In Wirklichkeit ist das Küssen komplizierter als im Film. Zwischen Kuß und Kuß können Welten liegen. "Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes, denn seine Liebe ist lieblicher als Wein", lautet der berühmte erste, tautologische Satz des Hohenlieds Salomons in der Übersetzung Martin Luthers. "Und so im Kusse sterb ich", ist der letzte Satz, den Romeo bei Shakespeare am Grab der vermeintlich toten Julia spricht. Ohne tragische Aufladung, dafür mit systematischer Genauigkeit wird das Küssen im indischen Liebeshandbuch Kamasutra kommentiert. Wiewohl in einer anderen Welt und einer entfernten Epoche entstanden, haben die altorientalischen Regeln zum Kußverkehr verblüffende Ähnlichkeit mit den entsprechenden Passagen aus dem Kinsey-Report.
"Wenn der eine mit seiner Zunge die Zähne, den Gaumen und die Zunge des anderen berührt, so ist das der Zungenkampf", schreibt der Autor des Kamasutra und fährt fort. "Der eine kann der oder die Geliebte sein, wer gerade dabei ist, diesen Kuß zu küssen. Er soll mit seiner Zunge oben und unten die Zähne berühren, das heißt reiben. Den Gaumen soll er mit der Zunge berühren, indem er sie nach oben streckt, und die andere Zunge berührt, indem er die seine geradeaus streckt. Der Zungenkampf ist eine gegenseitige Tätigkeit. - Sie ist von vierfacher Art: Küssen des Mundinnern, Zähnekuß, Zungenkuß und Gaumenkuß."
So geht der Kuß, Geste physischer Grenzüberschreitung, kreuz und quer durch die Geschichte der Menschheit - und, was Otto F. Best, dem Verfasser einer Geschichte des Küssens, wichtig zu sagen ist: Der Kuß führt über die Menschheit hinaus, bzw. vor diese zurück. Er wurde vom Menschen zwar zur hohen Kunst des Küssens entfaltet, deren Meisterin Kleopatra gewesen sein soll. Er wurde metaphorisiert zum Musenkuß und zum Judaskuß. Er wurde idealisiert im Handkuß, im sakralen Stirnkuß, im gehauchten Wangenkuß, er wurde brutalisiert durch die Praktiken Graf Draculas und seiner Kollegen. Aber trotz allem ist der Kuß keine Erfindung der Zivilisation, sondern als antropomorphe Konstante ein Mitbringsel aus dem Tierreich. Schimpansen, unsere unmittelbaren Vorfahren, sind vorbildliche Küsser. Nach einem spektakulären Kampf versöhnen zwei Schimpansenmännchen sich auf folgende Weise: "Sie begrüßten einander überschwenglich, umarmten sich, beklopften sich gegenseitig und küßten einander auf den Hals, bevor sie sich niederließen und sich gegenseitig lausten."
Der Kuß ist also eine universale Geste, besser ein universales Zeichen, wurzelnd in der Biologie, hervorgegangen aus den oralen Fütterungsakten der Säugetiere. Der Kuß, sagt Otto F. Best an einer unaufälligen Stelle seines gelehrten Buches, sei ein "Sammelbegriff". Aber wie stellt man einen Sammelbegriff dar, wenn dessen Form und dessen Sinn ins Uferlose gehen? Denn das Universale tendiert zur Gestalt des Amorphen. Mit Bedacht nennt Otto F. Best, der bis vor zwei Jahren als Proefessor für Literaturwissenschaft an der Universität Maryland tätig war, sein Buch "Der Kuß" im Untertitel nicht "Kulturgeschichte". Denn dieser Begriff assoziiert die chronologisch stringente Entwicklung eines Gegenstandes, der Kuß hingegen wandert nicht in schöner Übersichtlichkeit durch die Historie, er wuchert, er breitet sich sternenförmig in ihr aus. Das Buch über den Kuß hat eine evidente Form. Es besteht aus einer Kette konzentrischer, sich überschneidender, miteinander korrespondierender Kreise, es geht nicht chronologisch, sondern motivisch vor. Einen solchen Text, einen Text ohne bündelnde Mittelachse zusammenzuhalten, ist ein Kunststück theoretisch-essayistischen Schreibens. Dessen Genuß wird noch dadurch erhöht, daß Otto F. Best über einen eleganten, unakademischen Stil verfügt und über jenen Ton der Beiläufigkeit, der den Leser sofort in sympathische Augenhöhe zum Thema versetzt. Keine Hauptthese des Küssens verfolgt der Autor, er fertigt ein großes, interdisziplinäres Gemälde an, dessen Rahmen jederzeit sichtbar bleibt, auch wenn es um Feinheiten wie die Kußunterschiede zwischen der christlichen und der judäischen Religion geht. Dieser Rahmen ist der Gedanke, daß sich menschliche Natur und Kultur in bestimmten Äußerungsformen als identisch erweisen. Eine davon ist der Kuß.
