Oliver Scheytt:
"Das Ruhrgebiet wird zu einer neuen Metropole, es wird zu einer neuen Einheit kommen. Insofern zielen wir auf ein neues Bewusstsein und ein neues Selbstbewusstsein. Und das ist die wichtigste nachhaltige Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben in der Kulturhauptstadt."
Friedrich Wilhelm Graf:
"Sie hat ja gar nichts getan. Sie hat gelogen, sie hat verdrängt, sie hat ignoriert, sie hat vorsätzlich Opfer betrogen. Das alles kann man nicht schönreden."
Hugo Hamilton:
"Die Regierung erwähnt die Kunst sehr oft, die Schriftsteller sind die kreative Initiative in Irland, das soll Irland jetzt retten."
Karin Fischer: Die Kulturhauptstadt, die Kirche und die Krise – drei große Ks, drei große Themen im Kulturjahr 2010, über die wir gleich noch mehr hören werden. Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren, zum "Kultur heute"-Jahresrückblick, mit Karin Fischer am Mikrofon und Katrin Göring-Eckardt, die ich im Studio sehr herzlich begrüße.
Katrin Göring-Eckardt: Ich begrüße Sie auch, guten Tag!
Fischer: Frau Göring-Eckardt, was war den Ihr bedeutsamstes Kultur-Ereignis des Jahres?
Göring-Eckardt: Ja, man könnte jetzt sagen, die ganz großen Ereignisse fallen einem ein. Ich will eins nennen, was nicht riesig war, aber doch großartig: Am 3. Oktober haben wir am Reichstag in Berlin nicht nur den Tag der Deutschen Einheit begangen, sondern wir haben auch eine ganze Reihe von wunderbaren jungen Künstlern erlebt, unter anderem Clueso aus Erfurt und die STÜBA-Philharmonie, junge Leute aus Ost und West, die sich dorthin begeben haben, ganz lange geprobt haben dafür, um eine Mischung aus klassischer und Rockmusik dort aufzuführen. Und es war deswegen großartig, weil die jungen Leute deutlich gemacht haben, wie wichtig ihnen die deutsche Einheit ist und wie selbstverständlich auf der einen Seite, aber wie auf der anderen Seite eben so was wie Demokratie auch immer wieder errungen werden muss. Und das war sehr spannend.
Fischer: Sie sind ja nicht nur Grünen-Abgeordnete und Bundestags-Vizepräsidentin, sondern Sie stammen auch aus dem Osten. War das Thema 20 Jahre Wiedervereinigung im vergangenen Jahr dennoch eins für Sie?
Göring-Eckardt: Ja, solche Jubiläen regen ja dazu an, dass man noch mal nachdenkt, und dann redet man mit denjenigen, die so alt sind wie man selber oder älter, die es miterlebt haben, und man redet mit den Jüngeren. Und diese Geschichte am Reichstag hatte auch einen besonderen Aspekt: Clueso hat das Lied gesungen "Keinen Zentimeter" und meinte eben wirklich, kein Zentimeter passt eigentlich zwischen Ost und West. Und insofern war das etwas, was auch, glaube ich, über Generationen hinweg Wirkung erzielt hat.
Fischer: In diesem Jahresrückblick beschäftigt uns ja nicht so sehr die harte Kultur, nicht so sehr die Opernproduktionen und Ausstellungs-Highlights, sondern die gesellschaftlichen und im weitesten Sinne kulturellen Debatten, die auch hier in dieser Sendung, in "Kultur heute" vehement geführt wurden. Interessant, dass es in diesem Jahr zwei Bücher waren, die das Feuilleton wochenlang in Atem hielten: Erstens Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" und zweitens die Studie über "Das Amt" und dessen Verstrickungen in die Politik des Dritten Reiches. Auf beides kommen wir zurück, doch zuerst schlüpfen wir mit unter den Rettungsschirm der Europäischen Union und schauen aus sicherer Position, was "Die Krise" mit der Kultur, mit der EU und vor allem mit dem europäischen Gedanken gemacht hat, der zwischenzeitlich fast schon abhandenzukommen drohte. Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des Goethe-Instituts, mahnte:
"Das ist der entscheidende Punkt, zu begreifen, dass ein Zurückfallen in eine nationale Befindlichkeit wirklich keine Lösung bringt, denn damit ist Europa in seiner gesamten Substanz, im Vergleich zu den neun Zentren, die früher Peripherien waren – ob das China ist, ob das Indien ist, ob das das aufstrebende Brasilien ist – nicht mehr konkurrenzfähig. Die Vielfalt der Kultur macht unseren Reichtum aus. Aber wenn es nicht gegenseitig begriffen hat, dann, glaube ich, ist es wirklich auch um den Euro nicht so besonders gut bestellt. Denn der Euro lebt nicht alleine von einer wirtschaftlichen Situation, sondern von der Bereitschaft der Menschen, auch für andere einzustehen."
Fischer: Den irisch-deutschen Schriftsteller Hugo Hamilton haben wir schon gehört, er beschrieb – ein wenig selbstironisch – die neue Rolle der Kultur für sein krisengeschütteltes Land:
""Es gab eine ganz kreative Welle, die Kunst ist sehr lebendig geworden. Und diese Kunst betont jetzt auch die Regierung, erwähnt die Kunst sehr oft, die Schriftsteller sind die kreative Initiative in Irland, das soll Irland jetzt retten. Wir sollen in der Fantasie uns erholen."
Fischer: In Deutschland hielt und hält sich das Krisengefühl in Grenzen, doch unter der Schuldenlast der Städte und Gemeinden ächzt vor allem auch die Kultur. Den Spardruck spüren Museen und Theater in Essen, Wuppertal, Hamburg oder Bonn sehr deutlich. Ein Lichtblick im Westen: Die Kulturhauptstadt "Essen und das Ruhrgebiet 2010", eine ganze Region, 53 Städte und über fünf Millionen Menschen wollte man begeistern für die Kultur und vor allem für sich selbst. Oliver Scheytt erklärt, wie:
"Wenn wir mal hier in die Bevölkerung hineinschauen und sehen, dass mehr als 50 Prozent der Kinder an den Grundschulen Migrationshintergrund haben, dann ist es schon wichtig, nicht nur meine Kultur für alle zu sagen, sondern genau das Gegenteil zu sagen, nämlich dass es ganz viele Kulturen gibt, dass die kulturelle Vielfalt uns auszeichnet. Und genau das ist das Thema der Kulturhauptstadt 'Ruhr2010'. Aus dieser Vielfalt von 53 Städten, von 170 Nationen und 90 Sprachen, die hier gesprochen werden, eine Einheit zu machen – nicht indem wir dort die Soße drüberkippen, sondern indem wir sagen, jeder hat seine Identität und bringt sie in eine Gesamtidentität ein."
Fischer: Am Ende radelten Tausende zu den "Schachtzeichen", zu den gelben Ballons, die über ehemaligen Zechen in der Luft schwebten, und machten Hunderttausende den Ruhrschnellweg, die A40, zum Still-Leben. Die Bilder, die im Gedächtnis blieben, haben im Ruhrgebiet mit Massen zu tun, leider auch mit schlimmen Folgen, wie die Loveparade in Duisburg gezeigt hat.
Katrin Göring-Eckardt, was haben Sie aus dem fernen Berlin oder aus dem vielleicht noch ferneren Erfurt vom Kulturhauptstadtjahr mitbekommen?
Göring-Eckardt: Ja, zunächst mal bin ich bei der Eröffnung gewesen, bei Eis und Schnee, und das ist sehr beeindruckend gewesen. Und ich glaube, deutlich geworden ist, dass dieser Teil des Landes derartig multikulturell ist, dass – wie gerade gesagt – eine gemeinsame Kultur auf dieser Basis entstehen kann. Das finde ich unglaublich spannend. Ich glaube, die Region ist auch noch mal auf besondere Weise zusammengewachsen, die Menschen sind auf besondere Weise zusammengewachsen, und gleichzeitig halt diese irrsinnige Schattenseite bei der Loveparade, die Idee, dass man mit relativ geringen Mitteln großartige Wirkungen erzielen könnte für eine Stadt – das hat nicht funktioniert, sondern ist im Fiasko geendet. Und ich glaube, beides muss man bedenken, wenn man über große Ereignisse spricht. Auch natürlich, wie sind unsere Kommunen ausgestattet, was heißt das eigentlich.
Fischer: Es gibt Begriffe, die haben nicht nur im politischen Leben, sondern auch in der Kultur Konjunktur, und in diesem Jahr war das vor allem ein Wort, nämlich auch das der Nachhaltigkeit. Die positive Bilanz der Kulturhauptstadt kreiste genau darum, und die Frage ist: Wie passt das mit dem Spardruck zusammen, dem die Kommunen im nächsten Jahr und in der Zukunft ausgesetzt sind?
