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Der Künstler aus Drohobytsch

Der Übersetzerin Doreen Daume ist zu verdanken, dass die Werke des polnisch-jüdischen Avantgardisten Bruno Schulz, eines der bedeutendsten europäischen Erzähler des 20. Jahrhunderts, in einer neuen Werkausgabe des Carl Hanser Verlags erscheinen. "Zimtläden" ist der erste Band überschrieben.

Von Martin Sander | 19.03.2008
    "Als ich das erste Mal die "Zimtläden" von Bruno Schulz gelesen hab und in den Händen hielt, da hab ich es einfach niemals mehr ins Regal gestellt. Ich wollt es immer in meiner Nähe haben, und ich wollte eintauchen können, wann immer ich will."

    Die in Wien lebende Übersetzerin und Musiklehrerin Doreen Daume hatte die Initiative. Ihrer Überzeugungskraft ist es zu verdanken, dass die Werke des polnisch-jüdischen Avantgardisten Bruno Schulz, eines der bedeutendsten europäischen Erzähler des 20. Jahrhunderts, in einer neuen Werkausgabe des Carl Hanser Verlags erscheinen.

    "Ich hab das Gefühl gehabt, also ich kann das immer nur in ganz kleinen Dosen zu mir nehmen, irgendwas ist da, vielleicht liegt das an der Sprache. Ich hatte mich damals noch gar nicht so sehr mit dem Thema Übersetzung beschäftigt. Aber das kam dann langsam, und irgendwann hab ich rumgekritzelt in dem Buch und Stellen markiert, wo ich dann einfach beim Lesen stecken geblieben bin."
    Mit den "Zimtläden" liegt nun Band eins der neuen Bruno-Schulz-Werkausgabe vor - in der Übertragung von Doreen Daume. Damit gibt es erstmals eine Alternative zu der bereits vor fast einem halben Jahrhundert angefertigten Übersetzung von Josef Hahn. Innerhalb der eher exklusiven Gemeinde deutschsprachiger Bruno-Schulz-Freunde könnte sich die Frage erheben: Hat sich der Aufwand gelohnt? Die Antwort lautet zweifelfrei: ja. Denn im Ergebnis dürfte es dieser Aufwand einem weitaus größeren Publikum ermöglichen, das einzigartige Erzählwerk von Bruno Schulz besser, um nicht zu sagen angemessen zu verstehen.

    Josef Hahn gilt als verdienter Übersetzer - vor allem russischer Literatur. Die zweifelsfrei experimentelle, nicht selten ins Absurde mündende Wortkunst des Bruno Schulz hat er allerdings auch dort ins Aberwitzige gesteigert, wo eine solche Absicht des Autors keineswegs vorlag. So erklärte Hahn das von Bruno Schulz gern beschworene "Fleisch" der Sommerfrüchte irreführend zu "Matsch". Die "manekiny", zentrale Objekte der Schulz'schen Weltphilosophie, hießen bei Hahn konsequent Mannequins. Dabei handelt es sich nicht um Models, sondern um Schneiderpuppen. Und die Bärte, die Josef Hahn den Kakerlaken andichtet, von denen es in den "Zimtläden" wimmelt, sind auf Deutsch nichts anderes als die Fühler dieser Kreaturen. Vor allem aber wurde der deutsche Leser immer wieder von Hahns Satzarchitektur aus der Bahn geworfen, was nicht unbedingt mit den Schulz'schen Erzählflüssen und Gedankenströmen im Original zu tun hatte.

    Der Neuübersetzung von Doreen Daume gebührt das Verdienst, solche Verständnishürden entfernt und den Text, wo nötig, enträtselt zu haben. Die phantastische Welt der Kindheit, wie sie Bruno Schulz in den "Zimtläden" entwirft, erscheint so nach wie vor in ihrem skurrilen Glanz, wobei zugleich die Konturen ihres oft alltäglichen Hintergrunds deutlich werden - etwa dort, wo der Ich-Erzähler den spätsommerlich überwucherten Garten seines Elternhauses durchstreift und vor dem Abfallhaufen am Zaun verharrt. Dort steht das Bett von Tłuja, einer stadtbekannten Wahnsinnigen.