"Wenn der eine mit seiner Zunge die Zähne, den Gaumen und die Zunge des anderen berührt, so ist das der Zungenkampf", schreibt der Autor des Kamasutra und fährt fort. "Der eine kann der oder die Geliebte sein, wer gerade dabei ist, diesen Kuß zu küssen. Er soll mit seiner Zunge oben und unten die Zähne berühren, das heißt reiben. Den Gaumen soll er mit der Zunge berühren, indem er sie nach oben streckt, und die andere Zunge berührt, indem er die seine geradeaus streckt. Der Zungenkampf ist eine gegenseitige Tätigkeit. - Sie ist von vierfacher Art: Küssen des Mundinnern, Zähnekuß, Zungenkuß und Gaumenkuß."
So geht der Kuß, Geste physischer Grenzüberschreitung, kreuz und quer durch die Geschichte der Menschheit - und, was Otto F. Best, dem Verfasser einer Geschichte des Küssens, wichtig zu sagen ist: Der Kuß führt über die Menschheit hinaus, bzw. vor diese zurück. Er wurde vom Menschen zwar zur hohen Kunst des Küssens entfaltet, deren Meisterin Kleopatra gewesen sein soll. Er wurde metaphorisiert zum Musenkuß und zum Judaskuß. Er wurde idealisiert im Handkuß, im sakralen Stirnkuß, im gehauchten Wangenkuß, er wurde brutalisiert durch die Praktiken Graf Draculas und seiner Kollegen. Aber trotz allem ist der Kuß keine Erfindung der Zivilisation, sondern als antropomorphe Konstante ein Mitbringsel aus dem Tierreich. Schimpansen, unsere unmittelbaren Vorfahren, sind vorbildliche Küsser. Nach einem spektakulären Kampf versöhnen zwei Schimpansenmännchen sich auf folgende Weise: "Sie begrüßten einander überschwenglich, umarmten sich, beklopften sich gegenseitig und küßten einander auf den Hals, bevor sie sich niederließen und sich gegenseitig lausten."
Der Kuß ist also eine universale Geste, besser ein universales Zeichen, wurzelnd in der Biologie, hervorgegangen aus den oralen Fütterungsakten der Säugetiere. Der Kuß, sagt Otto F. Best an einer unaufälligen Stelle seines gelehrten Buches, sei ein "Sammelbegriff". Aber wie stellt man einen Sammelbegriff dar, wenn dessen Form und dessen Sinn ins Uferlose gehen? Denn das Universale tendiert zur Gestalt des Amorphen. Mit Bedacht nennt Otto F. Best, der bis vor zwei Jahren als Proefessor für Literaturwissenschaft an der Universität Maryland tätig war, sein Buch "Der Kuß" im Untertitel nicht "Kulturgeschichte". Denn dieser Begriff assoziiert die chronologisch stringente Entwicklung eines Gegenstandes, der Kuß hingegen wandert nicht in schöner Übersichtlichkeit durch die Historie, er wuchert, er breitet sich sternenförmig in ihr aus. Das Buch über den Kuß hat eine evidente Form. Es besteht aus einer Kette konzentrischer, sich überschneidender, miteinander korrespondierender Kreise, es geht nicht chronologisch, sondern motivisch vor. Einen solchen Text, einen Text ohne bündelnde Mittelachse zusammenzuhalten, ist ein Kunststück theoretisch-essayistischen Schreibens. Dessen Genuß wird noch dadurch erhöht, daß Otto F. Best über einen eleganten, unakademischen Stil verfügt und über jenen Ton der Beiläufigkeit, der den Leser sofort in sympathische Augenhöhe zum Thema versetzt. Keine Hauptthese des Küssens verfolgt der Autor, er fertigt ein großes, interdisziplinäres Gemälde an, dessen Rahmen jederzeit sichtbar bleibt, auch wenn es um Feinheiten wie die Kußunterschiede zwischen der christlichen und der judäischen Religion geht. Dieser Rahmen ist der Gedanke, daß sich menschliche Natur und Kultur in bestimmten Äußerungsformen als identisch erweisen. Eine davon ist der Kuß.