Göring-Eckardt: Also ich glaube, das macht wenig Sinn, das gegeneinander auszuspielen nach dem Motto, "Jetzt haben wir ein Mega-Event gehabt, und dann sind die Stadttheater in Gefahr", sondern ich denke, dass sich jede Stadt, jede Region sehr klar darüber sein muss, dass Kulturinstitutionen, kulturelle Aktivitäten sehr viel mehr zur Entwicklung und zur Identität einer Region beitragen, als man das bisher gedacht hat. Wir haben hier in Ostdeutschland ja an vielen Stadttheater große Initiativen gehabt, als sie geschlossen werden sollten oder abgebaut werden sollte oder Zusammenlegungen anstanden. Und diese Initiativen sind von Leuten getragen worden, die zum Teil selber zehn Jahre nicht im Theater waren, aber die gesagt haben, das gehört zu unserer Stadt, da ist die Kunst, da ist die Kultur und das wollen wir erhalten wissen. Und das war im Deutschen Nationaltheater Weimar ganz genauso wie in kleineren Theatern in Dessau, in Sondershausen, an anderen Orten. Und deswegen glaube ich, die großen Ereignisse, die machen den Scheinwerfer an auf das, was möglich ist, die machen den Scheinwerfer an auch für die Menschen, die sonst mit der Art von Kultur relativ wenig zu tun haben. Sie sind integrativ, und die Kultur, die wir quasi jeden Tag erleben können, die jeden Tag produziert wird in unseren Städten und Kommunen, die ist Existenz sichernd. Und das ist, glaube ich, der Punkt, über den wir uns klar werden müssen.
Fischer: Wenn Sie die Krise von etwas höherer Warte aus betrachten, Frau Göring-Eckardt, hatten Sie Sorge um Europa, um den europäischen Gedanken?
Göring-Eckardt: In der Tat ja. Ich glaube, dass die Art und Weise, wie Nationen gegeneinander ausgespielt wurden, sich gegeneinander ausgespielt haben, nicht dazu geführt hat, dass wir uns einiger gefühlt haben, stärker als Europäer gefühlt haben. Und das ist etwas, was wir wiedergewinnen müssen und wo wir noch einmal auf andere Weise deutlich machen müssen, warum ist dieses gemeinsame Europa wichtig. Dazu gehört aber eben auf der anderen Seite auch, dass die regionale Identität eine Selbstverständlichkeit hat. Also Europa der Regionen sagt man ja nicht umsonst, und regionale Identität ist etwas, was zusammenpassen muss mit dem europäischen Gedanken. Und ich sage bewusst regionale Identität, weil ich glaube, dass die Nationen dabei gar nicht so eine große Rolle spielen in Zukunft.
Fischer: Diesen verstärkten Nationalismus, wie er für einzelne osteuropäische Länder zu verzeichnen war, das ist natürlich kein Thema in Deutschland, aber – Sie haben es schon angesprochen – dieses Jahr 2010 war das Jahr einer so nicht gekannten neuen Protestkultur und eines bürgerlichen Engagements, und möglicherweise gibt es doch einen Zusammenhang mit der Eurokrise, mit einer vermeintlich unsozialen oder zumindest intransparenten Politik. Arnulf Baring jedenfalls formulierte das Defizit so:
"Eine Politik, die mehr und mehr sich als unfähig erweist oder als unwillig erweist, die vielen Strömungen der Gesellschaft vorurteilslos aufzunehmen, das ist eine ganz schlimme Sache."
Fischer: Die Bürgerinnen und Bürger wurden mündig und nahmen ihre Angelegenheiten vor Ort selbst in die Hand. Dabei ging es interessanterweise um eigentlich konservative Werte, zum Beispiel ums Bewahren. In Köln war eine Bürgerinitiative gegen den Abriss des Schauspielhauses erfolgreich. Dessen Intendantin Karin Beier sagt:
"Unser Verhältnis zur Architektur bewegt sich ja genauso, nur sehr viel langsamer wie unser Verhältnis zur Mode. Und wir sind gerade in so einem Prozess, wo diese Nachkriegsbauten anfangen, für uns anders zu blühen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wenn man in 10, 20 Jahren auf diese Gebäude blickt, dass man heilfroh sein wird, dass das Schauspielhaus nicht abgerissen worden ist."
Fischer: In Stuttgart gingen wochenlang Zehntausende gegen Stuttgart 21 auf die Straße, sehr zur Verwunderung des dort mit planenden Architekten Christoph Ingenhoven:
"Es ist schwer verständlich, wie Menschen heute behaupten können, das sei sozusagen das meist geliebte Bauwerk Südwestdeutschlands, während sie es haben einfach 40 Jahre furchtbar verkommen lassen. Sie müssen sich das Ding mal anschauen."
Fischer: Volker Lösch ist der Agit-Prop-Regisseur der Stunde, er hat seinen Stuttgarter Bürgerchor aus dem Theater einfach auf die Straße verlegt, und er sagt inhaltlich:
"Es wurden bestimmte Gutachten absichtlich nicht preisgegeben, es wurden Dinge dem Gemeinderat vorenthalten. Die wichtigste Studie, die das Ganze sehr stark infrage stellt, die schon vor zwei Jahren in Auftrag gegeben wurde und danach dann 2009 rauskam, ist jetzt erst aufgetaucht. Und das ist natürlich eine Täuschung der Öffentlichkeit und auch eine Täuschung der Politiker, die darüber befunden haben, dass das Ganze gebaut werden soll. Und dagegen gehen jetzt Tausende auf die Straße."
Fischer: Bürgerproteste gab es auch gegen Google Street View, eine zweischneidige Sache, denn warum geben andererseits Millionen von Facebook-Nutzern freiwillig ihre Daten preis? Die Schriftstellerin Juli Zeh dazu:
"Wir haben da so eine Art Verteilungskampf. Jeder möchte an diese Daten ran, der Staat möchte das, die Wirtschaft möchte das, und das schwächste Glied in diesem Spiel, in dieser Kette ist eben immer der Einzelne, ist immer der Bürger. Und deswegen verdient der eben den größten Schutz. Und da, finde ich, ist das Bewusstsein noch nicht so richtig auf der Höhe der Zeit."
Fischer: Haben Sie für dieses widersprüchliche Verhalten der Menschen im Internet-Zeitalter eine plausible Erklärung, Katrin Göring-Eckhardt?
Göring-Eckhardt: Ja, ich glaube, auf der einen Seite ist das, was wir im Internet heute haben, eine großartige Vernetzung, es ist die moderne Form der Bushaltestelle, die man früher auf dem Dorf hatte, oder des Marktplatzes, auf dem man sich getroffen hat, oder der Tante-Emma-Laden, wo Informationen ausgetauscht wurden. Und das ist in Ordnung so, das ist gut so, Dinge zu erfahren, die man sonst nicht erfahren würde, Nachrichten zu erhalten, die man auch über diejenigen, die die Nachrichten für uns filtern, nicht erfahren könnte. Also das ist etwas Großartiges. Auf der anderen Seite gehört dazu natürlich, Dinge von sich preiszugeben, manchmal mit voller Absicht und manchmal einfach nur nebenbei. Und ich glaube, da ist die Frage, wie der Datenschutz damit umgeht, wirklich eine ganz entscheidende, da hat der Staat in der Tat eine Schutzfunktion.
Fischer: Die Definition der Privatheit wird in ganz neue Bahnen gelenkt, aber vielleicht ist ja das, was wir vorher auch schon als sozusagen regionale Identität besprochen haben und regionales Engagement, die andere Seite der Medaille der Globalisierung, von der wir ja zuletzt den Eindruck hatten, sie macht etwas mit uns, das wir überhaupt nicht mehr beeinflussen können.
Göring-Eckhardt: Also ich glaube erstens nicht, dass wir Globalisierung nicht beeinflussen können, weil da sind wir immer ein Teil davon, und deswegen ist das nichts, was irgendwie über uns kommt, ohne dass wir was beeinflussen könnten. Aber in der Tat, ich glaube, dass die Proteste, dieses Auf-die-Straße-Gehen, dieses sich auch sehr direkt und ganz bewusst In-Bewegung-Setzen auch was zu bedeuten haben. Also auf der einen Seite natürlich mangelnde Transparenz – es ist so was wie die absichtsvolle Entmündigung von Bürgerinnen und Bürgern vonstattengegangen, in denen man ihnen wichtige zentrale Informationen vorenthalten hat, gerade in Stuttgart –, auf der anderen Seite aber auch das Gefühl, nicht nur am Bildschirm, nicht nur virtuell mit Menschen verbunden zu sein, sondern eben auch ganz direkt Gleichgesinnte zu treffen, mit ihnen unterwegs zu sein, am gleichen Ort zu sein, ihnen in die Augen sehen zu können, gegebenenfalls auch Gerüche zu verspüren und so weiter. Ich glaube, es gibt so etwas wie den Versuch, sich auch den alten Sinnen wieder hinzugeben, auch wenn es darum geht, aktiv zu werden, auch politisch aktiv zu werden. Beides gehört zusammen und ist eigentlich für die Demokratie eine riesige Chance.
