übermensch

Das Stück von Dennis Kelly setzt gleichzeitig hellste Schlaglichter auf die Verfasstheit gerade unserer Gesellschaft, macht das Privateste politisch. Im Mittelpunkt steht Gorge, der sich im Verlauf seines Lebens zum unmoralischen Übermenschen wandelt.

Von Karin Fischer | 13.05.2012
    Die ersten 35 Minuten gehören einem einzigen großartigen Schauspieler, Torben Kessler, der das Leben des Protagonisten nacherzählt, von der Zeugung bis zu jenem Moment mit Ende 20, in dem Gorge noch mal neu geboren, zu seinem zweiten Leben erweckt wird. Vor diesem Moment hat er sich immer loyal und verantwortungsbewusst verhalten, von sich abgesehen und für das offiziell Gute, Richtige entschieden: für die Loyalität zum gemobbten Schulfreund, für eine von ihm geschwängerte Frau. Dieses Moralempfinden hat ihm wenig Gutes und eine langweilige Ehe eingebracht. Und seine soziale Stellung im oberen Drittel der unteren Hälfte zementiert. Eine Frau, die die Firma seines Chefs zerschlägt, dreht ihn um:

    "Seien wir romantisch. Nur ein paar wenige von uns kennen die wirkliche Natur des Lebens, und sind bereit, alles dafür zu tun."

    Mit dieser Figur dreht Dennis Kelly seine eigene Philosophie ins exakte Gegenteil. Gerade noch hat er per Videokonferenz einen Vortrag beim Berliner Theatertreffen-Stückemarkt gehalten, in dem er den jungen Schreibern die unbedingte Suche nach "Wahrheit" empfiehlt mit dem Vorschlag, sich Folgendes vorzustellen: "Wenn das hier das Letzte wäre, wenn mein Leben beendet wäre in dem Moment, in dem ich das letzte Wort schreibe – was würde ich dann sagen?"

    Kelly steht für ein solches Theater der Dringlichkeit wie kein anderer zeitgenössischer Autor, seine Stücke "Osama der Held", "Nach dem Ende" oder "Liebe und Geld" sind tiefe Blicke in die Abgründe menschlicher Seelen. Gerade das Privateste ist bei Kelly politisch, ob er nun den verborgenen Terroristen in seinen Figuren findet oder nur den Konsum-Zombie.

    Auch "Die Opferung des Gorge Mastromas" ist so ein Stück. Er nimmt das Signum der Zeit und bricht es auf private Geschichten herunter. Nur der rücksichtslose Egoist hat heutzutage Erfolg? Skrupellosigkeit erhöht die Gewinnmargen? Die Ausblendung von Mitleid ist "alternativlos"? Genau: Gorge Mastromas wird ein Gewinner, er wird zum amoralischen Übermenschen, der in kurzer Zeit nicht nur zu den Mächtigsten und Reichsten dieser Welt gehört, sondern auch ohne Skrupel seinen Bruder ermordet.

    "Güte – oder Feigheit?" lautet die immer wieder gestellte Kernfrage des Stücks. Die kurzen Szenen mit maximal drei Schauspielern hinter einer leicht spiegelnden und zugleich durchsichtigen Wand wechseln mit längeren Erzählpassagen. Trotz dieses eher undramatischen und unspektakulären Settings ist das Stück spannend wie ein Krimi. Und versehen mit einer Psychologie, die einem geschliffenen Diamanten gleicht: hart und glitzernd. Selbst die traurigen Höhepunkte, eine Missbrauchsgeschichte und die Geschichte einer Lebenslüge, werden vom Erzähler in fröhlich-neugierigem bis neutral-distanzierten Ton gehalten, facettenreich und perfekt gespielt von Torben Kessler:

    "Wollen Sie das Schlimmste hören? Gorge wusste es. Gorge wusste alles, und er hatte über alles gelogen. Wobei man zu seiner Ehrenrettung sagen musste – aber vielleicht sollten wir das nicht tun – dass er wirklich in Louisa verliebt war."

    Das Wort "Opferung" ist dabei mehrfach lesbar: Gorge Mastromas, den wir am Ende als einsamen, verbitterten Mann in einer 280 Zimmer-Villa sehen, hat alle Moral der Ideologie des Egoismus geopfert. Dann aber taucht eine neue Generation auf, die erneut vor die Wahl gestellt ist, zum Wohl der Menschheit zu handeln (und zu töten?) oder aus Egoismus.

    Mit einem offenen Schluss beleuchtet Dennis Kelly das moralische Dilemma an sich (welche Entscheidung kostet welches Opfer?) und setzt gleichzeitig hellste Schlaglichter auf die Verfasstheit gerade unserer Gesellschaft. Ein kleines aber tolles, starkes Stück. Und ein Frankfurter Ensemble, das aus ihm keine well-made-play-Schmiere macht, sondern ein Ereignis. Bravo.