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Der lange Arm der Paten

Bis in die Spitze des Staates soll die Macht der Mafia reichen. "Cosa Nostra", verfasst vom britischen Historiker und Journalisten John Dickie, versucht das Verhältnis der ehrenwerten Gesellschaft zum italienischen Staat zu beschreiben. Ihm ist eine ausführliche und sehr schlüssige Darstellung gelungen.

Von Hans-Martin Lohmann |
    Das letzte authentische Foto von Bernardo Provenzano datierte aus dem Jahr 1959; in der Öffentlichkeit kursierten nur Phantombilder. Aufmerksamen Beobachtern entging nicht, dass die Festnahme des Verbrechers exakt zu dem Zeitpunkt gelang, als die Wahlniederlage der amtierenden Regierung Berlusconi besiegelt war. Auf die Frage, warum sich der oberste Mafiaboss 43 Jahre lang versteckt halten konnte, antwortete Leoluca Orlando, der frühere Bürgermeister von Palermo:

    "Er hätte das nicht so lange geschafft, wenn es kein System dahinter gegeben hätte. Provenzano ist ja nicht einfach nur ein Krimineller, er ist die Nummer eins eines richtigen Gewaltsystems. Er hatte Beziehungen zu Leuten und Freunden innerhalb des Systems, also im Staat.""

    Noch deutlicher wurde ein Bericht, den "Die Zeit" am 20. April druckte:

    "In Sizilien weiß jedes Kind, dass Bernardo Provenzano 1993 [...] mit Forza Italia einen Pakt ausgehandelt hat. Der Mafiaboss bot seine Unterstützung und einen Verzicht auf weitere Gewalt an - und forderte dafür Garantien: das Ende der Strafverfolgung und des politischen Drucks auf die Mafia, das Ende der Beschlagnahme von Mafiagütern und die Abschaffung der Kronzeugenregelung für abtrünnige Mafiosi. Aktenkundig ist dies seit dem Mafiaprozess gegen Marcello Dell’Utri, der Berlusconis rechte Hand war. Dell’Utri, Gründer von Forza Italia, Europaparlamentarier und Senator, wurde wegen Unterstützung einer mafiosen Vereinigung im Dezember 2004 in erster Instanz zu neun Jahren Haft verurteilt."

    Auch in dem Buch des englischen Historikers und Journalisten John Dickie ist ein Phantombild Bernardo Provenzanos wiedergegeben. Man kann dieses Bild durchaus als symbolträchtig begreifen, denn die längste Zeit galt die Mafia bei vielen als bloßes Gerücht oder als Vorurteil über die historischen Besonderheiten Siziliens und des sizilianischen Sozialcharakters, eben als Phantom, das nicht wirklich zu fassen war. Tatsächlich gab es immer wieder Stimmen, die die Existenz der Mafia überhaupt infrage stellten und sie als böswillige Erfindung von Leuten abtaten, die nichts über Sizilien wissen. Es ist eines der zentralen Anliegen des Buches von Dickie, solchen Mystifikationen und Verharmlosungen entgegenzutreten und zu zeigen, dass die Mafia von Anfang an eine kriminelle Vereinigung war, die man keineswegs mit einem angeblichen sizilianischen Sozialcharakter in Verbindung bringen kann. Ebenso klar wendet sich der Autor gegen die verbreitete Auffassung, die Mafia habe etwas mit typischen Vorstellungen von "Stolz" und "Ehre" zu tun und gründe in den eigentümlichen historischen Traditionen Siziliens, womöglich gar in Traditionen des Widerstands gegen fremde Invasoren. Für irgendwelche sozialromantischen Vorstellungen, die das mafiose Verbrechertum etwa als eine Geschichte von Eifersucht, Ehre und Rache im Kontext einer bäuerlichen Gesellschaft schönfärben, wie es Mascagnis populäre Oper "Cavalleria rusticana" tut, ist in der nüchternen Darstellung von Dickie kein Platz.

    Ganz im Gegenteil legt der Autor dar, dass die Mafia in genau dem Moment auf den Plan trat, als im Zuge der turbulenten Einigung Italiens um 1860 das politische System und die sozialen Strukturen Siziliens tiefgreifende Veränderungen erfuhren. In dem Maße, wie es den neuen Herren des vereinigten Italien, die aus dem Norden der Halbinsel kamen, nicht gelang, das staatliche Gewaltmonopol wirksam durchzusetzen, etablierte sich eine außerlegale Gewaltstruktur, die bis heute Mafia heißt. Für Dickie ist klar:

    "Die Mafia und die neue italienische Nation wurden gemeinsam geboren."