Fischer: Wie haben Sie den Schlichtungsprozess in Stuttgart wahrgenommen – ist das mehr als Appeasementpolitik für aufgebrachte Bürger, an dessen Ende dann doch gebaut wird? Ist das eine neue Form der Mediendemokratie?
Göring-Eckhardt: Also bei dem Wort Mediendemokratie, das klingt ja immer gleich negativ, als ob was inszeniert würde. Das war ganz bewusst ja keine Inszenierung. Also wer sich das angeschaut hat – und das haben unendlich viele Menschen ja getan, die auch nicht mal reingeschaltet haben, sondern dabeigeblieben sind –, der hat ja live miterlebt, was Menschen miteinander diskutiert haben, die vorher keine Dramaturgie und keine Inszenierung abgesprochen haben. Und insofern ist es natürlich ein riesiger Fortschritt, und es ist auch deutlich geworden, wo die großen Defizite dieses Bauvorhabens sind, und man kann jetzt auch nicht sagen, nach der Schlichtung wird halt einfach gebaut, sondern da ging es tatsächlich zur Sache. Und es sind auch eine ganze Reihe Dinge im wahrsten Sinne des Wortes aufgedeckt worden, die vorher nicht klar waren.
Fischer: Einen Runden Tisch gab es auch bei einem der schwierigsten Themen des Jahres, den Missbrauchsfällen der katholischen Kirche, aber auch anderer Institutionen, die die Republik erschüttert haben. Die Schriftstellerin Liane Dirks dazu:
"Wir haben eine Gesellschaft, die sich mit dem Thema Liebe und gleichzeitig Freiheit-Aushalten nicht genügend beschäftigt und die nicht ausreichend das Nein vom Ja unterscheiden kann. Wir müssen das Neinsagen lernen, und das gleichzeitige Zulassen von Dingen, die gut sind, lernen."
Fischer: Der Augsburger Bischof Mixa hatte eine ganz andere Erklärung: Die 68er und die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft seien schuld daran, dass katholische Priester "verführbar" geworden seien. Dazu sagt der protestantische Religionswissenschaftler Friedrich Wilhelm Graf:
"Ich halte die These, dass nun der Geist der 68er für das zuständig oder verantwortlich ist, was in Einrichtungen der römisch-katholischen Kirche im Lande passiert ist, für wenig überzeugend. Wenn man sich das Schreiben des Papstes etwa anschaut für die irischen Katholiken, diese Rede vom Relativismus, das ist in der Weise absurd, als nun plötzlich die böse Welt für das verantwortlich gemacht wird, was in der Kirche passiert. Das ist im Kern verantwortungslos."
Fischer: Und Graf stellte der katholischen Kirche das denkbar schlechteste Zeugnis aus:
"Sie hat ja gar nichts getan. Sie hat gelogen, sie hat verdrängt, sie hat ignoriert, sie hat vorsätzlich Opfer betrogen. Das alles kann man nicht schönreden."
Fischer: Wie sieht am Ende dieses Jahres für Sie, Frau Göring-Eckardt, als gläubige Christin dieser Prozess aus, der stattgefunden hat?
Göring-Eckhardt: Also ich glaube, wir haben etwas sehr Schmerzvolles erlebt, an diesem Thema in unserem Land, mit der katholischen Kirche insbesondere. Das Schmerzvolle war, dass zuallererst nicht die Opfer, sondern die Täter im Mittelpunkt standen. Die Opfer haben sich entschieden, öffentlich zu werden, sie haben sich entschieden, damit auch vieles von der Qual, die sie erlebt haben, noch einmal an die Oberfläche kommen zu lassen, noch einmal durchzuleben, und haben erfahren müssen, dass letzten Endes es eine ganze Zeit lang in erster Linie darum ging, die Täter zu schützen. Und ich glaube, dass diese Erfahrung nicht nur für die Opfer selbst – für die in besonderer Weise, in besonders furchtbarer Weise –, aber für die Gesellschaft insgesamt anzusehen eine katastrophale Erfahrung war, und es hat lange gedauert, bis klar wurde, dass die Opfer im Mittelpunkt standen. Und das hat die katholische Kirche als Institution auch in besonderer Weise zu verantworten, aber es gibt natürlich auch weltliche Institutionen. Wenn wir an die Art und Weise denken, wie frühere Verantwortliche der Odenwaldschule damit umgegangen sind – nicht die heutigen, das muss man auf jeden Fall unterscheiden in diesem Fall –, erleben wir etwas Ähnliches, also eine Abschottung und einen Täterschutz, und wo wir, glaube ich, uns klar drüber sein müssen, das ist nicht zu ändern, das ist etwas, was uns als Gesellschaft auch noch weiter beschäftigen wird.
Fischer: Eine andere Religion wurde zum Buhmann in der zweiten Jahreshälfte: der Islam. Thilo Sarrazin hatte sich in seinem Buch eindeutig festgelegt, die Migranten aus islamischen Ländern sind schlechter oder gar nicht integrierbar und werden wegen ihrer vielen Kinder den IQ der deutschen Gesellschaft auf lange Sicht spürbar drücken. Schon der Titel ist eigentlich eine Provokation: "Deutschland schafft sich ab". Der Migrationsforscher Stefan Luft sagte dazu:
"Was Sarrazin tut, ist die Eugenik und den sozusagen Sozialdarwinismus und Neoliberalismus zu kombinieren. Das ist das Skandalöse. Die Integrationsdebatte steht aus meiner Sicht nicht im Zentrum seines Buches."
Fischer: Die Debatte in den Medien wurde eher auf der Metaebene geführt: Darf man so etwas in Deutschland sagen? Thea Dorn meinte, unbedingt:
"Die Integrationsdebatte kocht ja seit einigen Jahren in diesem Land, aber mit einer gewissen Radikalität, diese Fragen zu stellen, das findet nicht statt und wird vor allem, wie man ja auch jetzt wieder sieht, von der Politik massiv behindert."
Fischer: Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu fand drastische Worte für den von Sarrazin aufgebrachten muslimischen Popanz:
"In der medialen Inszenierung wird der Türke als eine Mischung aus Messerstecher und Wohnsilomucker imaginiert. Er hockt auf seinem Holzschemel, zieht an seiner Gebetskette oder geht vor einem blutrünstigen Wüstengott in die Knie. Nach dem Bau von Miniaturmoscheen rechnen sowieso ganze Dörfer mit dem baldigen Sturm der Hunnenhorden aus Kleinasien."
Fischer: Die Praktiker der Integration sagen: Deutschland ist weiter, als es die Debatte vermuten lässt. Stimmt das, Frau Göring-Eckardt?
Göring-Eckhardt: Ja, Deutschland ist erstens weiter und Deutschland hat auch durch Thilo Sarrazin nicht wirklich was Neues erfahren. Das, was in seinem Buch an Richtigem steht – Statistiken et cetera –, das haben wir vorher gewusst, das haben wir vorher diskutiert. Und natürlich kann man nicht sagen, dass mit der Integration in Deutschland alles gut läuft, sonst würden wir nicht heftig daran arbeiten und würden sich Parteien darüber streiten, wie der richtige Weg ist, und würden sich Kommunen darüber Gedanken machen, wie das bei ihnen vor Ort sinnvoll ist et cetera. Aber was anders ist, ist, dass Thilo Sarrazin das biologistische Argument in die Debatte gebracht hat, wieder, seit dem Dritten Reich, quasi zum ersten Mal auch groß gemacht hat. Das ist der Unterschied. Aber was wir als wirklich vielkulturelle, multikulturelle Gesellschaft haben, wovon wir leben, was unseren Reichtum ausmacht, auch sich in der Unterschiedlichkeit einen Reichtum erarbeitet zu haben, den niemand missen will, und gleichzeitig die Defizite nicht wegzureden, kleinzureden oder zu ignorieren, das gehört dazu. Mit dem Islam hat das, glaube ich, relativ wenig zu tun. Ich zitiere da noch mal jemanden, den ich normalerweise nicht zu meinen politischen Verbündeten zähle, aber George Bush ist derjenige gewesen, der gesagt hat: Der Islam ist eine friedliche Religion. Und den Islam als Religion dafür zu missbrauchen, zu sagen, das sind diejenigen, die als potenzielle Terroristen, als Schläger, als diejenigen infrage kommen, die bestimmte Werte unserer Gesellschaft nicht anerkennen, macht keinen Sinn. Es macht Sinn, sich die sozialen Fragen zu stellen, es macht Sinn, danach zu fragen, warum Kinder, Jugendliche aus Migrationshintergründen tatsächlich schlechtere Schulergebnisse haben et cetera, aber es macht überhaupt keinen Sinn, es den Einzelnen in die Schuhe zu schieben oder gar der Religion, die sie zum Teil noch nicht mal ausüben, in die Schuhe zu schieben.
