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Der künstliche Fluss

Wenn Biologen und Chemiker wissen wollen, wie Umweltgifte wirken, dann gehen sie normalerweise mit Reagenzgläsern in die freie Natur. Bei der Suche nach Schadstoffen im Wasser beispielsweise werden Proben aus einem Fluss genommen, die später dann im Labor ausgewertet werden. Dabei gibt es allerdings ein kleines Problem: diese Wasserproben sind immer nur Momentaufnahmen. Was vorher und nachher im Fluss passiert, bleibt unberücksichtigt. Und oft lassen sich interessante Beobachtungen nur einmal machen, weil sie anschließend - im wahrsten Sinne des Wortes - den Bach runtergegangen sind. Das Umweltbundesamt hat dieses Problem jetzt größtenteils gelöst. Die Behörde baute sich nämlich für 17 Millionen Euro einen weitgehend naturnahen Fluss ins Labor.

Von Christoph Podewils |
    (Wasserplätschern) So hört es sich an, wenn Techniker einen künstlichen Fluss entspringen lassen. Der fließt im Berliner Stadtteil Marienfelde, unter dem Dach einer großen Halle. Sein Lauf ist 1,5 Kilometer lang und besteht aus einer grünen Plastikrinne. Und während die Flüsse der Hauptstadt sonst auf Namen wie Spree, Panke oder Wuhle hören, heißt der künstliche Fluss Mesokosmos. Der dafür zuständige wissenschaftliche Leiter, Ralf Schmidt, erklärt, was es damit auf sich hat.

    Mesokosmen sind große Modellökosysteme und mit diesen Mesokosmen ist es möglich, Fließgewässer zu simulieren, um das Verhalten von dort hineingetragenen Stoffen als auch das Verhalten von Bakterien und Viren untersuchen zu können. Es geht darum, Versuche unter naturähnlichen Bedingungen durchzuführen, weil sich teilweise gezeigt hat, dass die Ergebnisse von Laborversuchen im ganz kleinen Maßstab, im Reagenzglasmaßstab abweichen. Mit dieser Anlage sind wir deutlich naturnäher, können etwa Verhältnisse im Freiland besser abbilden, sie sind aber dennoch kontrollierter als im Feldversuch.

    Der Mesokosmos ist also einerseits ein großes, naturnahes Labor, andererseits ein Biotop im Labormaßstab. Das braucht zum Leben nur ein wenig Dünger – und die richtigen Umweltbedingungen. Beleuchtung, Temperatur, Wasserqualität und die Fließgeschwindigkeit werden von einer Leitwarte ferngesteuert. Ralf Schmidt:

    So, jetzt hab ich gerade die Schneckenpumpe eingeschaltet und das Wasser fängt an, sich zu bewegen. Jetzt haben wir eine Fließgeschwindigkeit von ungefähr 0,2 Meter pro Sekunde. Diese Schneckenpumpen sind so konzipiert, dass Fische von ihnen in ihrer Bewegung nicht beeinträchtigt werden. Darüber hinaus zerstören diese Schneckenpumpen nicht die Biologie in den Systemen, also Algen werden durch diese Pumpbewegung nicht zerstört.

    Schließlich soll sich das Leben in dem künstlichen Biotop genauso entwickeln, wie in einem natürlichen Bachlauf. Neben Algen und Wasserpflanzen schwimmen Stichlinge im Wasser, das aus einem eigenen Wasserwerk kommt. Auch ein Flussbett hat der künstliche Fluss. Rund 700 Tonnen Sand und Ton mussten dafür angekarrt werden. Einfach war das nicht, denn mit Materialien aus dem Baumarkt wollten sich die Wissenschaftler nicht zufrieden geben. Ralf Schmidt:

    Zum Herstellen dieses künstlichen Flussbettes haben wir Material, also Sand und auch organische Bestandteile, aus Seen des Berliner Umlandes entnommen. Das müssen Seen sein, die frei von Schadstoffen sind und eine bestimmte Wasserzusammensetzung haben oder aufweisen, weil wir nicht schon durch Einfüllen kontaminierter Sedimente oder Flussbetten unsere Versuche beeinflussen wollen.

    Zwei Jahre hat es gedauert, das System ins biologische Gleichgewicht zu bringen. Vor kurzem nun sind die ersten Versuche gestartet worden. Dabei geht es um Pflanzenschutzmittel, die vom Regen in Bäche und Seen gespült werden. Das Umweltbundesamt wollte herausfinden, ob die Herbizide tatsächlich so schnell abgebaut werden, wie deren Hersteller angeben. Ralf Schmidt mit ersten Ergebnissen:

    Das Herbizid, das wir überprüft haben, zeigt in unserer Anlage eine Halbwertszeit, das ist also die Zeit, in der die Hälfte des Stoffes abgebaut ist, die um den Faktor vier bis acht über den Werten, über den Halbwertszeiten liegt, die im Labormaßstab ermittelt wurden. Das heißt unter naturnahen, kontrollierten Bedingungen ist dieser Stoff offenbar deutlich stabiler als ursprünglich angenommen.

    Neben solchen chemischen Untersuchungen wird an dem Mesokosmos auch zum Thema Hochwasserschutz geforscht. Geographen der Freien Universität Berlin haben Wasserpflanzen in einen kleinen Teich gesetzt. Die Wissenschaftler beobachten, wie das Wasser zwischen den Halmen fließt und wo sich zwischen den Pflanzenhalmen Sand ablagert. Der Geograph Jens Bölscher:

    Die Frage der Verlandung von Überschwemmungsflächen spielt eine wichtige Rolle, weil jeder Zentimeter an Sediment, der in die Auen eingetragen wird, fehlt letztlich auch dem Hochwasser oder führt zu einem Anstieg des Wasserspiegels, was dann natürlich mittel- bis langfristig zu örtlichen Überschwemmungen führen kann. Wenn man sich zum Beispiel die Situation an der Elbe überlegt, waren es eigentlich nur wenige Zentimeter, die fehlten, bis der Deich überschwemmt wurde.

    Die Untersuchungsergebnisse fließen später in Computermodelle ein, mit denen die Wissenschaftler den Hochwasserverlauf am Rhein simulieren. Weil diese Simulationen nichts anderes als riesige Hochrechnungen sind, rechnen sie nur richtig, wenn die Vorgaben stimmen. Auf Lehrbuchweisheiten kann man sich dabei nicht immer verlassen. Das mussten Ralf Bölscher und seine Kollegen bei ihren Versuchen erfahren:

    Ursprünglich ist man davon ausgegangen, dass die Strömungsgeschwindigkeiten am Boden, oder bodennah gegen null tendieren. Und wir wollten jetzt wissen, stimmt das denn jetzt wirklich oder passiert da irgendetwas anderes. Und jetzt haben wir genau den Bereich detailliert untersucht und gemessen und nach ersten Ergebnissen haben wir festgestellt, dass das nicht unbedingt der Fall ist, sondern dass die Geschwindigkeiten am Boden wo sie eigentlich bei null sein sollten auf einmal wieder zunehmen, wo wir eigentlich ziemlich überrascht waren bei unseren Versuchen.

    Weitere Überraschungen sind zu erwarten. Demnächst will das Umweltbundesamt untersuchen, ob es in Badeseen vielleicht viel mehr gefährliche Bakterien gibt, als bisher angenommen.