    Tłuja sitzt zusammengekauert inmitten von gelbem Bettzeug und Lumpen. Von ihrem großen Kopf steht das schwarze Haar in Büscheln ab. Ihr Gesicht läßt sich zusammenziehen wie der Balg einer Ziehharmonika. Alle Augenblicke legt eine weinerliche Grimasse diese Ziehharmonika in tausend Querfalten, und das Erstaunen zieht sie wieder auseinander, glättet die Falten, enthüllt die Schlitze der winzigen Augen und das feuchte Zahnfleisch mit den gelben Zähnen unter der rüsselartigen, fleischigen Lippe. Stunden voller Hitze und Langeweile vergehen, in denen Tłuja halblaut vor sich hin brabbelt, einnickt, leise jammert und grunzt. In dichten Schwärmen belagern Fliegen die Reglose. Doch plötzlich gerät der ganze Haufen schmutziger Lappen, Lumpen und Fetzen in Bewegung, als hätte ihn das Rascheln darin ausgebrüteter Ratten belebt. Die halbnackte und dunkle Irre richtet sich langsam auf und steht da, wie eine heidnische Gottheit auf kurzen Kinderbeinen.
    In den "Zimtläden" wird die Wahnsinnige aus der Nachbarschaft zur heidnischen Göttin. Gassenjungen, die mit Münzen werfen, verwandeln sich in Wahrsager und Kaufleute in Propheten. Die "Zimtläden", dieser 1934 erstmals im polnischen Original publizierte Zyklus von fünfzehn Erzählungen, entstanden aus der Korrespondenz mit einer engen Freundin des Autors, mythologisiert die eigene Kindheit.

    Bruno Schulz kam 1892 als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers im ostgalizischen Drohobytsch zur Welt. Die kleine Industriestadt lag damals an der östlichen Peripherie der Habsburger Monarchie und bildete einen Schmelztiegel der Sprachen und Kulturen. In der Familie Schulz wurde vor allem Polnisch gesprochen, aber auch Deutsch. Jiddisch, die Sprache der Vorfahren, benutzte man nicht. Das Verhältnis zur jüdischen Tradition war alles andere als eng. Gleichwohl sind Bezüge zur jüdischen wie auch zur christlichen Religion, biblische Motive und Anspielungen in den Erzählungen von Bruno Schulz unverkennbar. Viele Schulz-Forscher sehen darin sogar den Schlüssel zum Verständnis des Werks.

    Und als die Menge die Festung im Sturm eroberte und unter Lärm und Tumult in den Laden einmarschierte, schwang sich mein Vater mit einem Satz auf die Tuchregale und stieß, hoch über der Menge, mit voller Kraft in eine riesige Horn-Posaune und blies Alarm. Doch das Gewölbe füllte sich nicht mit dem Rauschen zu Hilfe eilender Engel, statt dessen antwortete auf jeden Jammerlaut der Trompete der riesige, lachende Chor der Menge.

    "Jakub soll handeln! Jakub, verkaufen!" riefen alle und der ständig wiederholte Ruf, im Chor rhythmisiert, ging langsam in die Melodie eines aus allen Kehlen gesungenen Refrains über. Da gab sich mein Vater geschlagen, er sprang von seinem erhöhten Sims herab und stürmte mit einem Aufschrei zu den Tuch-Barrikaden. Die Ballen flogen durch die Luft und wickelten sich flatternd zu riesigen Bannern auf, von allen Seiten entluden die Regale ihre explodierenden Draperien, Wasserfälle aus Tuch, wie unter dem Schlag von Moses' Stab.

    Alles dominiert die Figur des Vaters. Im steten Rollentausch, in der dauernden Metamorphose hält er den Zyklus der "Zimtläden" zusammen. Der Tuchhändler erscheint mal als biblischer Weiser, mal als zorniger Tribun. Sein Geist wird sogar in einem ausgestopften Kondor lebendig, während der dahinsiechende Körper irgendwann elend von der Bildfläche verschwindet. Im wirklichen Leben starb der Vater 1915, Bruno Schulz war dreiundzwanzig Jahre alt und ohne Beruf. Der Erste Weltkrieg hatte eine Schneise der Zerstörung in Ostgalizien hinterlassen und auch das Schulz'sche Elternhaus am Marktplatz von Drohobytsch nicht verschont. Die Familie geriet in existentielle Nöte, gleichzeitig brach die Habsburger Monarchie zusammen. All das markierte für Bruno Schulz den tragischen Ausklang jener Kindheit und Jugend, die er viele Jahre später in seinen Erzählungen wieder aufscheinen lässt.

    Der menschliche Geist ist unermüdlich, wenn es darum geht, das Leben durch Mythen zu glossieren, die Wirklichkeit mit Sinn zu versehen.

    Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Drohobytsch der neu gegründeten polnischen Republik eingegliedert. Schulz erhielt eine Anstellung als Kunstlehrer am Gymnasium. Bevor er als Erzähler an die Öffentlichkeit trat, hatte er sich als bildender Künstler einen Namen gemacht. Seine Zeichnungen, die in phantastischer Manier, nicht selten als Karikatur, die alte, untergegangene Welt seiner Kindheit einfingen, waren wie seine Texte von Motiven des Masochismus durchdrungen.