Fischer: Sie haben es gesagt, die Eugenik – und das mindestens war in dieser Debatte unstrittig –, ist ein Feld, auf das man sich als Deutscher nicht begeben sollte, denn die Schatten der Vergangenheit sind lang und sie reichen weit. Das brisante Buch "Das Amt" wollte mit dem Mythos eines in der Nazizeit sauber gebliebenen deutschen diplomatischen Dienstes aufräumen. Der Historiker Norbert Frei hat an dem Werk mitgeschrieben:
"Das Auswärtige Amt im Dritten Reich war das Auswärtige Amt des Dritten Reiches. Die Fakten, insbesondere was die Beteiligung am Holocaust angeht, das hat mich nicht überrascht, aber ich gebe zu, dass die Hartnäckigkeit, mit der die Legenden bis wirklich in die 90er-Jahre, ja fast in die Gegenwart hinein weiterwirken, da war dann auch jemand wie ich dann doch das ein oder andere Mal auch schon wieder verblüfft."
Fischer: Hans Mommsen, Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft, widersprach heftig: Alles nichts Neues, monierte er, nur jetzt einseitig zusammengestellt:
"Die Schilderung der Entwicklung des Auswärtigen Amtes bezüglich der Judenverfolgung enthält massive Fehler, zum Beispiel den, dass bereits Außenminister Ribbentrop mit Hitler am 13. September 1941 die Deportation der deutschen Juden beschlossen hätte und damit auch das Amt direkt in den Holocaust eingeschaltet hätte – alles das ist so nicht haltbar, wie überhaupt an die Stelle einer sorgfältigen schrittweisen Analyse der Radikalisierung der Judenverfolgung und der verschiedenen Formen der Verstrickung eine eher pauschale ideologiegeschichtliche Vorabbewertung vorgenommen wird."
Fischer: Der Historiker Götz Aly fand eine Art Ausgleich, seine These von der Verstrickung aller Institutionen ist nicht von der Hand zu weisen:
""Klar ist eben auch, dass sehr, sehr viele Leute in sehr, sehr vielen deutschen Institutionen diesem großen Verbrechen zugearbeitet haben. Und das Verdienst des Buchs über das Auswärtige Amt ist es, dass es diese Amtslüge, dieses Märchen, das Auswärtige Amt hätte sich anders verhalten als gewöhnliche deutsche Institutionen, diese Lüge ist nun beendet. Das ist auch alles."
Fischer: Andere Zeit, anderer Ort, noch eine schockierende Verstrickung: die Securitate-Zuarbeit des Schriftstellers Oskar Pastior. Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin und langjährige Freundin Oskar Pastiors:
"Pastior war im Schweigen in allen Bereichen so geübt. Wenn man jahrzehntelang jeden Tag Angst hat, dass man verhaftet wird, die Einsamkeit des Schweigens lernt man dann. Ich bin auch wütend auf diese schreckliche Zeit, auf diese Diktatur, die einen sensiblen, integren Menschen zu solchen Dingen gezwungen hat."
Fischer: Subjektive Wut kann eine Verarbeitungsstrategie sein, historische Feinst-Analyse wie bei "Das Amt" ist etwas anderes. Deutschland hat in ganz Europa einen hervorragenden Ruf, was die Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft, die Kritik an "Das Amt" zielte aber auch auf sozusagen staatlich bestellte Geschichtsforschung. Halten Sie das für eine gefährliche Entwicklung, Frau Göring-Eckhardt?
Göring-Eckhardt: Nein, gefährliche Entwicklung nicht, sondern eher im Gegenteil, dass wir Aufarbeitung auf allen Ebenen betreiben wollen und auch betreiben müssen, und dass wir zwei deutsche Diktaturen haben, die wir uns anschauen, wo wir uns auf der einen Seite natürlich anschauen diejenigen, die als aktive Täter in den Fokus geraten sind und die auch tatsächlich Verantwortung übernehmen müssen, aber dass wir uns auf der anderen Seite sowohl die Institutionen anschauen als auch den Alltag der Diktatur – und diejenigen, die mitgemacht haben, die Diktatur unterstützt haben, die sie dadurch erst möglich gemacht haben. Ich glaube, dass es zusammengehört und sich von den eigenen Kindern oder in der Öffentlichkeit fragen zu lassen, was ist dein Weg gewesen, was hast du getan, was hast du unterlassen, das gehört dazu.
Fischer: Und natürlich ist die deutsche Vergangenheit immer auch eine Verpflichtung, die uns für die Gegenwart aufgegeben ist. Das betrifft zum Beispiel das Engagement Deutschlands in bewaffneten Konflikten oder im Krieg. Wie sehen Sie dieses Engagement, mit Sorge oder auch eher mit Zuversicht, etwa in Afghanistan?
Göring-Eckhardt: Also ich glaube, auch da gehört immer beides zusammen, dass wir keine Selbstverständlichkeit haben, in eine militärische Auseinandersetzung zu gehen, egal wo, auch nicht in Afghanistan. Dass wir als Parlament darüber immer wieder entscheiden, dass die Öffentlichkeit darüber glücklicherweise heftigst diskutiert, das gehört mit dem Umgang mit der Vergangenheit zusammen. Und insofern, ich habe darüber abgestimmt, abstimmen müssen könnte man vielleicht sagen, und habe es, wenn ich zugestimmt habe – das habe ich am Anfang getan bei der Auseinandersetzung in Afghanistan – immer mit dem Wissen getan, dass ich nicht weiß, ob diese Zustimmung richtig ist, dass ich nicht weiß, wie die Erfolgsaussichten sind. Und ich bin zunehmend skeptischer geworden und konnte diesem Einsatz auch meine Zustimmung nicht mehr geben, weil er einseitig zu stark militärisch ist und weil der zivile Aufbau, die zivilen Möglichkeiten mitnichten ausgeschöpft worden sind und weil wir unsere Anstrengungen im zivilen Bereich in keiner Weise in einer Art betrieben haben, wo man sagen könnte, das ist mindestens so gut wie der militärische Teil, das ist mindestens mit so viel Intensität, mit so viel Geld versehen et cetera.
Fischer: Einer, der sich zuletzt sehr für den Brückenbau durch Kultur engagiert hat, das war Christoph Schlingensief, und an ihn sollten wir am Ende dieser Sendung noch erinnern, der im August an Krebs gestorben ist. Über das von ihm geplante Operndorf in Burkina Faso sagte er:
"Und ich hab in diesem Operndorf gerade, glaube ich, das größte Glück erfahren, wir haben fünf Hektar Land bekommen, wir fangen an mit der Schule, wir bauen das auf für die Knirpse. Und wir können das beobachten. Wir können mal ab und zu abends im Computer reingucken, was machen die da gerade. Ich glaube, das ist das Lernen. Dann merkt man auch den Wert Afrikas. Es ist so wichtig zu wissen, dass wir da was mitnehmen dürfen. Wir nehmen nicht nur die Rohschätze mit, das haben wir ja immer gemacht, wir haben die ausgebeutet, nein, wir nehmen jetzt auch mal was mit, was uns für die Zukunft retten kann."
Fischer: Wir enden also mit der Kultur und mit einer an sich tröstlichen Botschaft. Was wäre, Katrin Göring-Eckhardt, die frohe oder tröstliche Botschaft, die die Kultur in Ihren Augen bereithält?
Göring-Eckhardt: Also ich will an Christoph Schlingensief als Menschen vielleicht da anknüpfen. Ich glaube, das ist einer, der hat gezeigt, dass Engagement und unendliche Leidenschaft tatsächlich die Welt verändern können, und Sie können das mit den Mitteln der Kultur auf ganz besondere Weise. Und diese Leidenschaft, diesen Glauben an Veränderung, den wünsche ich uns.
Fischer: Dann danke ich ganz herzlich Ihnen fürs Dabeisein und für Ihre Gedanken hier im "Jahresrückblick Kultur heute".
