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Der kranke Freud

Ich bin nämlich gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beobachter, kein Experimentator, kein Denker. Ich bin nichts als ein Conquistadorentemperament, ein Abenteurer.

Hans-Jürgen Heinrichs | 25.04.2001
    Dieses Bekenntnis Sigmund Freuds von 1900, also unmittelbar nach Beendigung seiner Traumdeutung, offenbart die Fragilität und Brüchigkeit seiner Selbstinszenierung und Selbststilisierung als Genius und als Begründer einer ganz und gar neuartigen objektiven Wissenschaft. Ein derart auf Abgrenzung des Eigenen und Unterwerfung des Anderen ausgerichtetes, geradezu übermenschliches Lebenswerk wie dasjenige Sigmund Freuds, ist beständig in Gefahr, statt des Helden eine jämmerliche Gestalt abzugeben, sobald das innere Chaos, die tiefen Zweifel an sich selbst, die Gefühle der Machtlosigkeit und Kränklichkeit die Oberhand gewinnen. Ganz im Sinne der versuchten Aufspaltung von Leben und Werk, von persönlich erfahrenem körperlichen Leid und einer sich davon unabhängig darstellenden, souveränen wissenschaftlichen Analyse hat er und haben seine großen Biographen Ernest Jones, Max Schur und später Peter Gay seine Krebserkrankung nicht psychoanalytisch gedeutet.

    Ursprünglich von der Idee geleitet, für die heutigen Krebskranken psychoanalytische Aufklärung in Freuds Selbstdarstellung und den Freud-Biographien zu finden, muß der Psychologe Jürg Kollbrunner feststellen, dass die Forschungsrichtung umgekehrt werden sollte:

    Es war plötzlich nicht mehr klar, ob das Studium der Aussagen über Freuds Verständnis seiner Krebserkrankung Hinweise für unser Verstehen unserer heutigen Krebskranken liefern sollte (wie es beabsichtigt war) oder ob unsere Krebskranken eher Hinweise für das Verständnis von Freuds Krebserkrankung und darüber hinaus vielleicht sogar für die Veränderung des Verstehens einiger Aspekte der Psychoanalyse bieten könnten.

    Kollbrunner hat aus der Sicht eines mit den körperlichen, den seelischen und den psychosozialen Problemen von Krebskranken vertrauten Therapeuten eine breit angelegte, mit bekannten und eher entlegenen biographischen Daten bespickte Studie verfasst, die den Finger auf die sträflichen Vernachlässigungen in den Freud-Biographien legt und sich zugleich einreiht in eine sich seit einigen Jahrzehnten verstärkende Richtung der Entmystifizierung Freuds. Denn Forscher wie zum Beispiel Bry, Riefkin, Kiell und Ruhs haben dargelegt, das Freuds Frühwerk und vor allem die Traumdeutung eine weitaus breitere und positivere Zustimmung errühren, als von Freud behauptet, und das sein Gefühl, von einer feindseligen Umgebung zurückgewiesen und verfolgt zu werden, Ausdruck seiner aggressiven Regungen war, die er auf andere projizierte.

    Einmal, im Augenblick großen Leids, kann er diese Zusammenhänge auch selbst erkennen und sieht seine Krebserkrankung mit unbewusstem Hass verbunden. 1933, drei Jahre nach dem Tod seiner Mutter und genau an ihrem Geburtstag, schreibt er in einem Brief an Arnold Zweig:

    Ich füge mich der Natur, die mich altem lässt, in Eile jetzt, in den letzten drei Monaten mehr als in den letzten drei Jahren. Alles herum ist trüb und zum Ersticken dumpf. Die Wut speichert sich auf und zehrt am Gehäuse. Wenn man etwas Befreiendes tun könnte.

    Jürg Kollbrunner verdichtet das Bild eines kranken, leidenden und früh gealterten Mannes, der die Psychoanalyse nicht als Seelenheilkunde auf sich selbst anwenden konnte, der weitgehend hilflos seinen eigenen Krankheiten ausgeliefert war: ständige Migräne, chronische Darmstörungen, Depressionen, Phobien, spektakuläre Ohnmachtsanfälle, Herzbeschwerden, Todesängste, Mundhöhlenkarzinom... 1925/27 spricht er von einem "innerlichen Frieren" und einer "Kruste von Unempfindlichkeit", die ihn langsam umziehe und ihm den Beginn anzeige, "anorganisch zu werden"; seine "Herzaffektion" eröffne ihm Aussichten auf einen "nicht zu verzögerten und nicht zu kläglichen Abschluß". Dann im Mai 1929:

    Das Leben ist mir keine Freude - ich bin in mancherlei Hinsicht nicht mehr als ein Wrack -, aber ... ich bin im Besitz meiner geistigen Kräfte.

    Die zahlreichen Operationen aber, die folgen, zermürben ihn immer mehr: "Die Veränderungen durch den Heilungsprozess sind bis heute nicht überwunden ... ich habe seither keinen erträglichen Tag mehr gehabt ... diesmal habe ich mir ein Anrecht auf einen plötzlichen Herztod erworben, keine üble Chance ... Man gibt mir Radium ins Maul, und ich reagiere auf das Teufelszeug mit den greulichsten Beschwerden." Und schließlich in den zwei Jahren vor seinem Tod 1938:

    ... ich sehe dem Übergang ins Nichtsein mit einer Art Sehnsucht entgegen ... Das Radium hat wieder etwas aufzufressen begonnen ... meine Welt ist ... eine kleine Insel Schmerz schwimmend auf einem Ozean von Indifferenz.