    Geburtsort von Cosa Nostra war die fruchtbare und reiche Gegend um Palermo, die Conca d’oro, in der große Zitrusplantagen und moderne kapitalistische Exportunternehmen für Zitrusfrüchte angesiedelt waren. In diesem alles andere als rückständigen Wirtschaftssektor konnten kriminelle Elemente Fuß fassen, die sich darauf spezialisierten, durch Gewaltandrohung Schutzgelder zu erpressen und Gewalt regelrecht als Dienstleistung anzubieten. In großen narrativ gehaltenen Kapiteln seines Buches schildert Dickie exemplarisch, wie sich in einem Geflecht von Drohung und Einschüchterung, von Abhängigkeit und Akzeptanz ein Milieu herausbildete, in das Geschäftsleute ebenso eingebunden waren wie die örtliche Polizei und politische Instanzen. Indem Gewalt selber zu einer Form von Kapital wurde, das jederzeit eingesetzt werden konnte, indem also eine florierende Gewaltindustrie entstand, avancierte die Mafia zu einem Staat im Staate mit eigenem Gewaltmonopol und eigenen Gesetzen und zugleich zu einem profitablen Wirtschaftsunternehmen, dessen Mitglieder freilich wie eine Geheimgesellschaft organisiert sind. Über das Innenleben der Mafia, über ihre eigentümlichen Hierarchien, Autoritätsstrukturen und Rituale kann man bei Dickie eine Menge erfahren.

    Der eigentliche Skandal aber ist nicht die Mafia als solche - das organisierte Verbrechen ist keine Spezialität Süditaliens, sondern eine Plage aller modernen kapitalistischen Gesellschaften -, vielmehr, wie Dickie schreibt, die Tatsache,

    "in welch großem Umfang der italienische Staat sich zum Komplizen der Mörder gemacht hat."

    Obwohl es schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts akribische und detaillierte Untersuchungen über Existenz und Organisationsform der Mafia gab, die von unbestechlichen Staatsanwälten und Polizeipräfekten wie Ermanno Sangiorgi vorgelegt wurden, verhielt sich der Staat lange Zeit merkwürdig passiv. Offenbar gab es zu viele Politiker in Palermo und Rom, die aus ihren Verbindungen zur Mafia politisches und wirtschaftliches Kapital schlugen. In der Tat gerät man ja ins Grübeln, wenn Namen wie der des mehrmaligen früheren Ministerpräsidenten Giulio Andreotti von der ehemaligen Democrazia Cristiana oder der des gerade abgewählten Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi immer wieder mit Figuren und Machenschaften aus dem Dunstkreis der Mafia in Verbindung gebracht werden. Nicht zuletzt Berlusconi steht für einen politischen Stil des Klientelismus, das heißt der Vetternwirtschaft, und des wechselseitigen Gebens und Nehmens, der zum Markenzeichen von Cosa Nostra gehört. Das von Dickie gezogene Resümee ist wenig erbaulich:

    "Der italienische Staat verhielt sich der sizilianischen Mafia gegenüber über ein Jahrhundert lang zumindest sehr ignorant. [...] Die Mafia war deutlich zu sehen und doch versteckt. Deshalb geben dieses Versäumnis und diese Ignoranz eine viel umfangreichere Geschichte ab, als wenn nur wenige Personen in einer Mantel-und-Degen-Verschwörung die Wahrheit verborgen gehalten hätten."

    Eine wirkliche Wende im Verhältnis von Mafia und Staat zeichnete sich erst in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ab, als nach einer Reihe blutiger Mordtaten die mit Sondervollmachten ausgestatteten Ermittler Giovanni Falcone und Paolo Borsellino drakonisch gegen die Mafia vorgingen. Mithilfe eines so genannten Pentito, eines aussagewilligen Überläufers von Cosa Nostra, gelang es in einem gigantischen Prozess, nicht nur zahlreiche Verbrecher und ihre mafiosen Hintermänner zu verurteilen, sondern auch das erschreckende Ausmaß der Verfilzung von Polizei, Justiz und Politik mit dem System der Mafia offen zu legen. Seitdem ist es auch in Italien nicht mehr möglich, die Existenz der Mafia einfach zu leugnen. Falcone und Borsellino gehörten, wie es einmal ein britischer Historiker ausgedrückt hat, zu den "wenigen Rechtschaffenen" im italienischen Staat, die einfach nur an die Herrschaft des Gesetzes glaubten und dieser zum Durchbruch verhelfen wollten. Im Frühsommer 1992 wurden beide Opfer von Killerkommandos der Mafia.

    In dem kleinen westsizilianischen Ort Montelepre, mitten in Cosa-Nostra-Land, stößt man als Tourist auf einen seltsamen Kontrast. Zum ehrenden Andenken an die mutigen Antimafia-Ermittler hat man dort eine Straße nach Falcone und Borsellino benannt. Ein paar Schritte weiter kann man im Zigarettenladen Fotos und Devotionalien kaufen, die an den Verbrecher und Massenmörder Salvatore Giuliano erinnern, der auf dem örtlichen Friedhof begraben liegt. An seinem Grab kann man sich in ein Kondolenzbuch eintragen. So lange dieser Kontrast existiert, lebt die Mafia weiter. John Dickies Buch weist den historischen Weg von der Goldküste Palermos zu jenem Grab und zu jener Straße in Montelepre. Eine so stringente, nach den Quellen gearbeitete Darstellung der Geschichte der Mafia von ihren Anfängen bis heute hat es zumindest in Deutschland bislang nicht gegeben.

    John Dickie: Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia
    S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006
    560 Seiten
    19,90 Euro