"Das Ruhrgebiet wird zu einer neuen Metropole, es wird zu einer neuen Einheit kommen. Insofern zielen wir auf ein neues Bewusstsein und ein neues Selbstbewusstsein. Und das ist die wichtigste nachhaltige Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben in der Kulturhauptstadt."
Friedrich Wilhelm Graf:
"Sie hat ja gar nichts getan. Sie hat gelogen, sie hat verdrängt, sie hat ignoriert, sie hat vorsätzlich Opfer betrogen. Das alles kann man nicht schönreden."
Hugo Hamilton:
"Die Regierung erwähnt die Kunst sehr oft, die Schriftsteller sind die kreative Initiative in Irland, das soll Irland jetzt retten."
Karin Fischer: Die Kulturhauptstadt, die Kirche und die Krise – drei große Ks, drei große Themen im Kulturjahr 2010, über die wir gleich noch mehr hören werden. Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren, zum "Kultur heute"-Jahresrückblick, mit Karin Fischer am Mikrofon und Katrin Göring-Eckardt, die ich im Studio sehr herzlich begrüße.
Katrin Göring-Eckardt: Ich begrüße Sie auch, guten Tag!
Fischer: Frau Göring-Eckardt, was war den Ihr bedeutsamstes Kultur-Ereignis des Jahres?
Göring-Eckardt: Ja, man könnte jetzt sagen, die ganz großen Ereignisse fallen einem ein. Ich will eins nennen, was nicht riesig war, aber doch großartig: Am 3. Oktober haben wir am Reichstag in Berlin nicht nur den Tag der Deutschen Einheit begangen, sondern wir haben auch eine ganze Reihe von wunderbaren jungen Künstlern erlebt, unter anderem Clueso aus Erfurt und die STÜBA-Philharmonie, junge Leute aus Ost und West, die sich dorthin begeben haben, ganz lange geprobt haben dafür, um eine Mischung aus klassischer und Rockmusik dort aufzuführen. Und es war deswegen großartig, weil die jungen Leute deutlich gemacht haben, wie wichtig ihnen die deutsche Einheit ist und wie selbstverständlich auf der einen Seite, aber wie auf der anderen Seite eben so was wie Demokratie auch immer wieder errungen werden muss. Und das war sehr spannend.
Fischer: Sie sind ja nicht nur Grünen-Abgeordnete und Bundestags-Vizepräsidentin, sondern Sie stammen auch aus dem Osten. War das Thema 20 Jahre Wiedervereinigung im vergangenen Jahr dennoch eins für Sie?
Göring-Eckardt: Ja, solche Jubiläen regen ja dazu an, dass man noch mal nachdenkt, und dann redet man mit denjenigen, die so alt sind wie man selber oder älter, die es miterlebt haben, und man redet mit den Jüngeren. Und diese Geschichte am Reichstag hatte auch einen besonderen Aspekt: Clueso hat das Lied gesungen "Keinen Zentimeter" und meinte eben wirklich, kein Zentimeter passt eigentlich zwischen Ost und West. Und insofern war das etwas, was auch, glaube ich, über Generationen hinweg Wirkung erzielt hat.
Fischer: In diesem Jahresrückblick beschäftigt uns ja nicht so sehr die harte Kultur, nicht so sehr die Opernproduktionen und Ausstellungs-Highlights, sondern die gesellschaftlichen und im weitesten Sinne kulturellen Debatten, die auch hier in dieser Sendung, in "Kultur heute" vehement geführt wurden. Interessant, dass es in diesem Jahr zwei Bücher waren, die das Feuilleton wochenlang in Atem hielten: Erstens Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" und zweitens die Studie über "Das Amt" und dessen Verstrickungen in die Politik des Dritten Reiches. Auf beides kommen wir zurück, doch zuerst schlüpfen wir mit unter den Rettungsschirm der Europäischen Union und schauen aus sicherer Position, was "Die Krise" mit der Kultur, mit der EU und vor allem mit dem europäischen Gedanken gemacht hat, der zwischenzeitlich fast schon abhandenzukommen drohte. Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des Goethe-Instituts, mahnte:
"Das ist der entscheidende Punkt, zu begreifen, dass ein Zurückfallen in eine nationale Befindlichkeit wirklich keine Lösung bringt, denn damit ist Europa in seiner gesamten Substanz, im Vergleich zu den neun Zentren, die früher Peripherien waren – ob das China ist, ob das Indien ist, ob das das aufstrebende Brasilien ist – nicht mehr konkurrenzfähig. Die Vielfalt der Kultur macht unseren Reichtum aus. Aber wenn es nicht gegenseitig begriffen hat, dann, glaube ich, ist es wirklich auch um den Euro nicht so besonders gut bestellt. Denn der Euro lebt nicht alleine von einer wirtschaftlichen Situation, sondern von der Bereitschaft der Menschen, auch für andere einzustehen."
Fischer: Den irisch-deutschen Schriftsteller Hugo Hamilton haben wir schon gehört, er beschrieb – ein wenig selbstironisch – die neue Rolle der Kultur für sein krisengeschütteltes Land:
""Es gab eine ganz kreative Welle, die Kunst ist sehr lebendig geworden. Und diese Kunst betont jetzt auch die Regierung, erwähnt die Kunst sehr oft, die Schriftsteller sind die kreative Initiative in Irland, das soll Irland jetzt retten. Wir sollen in der Fantasie uns erholen."
Fischer: In Deutschland hielt und hält sich das Krisengefühl in Grenzen, doch unter der Schuldenlast der Städte und Gemeinden ächzt vor allem auch die Kultur. Den Spardruck spüren Museen und Theater in Essen, Wuppertal, Hamburg oder Bonn sehr deutlich. Ein Lichtblick im Westen: Die Kulturhauptstadt "Essen und das Ruhrgebiet 2010", eine ganze Region, 53 Städte und über fünf Millionen Menschen wollte man begeistern für die Kultur und vor allem für sich selbst. Oliver Scheytt erklärt, wie:
"Wenn wir mal hier in die Bevölkerung hineinschauen und sehen, dass mehr als 50 Prozent der Kinder an den Grundschulen Migrationshintergrund haben, dann ist es schon wichtig, nicht nur meine Kultur für alle zu sagen, sondern genau das Gegenteil zu sagen, nämlich dass es ganz viele Kulturen gibt, dass die kulturelle Vielfalt uns auszeichnet. Und genau das ist das Thema der Kulturhauptstadt 'Ruhr2010'. Aus dieser Vielfalt von 53 Städten, von 170 Nationen und 90 Sprachen, die hier gesprochen werden, eine Einheit zu machen – nicht indem wir dort die Soße drüberkippen, sondern indem wir sagen, jeder hat seine Identität und bringt sie in eine Gesamtidentität ein."
Fischer: Am Ende radelten Tausende zu den "Schachtzeichen", zu den gelben Ballons, die über ehemaligen Zechen in der Luft schwebten, und machten Hunderttausende den Ruhrschnellweg, die A40, zum Still-Leben. Die Bilder, die im Gedächtnis blieben, haben im Ruhrgebiet mit Massen zu tun, leider auch mit schlimmen Folgen, wie die Loveparade in Duisburg gezeigt hat.
Katrin Göring-Eckardt, was haben Sie aus dem fernen Berlin oder aus dem vielleicht noch ferneren Erfurt vom Kulturhauptstadtjahr mitbekommen?
Göring-Eckardt: Ja, zunächst mal bin ich bei der Eröffnung gewesen, bei Eis und Schnee, und das ist sehr beeindruckend gewesen. Und ich glaube, deutlich geworden ist, dass dieser Teil des Landes derartig multikulturell ist, dass – wie gerade gesagt – eine gemeinsame Kultur auf dieser Basis entstehen kann. Das finde ich unglaublich spannend. Ich glaube, die Region ist auch noch mal auf besondere Weise zusammengewachsen, die Menschen sind auf besondere Weise zusammengewachsen, und gleichzeitig halt diese irrsinnige Schattenseite bei der Loveparade, die Idee, dass man mit relativ geringen Mitteln großartige Wirkungen erzielen könnte für eine Stadt – das hat nicht funktioniert, sondern ist im Fiasko geendet. Und ich glaube, beides muss man bedenken, wenn man über große Ereignisse spricht. Auch natürlich, wie sind unsere Kommunen ausgestattet, was heißt das eigentlich.
Fischer: Es gibt Begriffe, die haben nicht nur im politischen Leben, sondern auch in der Kultur Konjunktur, und in diesem Jahr war das vor allem ein Wort, nämlich auch das der Nachhaltigkeit. Die positive Bilanz der Kulturhauptstadt kreiste genau darum, und die Frage ist: Wie passt das mit dem Spardruck zusammen, dem die Kommunen im nächsten Jahr und in der Zukunft ausgesetzt sind?