    Über seinem Backenknochen löste sich die Haut auf, es entstand ein stinkendes Loch, das die Fliegen anzog und seinen geliebten Hund vertrieb. Sigmund Freuds Tabuisierung seines Privatlebens, seine lebenslange Abneigung gegen Biographen, die zu viel aufdecken könnten, seine Zurückweisung einer zu engen Bezugnahme zwischen Leben und Werk und seine großen Vemichtungsaktionen persönlicher Dokumente sind die maßgeblichen Eckpunkte seines Desinteresses an einer eigenen oder von anderen unternommenen Psychoanalyse seiner Krebserkrankung. Er versteht sich selbst nicht als ein Patient, der durch eine Analyse den lebensgeschichtlichen Ursachen seiner Krankheit auf die Spur kommen könnte. Das er sich weitgehend einer introspektiven Erforschung verschloss und seine engsten Freunde und Kollegen auch nur sehr sporadisch über seinen katastrophalen Zustand informierte, lag nicht an mangelnder Kenntnis der schon damals existenten psychosomatisch orientierten Krebstherapie, sondern an einer massiven Abwehr und dem Wunsch, das Krankheit, unabhängig von seelischen Faktoren, repariert werden könne; begründet auch in dem "Vorurteil, das Krankheit überflüssig ist", wie er selbst einmal sagt.

    Freuds Furcht vor der Auseinandersetzung mit bestimmten Kindheitserfahrungen und vor der Anwendung psychosomatischer Erkenntnisse auf sich selbst führten ihn zu teils ironischen, zynischen und teils distanzierenden, anthropomorphisierenden Kennzeichnungen des Krebs als "mein liebes altes Carzinom", "meine lieben Neugebilde" und als einer "partiellen Herausverleibung". Einer solchen Darstellung schlössen sich die Psychoanalytiker entweder in bedingungsloser Treue der "unberührbaren Ikone" Freud gegenüber an, malten das Bild eines "niemals ernstlich kranken Mannes" und überboten sich in Verblendung und Verzerrung oder aber steigerten sich in eine negative Idealisierung hinein, in der Freud nur als verabscheuenswürdiger Wüstling und Psychopath erschien.

    Leider ist Kollbrunners gründliche Studie wie ein medizinisches Lehrbuch aufgebaut, in unzählige Kapitel und Unterkapitel gegliedert, so, als handle es sich um ein Forschungsprojekt "Krebs und Psyche". Dazu im Widerspruch steht ein zuweilen rührseliger Ton: Freud, selbst "unbefriedet", habe Spuren hinterlassen,

    die heute - und hoffentlich auch noch in weiter Zukunft -äußerst hilfreiche Wegweiser zu erfülltem Leben sein können. Es wäre schön, wenn die Erkenntnisse, deren Grundlagen Freud geschaffen hat ..., möglichst vielen Menschen dienen könnten, mit weniger verbissenem Kampf zu einem bißchen mehr Glück zu finden, als es Freud vergönnt war.

    Am Ende der Lektüre von Kollbrunners Buch muss man sich erneut fragen, wieviel misslungenes Leben eigentlich notwendig ist, um ein zukunftsweisendes Denken zur Entfaltung zu bringen; welches Ausmaß an Abspaltung und Verdrängung ein Forscher zu erbringen hat, der dem Zwang unterliegt, seine radikal neuen Gedanken als objektive Wissenschaft auszugeben und sich dabei letztlich doch bloß als Abenteurer oder verhinderten Literaten versteht; wie groß die Gefühle des Verkanntwerdens und der Feindseligkeit und das Maß an Selbstverkennung eigener Aggressionen sein müssen, um eine psychoanalytische Denkrichtung in einem der Analyse gegenüber zutiefst skeptischen Umfeld (in Österreich) durchzusetzen.

    Kollbrunners Arbeit - die nach einer einführenden Darlegung des eigenen Forschungsinteresses vor allem chronologisch in der Rekonstruktion von Freuds Krankheitsgeschichte vorgeht und mit einem Ausblick auf mögliche Kooperationen zwischen Krebsheilkunde, Psychoonkologie und Psychoanalyse endet -liefert für solche Überlegungen eine gute Grundlage, verbleibt aber zuweilen noch zu sehr in einer biographisch orientierten Geschichtsschreibung einerseits und einer allgemeinen psychosomatischen Betrachtung andererseits verhaftet. Als Korrektur der von Freud und seinen Biographen vorgenommenen Ausblendungen ist sie fortan unersetzlich. Die lebensgeschichtlichen und symbolischen Bedeutungen des ihn "auffressenden" Geschwürs (oder "Neoplasmas", wie Freud, sich distanzierend, sagte) sind nun Teil der offiziellen Geschichtsschreibung der Psychoanalyse. Freuds epochales Werk selbst wird dadurch nicht kleiner.