    In den späten dreißiger Jahren fand Schulz Aufnahme in die damalige literarische Elite Polens. Es war ein kurzer Augenblick der Anerkennung. 1939 fiel Drohobytsch - im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts - an die Sowjetunion. Schulz betätigte sich mehr oder minder freiwillig als Maler von Stalinbildern und versuchte erfolglos Erzählungen in der kommunistischen Literaturpresse zu lancieren. "Wir brauchen hier keine Prousts", hieß es. 1941 kamen die Deutschen nach Drohobytsch. Sie errichteten ein Ghetto und mordeten die jüdische Bevölkerung dahin. Bruno Schulz erfuhr Protektion durch den Drohobytscher Gestapo-Chef Felix Landau, der ihn als Haus- und Kunstsklaven beschäftigte. Dennoch gab es auch für Schulz keine Rettung. Im November 1942 wurde er von einem mit Landau verfeindeten SS-Mann auf offener Straße erschossen.

    In demselben Jahr - 1942 - wandte sich der junge, 1924 geborene Jerzy Ficowski, später selbst ein bekannter polnischer Schriftsteller, an Bruno Schulz.

    Durch Zufall kam ich an Schulz' Adresse und schrieb ihm naiv und mit der ganzen Begeisterung eines Achtzehnjährigen, es werde ihm vielleicht nichts bedeuten, aber er solle wissen, dass es jemanden gibt, für den die "Zimtläden" eine Quelle höchsten Entzückens und eine ganz große Offenbarung sind. Ich hatte keine Ahnung, wie ungünstig der Zeitpunkt war, den ich für mein Schreiben gewählt hatte.

    Jerzy Ficowski bekam keine Antwort mehr. Bruno Schulz ließ ihn indes nie wieder los. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Ficowski, der den auch in Polen zunächst vergessenen Künstler wieder entdeckte. Er fand verloren gegangene Manuskripte, erforschte das Leben mithilfe von überlebenden Zeitzeugen und verfasste die erste Schulz-Biographie, die lange Zeit konkurrenzlos blieb. Gemeinsam mit den "Zimtläden" hat der Hanser Verlag jetzt auch diese Studie Ficowskis herausgebracht "Bruno Schulz 1892-1942. Ein Künstlerleben in Galizien", wurde von Friedrich Grieses übersetzt und ergänzt. Das Buch des 2006 in Warschau verstorbenen Ficowski, war in seiner ursprünglichen Fassung 1967 erschienen. Heute stellt es längst nicht mehr die einzige, aber immer noch eine grundlegende Arbeit über einen Künstler dar, den man heute vor allem in Polen verehrt und in vielen Ländern zu schätzen weiß.

    Fast gar keine Notiz indes nahm man von Bruno Schulz lange Zeit ausgerechnet in der Stadt, in der er gelebt und über die er geschrieben hatte - im seit 1945 zur Sowjetunion und seit 1991 zur unabhängigen Ukraine gehörenden Drohobytsch.

    "Abgesehen von einem kleinen Zirkel von ukrainischen Intellektuellen, die sich wirklich sehr stark für Bruno Schulz interessieren, muss ich Ihnen sagen, dass er den breiteren Kreisen der Drohobytscher Bevölkerung eigentlich völlig unbekannt ist. "
    Alfred Schreyer, ein Drohobytscher Musikdozent, war Schüler von Bruno Schulz und ist heute wahrscheinlich der einzige, der den Künstler noch persönlich gekannt hat. Die lange Zeit, in der sowjet- und später nationalukrainische Behörden den polnisch-jüdischen Avantgarde-Künstler entweder als dekadent oder als national fremd totschwiegen, geht allerdings auch in Drohobytsch allmählich zu Ende. Seit 2004 ehrt die Universität den wohl international bekanntesten Sohn der Stadt mit einem eigenen Festival. Die nächste Ausgabe findet Ende Mai dieses Jahres statt. Zum Programm gehört unter anderem ein internationales Arbeitstreffen der Bruno-Schulz-Übersetzer.

    Bruno Schulz: Die Zimtläden.
    Aus dem Polnischen von Doreen Daume,
    Carl Hanser Verlag

    Jerzy Ficowski: Bruno Schulz 1892-1942. Ein Künstlerleben in Galizien. Übersetzt und für die deutsche Ausgabe bearbeitet von Friedrich Griese,
    Carl Hanser Verlag