Göring-Eckardt: Also ich glaube, das macht wenig Sinn, das gegeneinander auszuspielen nach dem Motto, "Jetzt haben wir ein Mega-Event gehabt, und dann sind die Stadttheater in Gefahr", sondern ich denke, dass sich jede Stadt, jede Region sehr klar darüber sein muss, dass Kulturinstitutionen, kulturelle Aktivitäten sehr viel mehr zur Entwicklung und zur Identität einer Region beitragen, als man das bisher gedacht hat. Wir haben hier in Ostdeutschland ja an vielen Stadttheater große Initiativen gehabt, als sie geschlossen werden sollten oder abgebaut werden sollte oder Zusammenlegungen anstanden. Und diese Initiativen sind von Leuten getragen worden, die zum Teil selber zehn Jahre nicht im Theater waren, aber die gesagt haben, das gehört zu unserer Stadt, da ist die Kunst, da ist die Kultur und das wollen wir erhalten wissen. Und das war im Deutschen Nationaltheater Weimar ganz genauso wie in kleineren Theatern in Dessau, in Sondershausen, an anderen Orten. Und deswegen glaube ich, die großen Ereignisse, die machen den Scheinwerfer an auf das, was möglich ist, die machen den Scheinwerfer an auch für die Menschen, die sonst mit der Art von Kultur relativ wenig zu tun haben. Sie sind integrativ, und die Kultur, die wir quasi jeden Tag erleben können, die jeden Tag produziert wird in unseren Städten und Kommunen, die ist Existenz sichernd. Und das ist, glaube ich, der Punkt, über den wir uns klar werden müssen.
Fischer: Wenn Sie die Krise von etwas höherer Warte aus betrachten, Frau Göring-Eckardt, hatten Sie Sorge um Europa, um den europäischen Gedanken?
Göring-Eckardt: In der Tat ja. Ich glaube, dass die Art und Weise, wie Nationen gegeneinander ausgespielt wurden, sich gegeneinander ausgespielt haben, nicht dazu geführt hat, dass wir uns einiger gefühlt haben, stärker als Europäer gefühlt haben. Und das ist etwas, was wir wiedergewinnen müssen und wo wir noch einmal auf andere Weise deutlich machen müssen, warum ist dieses gemeinsame Europa wichtig. Dazu gehört aber eben auf der anderen Seite auch, dass die regionale Identität eine Selbstverständlichkeit hat. Also Europa der Regionen sagt man ja nicht umsonst, und regionale Identität ist etwas, was zusammenpassen muss mit dem europäischen Gedanken. Und ich sage bewusst regionale Identität, weil ich glaube, dass die Nationen dabei gar nicht so eine große Rolle spielen in Zukunft.
Fischer: Diesen verstärkten Nationalismus, wie er für einzelne osteuropäische Länder zu verzeichnen war, das ist natürlich kein Thema in Deutschland, aber – Sie haben es schon angesprochen – dieses Jahr 2010 war das Jahr einer so nicht gekannten neuen Protestkultur und eines bürgerlichen Engagements, und möglicherweise gibt es doch einen Zusammenhang mit der Eurokrise, mit einer vermeintlich unsozialen oder zumindest intransparenten Politik. Arnulf Baring jedenfalls formulierte das Defizit so:
"Eine Politik, die mehr und mehr sich als unfähig erweist oder als unwillig erweist, die vielen Strömungen der Gesellschaft vorurteilslos aufzunehmen, das ist eine ganz schlimme Sache."
Fischer: Die Bürgerinnen und Bürger wurden mündig und nahmen ihre Angelegenheiten vor Ort selbst in die Hand. Dabei ging es interessanterweise um eigentlich konservative Werte, zum Beispiel ums Bewahren. In Köln war eine Bürgerinitiative gegen den Abriss des Schauspielhauses erfolgreich. Dessen Intendantin Karin Beier sagt:
"Unser Verhältnis zur Architektur bewegt sich ja genauso, nur sehr viel langsamer wie unser Verhältnis zur Mode. Und wir sind gerade in so einem Prozess, wo diese Nachkriegsbauten anfangen, für uns anders zu blühen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wenn man in 10, 20 Jahren auf diese Gebäude blickt, dass man heilfroh sein wird, dass das Schauspielhaus nicht abgerissen worden ist."
Fischer: In Stuttgart gingen wochenlang Zehntausende gegen Stuttgart 21 auf die Straße, sehr zur Verwunderung des dort mit planenden Architekten Christoph Ingenhoven:
"Es ist schwer verständlich, wie Menschen heute behaupten können, das sei sozusagen das meist geliebte Bauwerk Südwestdeutschlands, während sie es haben einfach 40 Jahre furchtbar verkommen lassen. Sie müssen sich das Ding mal anschauen."
Fischer: Volker Lösch ist der Agit-Prop-Regisseur der Stunde, er hat seinen Stuttgarter Bürgerchor aus dem Theater einfach auf die Straße verlegt, und er sagt inhaltlich:
"Es wurden bestimmte Gutachten absichtlich nicht preisgegeben, es wurden Dinge dem Gemeinderat vorenthalten. Die wichtigste Studie, die das Ganze sehr stark infrage stellt, die schon vor zwei Jahren in Auftrag gegeben wurde und danach dann 2009 rauskam, ist jetzt erst aufgetaucht. Und das ist natürlich eine Täuschung der Öffentlichkeit und auch eine Täuschung der Politiker, die darüber befunden haben, dass das Ganze gebaut werden soll. Und dagegen gehen jetzt Tausende auf die Straße."
Fischer: Bürgerproteste gab es auch gegen Google Street View, eine zweischneidige Sache, denn warum geben andererseits Millionen von Facebook-Nutzern freiwillig ihre Daten preis? Die Schriftstellerin Juli Zeh dazu:
"Wir haben da so eine Art Verteilungskampf. Jeder möchte an diese Daten ran, der Staat möchte das, die Wirtschaft möchte das, und das schwächste Glied in diesem Spiel, in dieser Kette ist eben immer der Einzelne, ist immer der Bürger. Und deswegen verdient der eben den größten Schutz. Und da, finde ich, ist das Bewusstsein noch nicht so richtig auf der Höhe der Zeit."
Fischer: Haben Sie für dieses widersprüchliche Verhalten der Menschen im Internet-Zeitalter eine plausible Erklärung, Katrin Göring-Eckhardt?
Göring-Eckhardt: Ja, ich glaube, auf der einen Seite ist das, was wir im Internet heute haben, eine großartige Vernetzung, es ist die moderne Form der Bushaltestelle, die man früher auf dem Dorf hatte, oder des Marktplatzes, auf dem man sich getroffen hat, oder der Tante-Emma-Laden, wo Informationen ausgetauscht wurden. Und das ist in Ordnung so, das ist gut so, Dinge zu erfahren, die man sonst nicht erfahren würde, Nachrichten zu erhalten, die man auch über diejenigen, die die Nachrichten für uns filtern, nicht erfahren könnte. Also das ist etwas Großartiges. Auf der anderen Seite gehört dazu natürlich, Dinge von sich preiszugeben, manchmal mit voller Absicht und manchmal einfach nur nebenbei. Und ich glaube, da ist die Frage, wie der Datenschutz damit umgeht, wirklich eine ganz entscheidende, da hat der Staat in der Tat eine Schutzfunktion.
Fischer: Die Definition der Privatheit wird in ganz neue Bahnen gelenkt, aber vielleicht ist ja das, was wir vorher auch schon als sozusagen regionale Identität besprochen haben und regionales Engagement, die andere Seite der Medaille der Globalisierung, von der wir ja zuletzt den Eindruck hatten, sie macht etwas mit uns, das wir überhaupt nicht mehr beeinflussen können.
Göring-Eckhardt: Also ich glaube erstens nicht, dass wir Globalisierung nicht beeinflussen können, weil da sind wir immer ein Teil davon, und deswegen ist das nichts, was irgendwie über uns kommt, ohne dass wir was beeinflussen könnten. Aber in der Tat, ich glaube, dass die Proteste, dieses Auf-die-Straße-Gehen, dieses sich auch sehr direkt und ganz bewusst In-Bewegung-Setzen auch was zu bedeuten haben. Also auf der einen Seite natürlich mangelnde Transparenz – es ist so was wie die absichtsvolle Entmündigung von Bürgerinnen und Bürgern vonstattengegangen, in denen man ihnen wichtige zentrale Informationen vorenthalten hat, gerade in Stuttgart –, auf der anderen Seite aber auch das Gefühl, nicht nur am Bildschirm, nicht nur virtuell mit Menschen verbunden zu sein, sondern eben auch ganz direkt Gleichgesinnte zu treffen, mit ihnen unterwegs zu sein, am gleichen Ort zu sein, ihnen in die Augen sehen zu können, gegebenenfalls auch Gerüche zu verspüren und so weiter. Ich glaube, es gibt so etwas wie den Versuch, sich auch den alten Sinnen wieder hinzugeben, auch wenn es darum geht, aktiv zu werden, auch politisch aktiv zu werden. Beides gehört zusammen und ist eigentlich für die Demokratie eine riesige Chance.
Fischer: Wie haben Sie den Schlichtungsprozess in Stuttgart wahrgenommen – ist das mehr als Appeasementpolitik für aufgebrachte Bürger, an dessen Ende dann doch gebaut wird? Ist das eine neue Form der Mediendemokratie?
Göring-Eckhardt: Also bei dem Wort Mediendemokratie, das klingt ja immer gleich negativ, als ob was inszeniert würde. Das war ganz bewusst ja keine Inszenierung. Also wer sich das angeschaut hat – und das haben unendlich viele Menschen ja getan, die auch nicht mal reingeschaltet haben, sondern dabeigeblieben sind –, der hat ja live miterlebt, was Menschen miteinander diskutiert haben, die vorher keine Dramaturgie und keine Inszenierung abgesprochen haben. Und insofern ist es natürlich ein riesiger Fortschritt, und es ist auch deutlich geworden, wo die großen Defizite dieses Bauvorhabens sind, und man kann jetzt auch nicht sagen, nach der Schlichtung wird halt einfach gebaut, sondern da ging es tatsächlich zur Sache. Und es sind auch eine ganze Reihe Dinge im wahrsten Sinne des Wortes aufgedeckt worden, die vorher nicht klar waren.
Fischer: Einen Runden Tisch gab es auch bei einem der schwierigsten Themen des Jahres, den Missbrauchsfällen der katholischen Kirche, aber auch anderer Institutionen, die die Republik erschüttert haben. Die Schriftstellerin Liane Dirks dazu:
"Wir haben eine Gesellschaft, die sich mit dem Thema Liebe und gleichzeitig Freiheit-Aushalten nicht genügend beschäftigt und die nicht ausreichend das Nein vom Ja unterscheiden kann. Wir müssen das Neinsagen lernen, und das gleichzeitige Zulassen von Dingen, die gut sind, lernen."
Fischer: Der Augsburger Bischof Mixa hatte eine ganz andere Erklärung: Die 68er und die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft seien schuld daran, dass katholische Priester "verführbar" geworden seien. Dazu sagt der protestantische Religionswissenschaftler Friedrich Wilhelm Graf:
"Ich halte die These, dass nun der Geist der 68er für das zuständig oder verantwortlich ist, was in Einrichtungen der römisch-katholischen Kirche im Lande passiert ist, für wenig überzeugend. Wenn man sich das Schreiben des Papstes etwa anschaut für die irischen Katholiken, diese Rede vom Relativismus, das ist in der Weise absurd, als nun plötzlich die böse Welt für das verantwortlich gemacht wird, was in der Kirche passiert. Das ist im Kern verantwortungslos."
Fischer: Und Graf stellte der katholischen Kirche das denkbar schlechteste Zeugnis aus:
"Sie hat ja gar nichts getan. Sie hat gelogen, sie hat verdrängt, sie hat ignoriert, sie hat vorsätzlich Opfer betrogen. Das alles kann man nicht schönreden."
Fischer: Wie sieht am Ende dieses Jahres für Sie, Frau Göring-Eckardt, als gläubige Christin dieser Prozess aus, der stattgefunden hat?
Göring-Eckhardt: Also ich glaube, wir haben etwas sehr Schmerzvolles erlebt, an diesem Thema in unserem Land, mit der katholischen Kirche insbesondere. Das Schmerzvolle war, dass zuallererst nicht die Opfer, sondern die Täter im Mittelpunkt standen. Die Opfer haben sich entschieden, öffentlich zu werden, sie haben sich entschieden, damit auch vieles von der Qual, die sie erlebt haben, noch einmal an die Oberfläche kommen zu lassen, noch einmal durchzuleben, und haben erfahren müssen, dass letzten Endes es eine ganze Zeit lang in erster Linie darum ging, die Täter zu schützen. Und ich glaube, dass diese Erfahrung nicht nur für die Opfer selbst – für die in besonderer Weise, in besonders furchtbarer Weise –, aber für die Gesellschaft insgesamt anzusehen eine katastrophale Erfahrung war, und es hat lange gedauert, bis klar wurde, dass die Opfer im Mittelpunkt standen. Und das hat die katholische Kirche als Institution auch in besonderer Weise zu verantworten, aber es gibt natürlich auch weltliche Institutionen. Wenn wir an die Art und Weise denken, wie frühere Verantwortliche der Odenwaldschule damit umgegangen sind – nicht die heutigen, das muss man auf jeden Fall unterscheiden in diesem Fall –, erleben wir etwas Ähnliches, also eine Abschottung und einen Täterschutz, und wo wir, glaube ich, uns klar drüber sein müssen, das ist nicht zu ändern, das ist etwas, was uns als Gesellschaft auch noch weiter beschäftigen wird.
Fischer: Eine andere Religion wurde zum Buhmann in der zweiten Jahreshälfte: der Islam. Thilo Sarrazin hatte sich in seinem Buch eindeutig festgelegt, die Migranten aus islamischen Ländern sind schlechter oder gar nicht integrierbar und werden wegen ihrer vielen Kinder den IQ der deutschen Gesellschaft auf lange Sicht spürbar drücken. Schon der Titel ist eigentlich eine Provokation: "Deutschland schafft sich ab". Der Migrationsforscher Stefan Luft sagte dazu:
"Was Sarrazin tut, ist die Eugenik und den sozusagen Sozialdarwinismus und Neoliberalismus zu kombinieren. Das ist das Skandalöse. Die Integrationsdebatte steht aus meiner Sicht nicht im Zentrum seines Buches."
Fischer: Die Debatte in den Medien wurde eher auf der Metaebene geführt: Darf man so etwas in Deutschland sagen? Thea Dorn meinte, unbedingt:
"Die Integrationsdebatte kocht ja seit einigen Jahren in diesem Land, aber mit einer gewissen Radikalität, diese Fragen zu stellen, das findet nicht statt und wird vor allem, wie man ja auch jetzt wieder sieht, von der Politik massiv behindert."
Fischer: Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu fand drastische Worte für den von Sarrazin aufgebrachten muslimischen Popanz:
"In der medialen Inszenierung wird der Türke als eine Mischung aus Messerstecher und Wohnsilomucker imaginiert. Er hockt auf seinem Holzschemel, zieht an seiner Gebetskette oder geht vor einem blutrünstigen Wüstengott in die Knie. Nach dem Bau von Miniaturmoscheen rechnen sowieso ganze Dörfer mit dem baldigen Sturm der Hunnenhorden aus Kleinasien."
Fischer: Die Praktiker der Integration sagen: Deutschland ist weiter, als es die Debatte vermuten lässt. Stimmt das, Frau Göring-Eckardt?
Göring-Eckhardt: Ja, Deutschland ist erstens weiter und Deutschland hat auch durch Thilo Sarrazin nicht wirklich was Neues erfahren. Das, was in seinem Buch an Richtigem steht – Statistiken et cetera –, das haben wir vorher gewusst, das haben wir vorher diskutiert. Und natürlich kann man nicht sagen, dass mit der Integration in Deutschland alles gut läuft, sonst würden wir nicht heftig daran arbeiten und würden sich Parteien darüber streiten, wie der richtige Weg ist, und würden sich Kommunen darüber Gedanken machen, wie das bei ihnen vor Ort sinnvoll ist et cetera. Aber was anders ist, ist, dass Thilo Sarrazin das biologistische Argument in die Debatte gebracht hat, wieder, seit dem Dritten Reich, quasi zum ersten Mal auch groß gemacht hat. Das ist der Unterschied. Aber was wir als wirklich vielkulturelle, multikulturelle Gesellschaft haben, wovon wir leben, was unseren Reichtum ausmacht, auch sich in der Unterschiedlichkeit einen Reichtum erarbeitet zu haben, den niemand missen will, und gleichzeitig die Defizite nicht wegzureden, kleinzureden oder zu ignorieren, das gehört dazu. Mit dem Islam hat das, glaube ich, relativ wenig zu tun. Ich zitiere da noch mal jemanden, den ich normalerweise nicht zu meinen politischen Verbündeten zähle, aber George Bush ist derjenige gewesen, der gesagt hat: Der Islam ist eine friedliche Religion. Und den Islam als Religion dafür zu missbrauchen, zu sagen, das sind diejenigen, die als potenzielle Terroristen, als Schläger, als diejenigen infrage kommen, die bestimmte Werte unserer Gesellschaft nicht anerkennen, macht keinen Sinn. Es macht Sinn, sich die sozialen Fragen zu stellen, es macht Sinn, danach zu fragen, warum Kinder, Jugendliche aus Migrationshintergründen tatsächlich schlechtere Schulergebnisse haben et cetera, aber es macht überhaupt keinen Sinn, es den Einzelnen in die Schuhe zu schieben oder gar der Religion, die sie zum Teil noch nicht mal ausüben, in die Schuhe zu schieben.
Fischer: Sie haben es gesagt, die Eugenik – und das mindestens war in dieser Debatte unstrittig –, ist ein Feld, auf das man sich als Deutscher nicht begeben sollte, denn die Schatten der Vergangenheit sind lang und sie reichen weit. Das brisante Buch "Das Amt" wollte mit dem Mythos eines in der Nazizeit sauber gebliebenen deutschen diplomatischen Dienstes aufräumen. Der Historiker Norbert Frei hat an dem Werk mitgeschrieben:
"Das Auswärtige Amt im Dritten Reich war das Auswärtige Amt des Dritten Reiches. Die Fakten, insbesondere was die Beteiligung am Holocaust angeht, das hat mich nicht überrascht, aber ich gebe zu, dass die Hartnäckigkeit, mit der die Legenden bis wirklich in die 90er-Jahre, ja fast in die Gegenwart hinein weiterwirken, da war dann auch jemand wie ich dann doch das ein oder andere Mal auch schon wieder verblüfft."
Fischer: Hans Mommsen, Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft, widersprach heftig: Alles nichts Neues, monierte er, nur jetzt einseitig zusammengestellt:
"Die Schilderung der Entwicklung des Auswärtigen Amtes bezüglich der Judenverfolgung enthält massive Fehler, zum Beispiel den, dass bereits Außenminister Ribbentrop mit Hitler am 13. September 1941 die Deportation der deutschen Juden beschlossen hätte und damit auch das Amt direkt in den Holocaust eingeschaltet hätte – alles das ist so nicht haltbar, wie überhaupt an die Stelle einer sorgfältigen schrittweisen Analyse der Radikalisierung der Judenverfolgung und der verschiedenen Formen der Verstrickung eine eher pauschale ideologiegeschichtliche Vorabbewertung vorgenommen wird."
Fischer: Der Historiker Götz Aly fand eine Art Ausgleich, seine These von der Verstrickung aller Institutionen ist nicht von der Hand zu weisen:
""Klar ist eben auch, dass sehr, sehr viele Leute in sehr, sehr vielen deutschen Institutionen diesem großen Verbrechen zugearbeitet haben. Und das Verdienst des Buchs über das Auswärtige Amt ist es, dass es diese Amtslüge, dieses Märchen, das Auswärtige Amt hätte sich anders verhalten als gewöhnliche deutsche Institutionen, diese Lüge ist nun beendet. Das ist auch alles."
Fischer: Andere Zeit, anderer Ort, noch eine schockierende Verstrickung: die Securitate-Zuarbeit des Schriftstellers Oskar Pastior. Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin und langjährige Freundin Oskar Pastiors:
"Pastior war im Schweigen in allen Bereichen so geübt. Wenn man jahrzehntelang jeden Tag Angst hat, dass man verhaftet wird, die Einsamkeit des Schweigens lernt man dann. Ich bin auch wütend auf diese schreckliche Zeit, auf diese Diktatur, die einen sensiblen, integren Menschen zu solchen Dingen gezwungen hat."
Fischer: Subjektive Wut kann eine Verarbeitungsstrategie sein, historische Feinst-Analyse wie bei "Das Amt" ist etwas anderes. Deutschland hat in ganz Europa einen hervorragenden Ruf, was die Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft, die Kritik an "Das Amt" zielte aber auch auf sozusagen staatlich bestellte Geschichtsforschung. Halten Sie das für eine gefährliche Entwicklung, Frau Göring-Eckhardt?
Göring-Eckhardt: Nein, gefährliche Entwicklung nicht, sondern eher im Gegenteil, dass wir Aufarbeitung auf allen Ebenen betreiben wollen und auch betreiben müssen, und dass wir zwei deutsche Diktaturen haben, die wir uns anschauen, wo wir uns auf der einen Seite natürlich anschauen diejenigen, die als aktive Täter in den Fokus geraten sind und die auch tatsächlich Verantwortung übernehmen müssen, aber dass wir uns auf der anderen Seite sowohl die Institutionen anschauen als auch den Alltag der Diktatur – und diejenigen, die mitgemacht haben, die Diktatur unterstützt haben, die sie dadurch erst möglich gemacht haben. Ich glaube, dass es zusammengehört und sich von den eigenen Kindern oder in der Öffentlichkeit fragen zu lassen, was ist dein Weg gewesen, was hast du getan, was hast du unterlassen, das gehört dazu.
Fischer: Und natürlich ist die deutsche Vergangenheit immer auch eine Verpflichtung, die uns für die Gegenwart aufgegeben ist. Das betrifft zum Beispiel das Engagement Deutschlands in bewaffneten Konflikten oder im Krieg. Wie sehen Sie dieses Engagement, mit Sorge oder auch eher mit Zuversicht, etwa in Afghanistan?
Göring-Eckhardt: Also ich glaube, auch da gehört immer beides zusammen, dass wir keine Selbstverständlichkeit haben, in eine militärische Auseinandersetzung zu gehen, egal wo, auch nicht in Afghanistan. Dass wir als Parlament darüber immer wieder entscheiden, dass die Öffentlichkeit darüber glücklicherweise heftigst diskutiert, das gehört mit dem Umgang mit der Vergangenheit zusammen. Und insofern, ich habe darüber abgestimmt, abstimmen müssen könnte man vielleicht sagen, und habe es, wenn ich zugestimmt habe – das habe ich am Anfang getan bei der Auseinandersetzung in Afghanistan – immer mit dem Wissen getan, dass ich nicht weiß, ob diese Zustimmung richtig ist, dass ich nicht weiß, wie die Erfolgsaussichten sind. Und ich bin zunehmend skeptischer geworden und konnte diesem Einsatz auch meine Zustimmung nicht mehr geben, weil er einseitig zu stark militärisch ist und weil der zivile Aufbau, die zivilen Möglichkeiten mitnichten ausgeschöpft worden sind und weil wir unsere Anstrengungen im zivilen Bereich in keiner Weise in einer Art betrieben haben, wo man sagen könnte, das ist mindestens so gut wie der militärische Teil, das ist mindestens mit so viel Intensität, mit so viel Geld versehen et cetera.
Fischer: Einer, der sich zuletzt sehr für den Brückenbau durch Kultur engagiert hat, das war Christoph Schlingensief, und an ihn sollten wir am Ende dieser Sendung noch erinnern, der im August an Krebs gestorben ist. Über das von ihm geplante Operndorf in Burkina Faso sagte er:
"Und ich hab in diesem Operndorf gerade, glaube ich, das größte Glück erfahren, wir haben fünf Hektar Land bekommen, wir fangen an mit der Schule, wir bauen das auf für die Knirpse. Und wir können das beobachten. Wir können mal ab und zu abends im Computer reingucken, was machen die da gerade. Ich glaube, das ist das Lernen. Dann merkt man auch den Wert Afrikas. Es ist so wichtig zu wissen, dass wir da was mitnehmen dürfen. Wir nehmen nicht nur die Rohschätze mit, das haben wir ja immer gemacht, wir haben die ausgebeutet, nein, wir nehmen jetzt auch mal was mit, was uns für die Zukunft retten kann."
Fischer: Wir enden also mit der Kultur und mit einer an sich tröstlichen Botschaft. Was wäre, Katrin Göring-Eckhardt, die frohe oder tröstliche Botschaft, die die Kultur in Ihren Augen bereithält?
Göring-Eckhardt: Also ich will an Christoph Schlingensief als Menschen vielleicht da anknüpfen. Ich glaube, das ist einer, der hat gezeigt, dass Engagement und unendliche Leidenschaft tatsächlich die Welt verändern können, und Sie können das mit den Mitteln der Kultur auf ganz besondere Weise. Und diese Leidenschaft, diesen Glauben an Veränderung, den wünsche ich uns.
Fischer: Dann danke ich ganz herzlich Ihnen fürs Dabeisein und für Ihre Gedanken hier im "Jahresrückblick Kultur heute".