Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Der österreichisch-amerikanische Sozialphilosoph Ivan Illich ist gestorben

Als ich Ivan Illich zuletzt sah, es ist schon einige Jahre her, hatte er eine Hühnerei große Geschwulst im Gesicht. Er kam nicht auf Idee sie sich wegoperieren zu lassen. Leben war für ihn nie ohne Schatten. Leidenschaft konnte er sich ohne Leiden nicht vorstellen.

Autor: Reinhard Kahl | 03.12.2002
    Als ich Ivan Illich das erste Mal traf, ich war Student , Anfang der 70er Jahre, hatten wir sofort eine leidenschaftliche Diskussion. Es ging um das Verhängnis einer bestimmten Art von Schule, die Handeln und Denken nicht stimuliert. Zwei Wochen später kam von ihm ein Aufsatz aus Cuernavaca in Mexiko, gewidmet diesem Studenten, der die Grundidee gab. Ivan Illich war treu und verlässlich.

    In den 70er Jahren war er einer der weltweit meist beachteten Kritiker von Technik und Bildung. Ein Prophet des zu Ende gehenden Industriezeitalters, als noch wenige Nachrufe auf diese Epoche gehalten wurden, ein Visionär einer selbstbegrenzten Lebensweise. In den vergangenen Jahren war es leise um ihn geworden. Nicht dass sich niemand mehr für ihn interessierte, aber er selbst zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück, das er für falsch hielt. Für falsches Leben standen die Medien.

    Ivan Illich war einer von den geistigen Aristokraten, eine Spezies, die wenig Nachwuchs hat. Was an diesen Aristokraten so fasziniert ist ja, dass man bei ihnen nicht fragt, was sie sind, sondern wer sie sind.

    Aufgewachsen ist er an der östlichen Adriaküste und in Wien. Sein Vater, ein Katholik aus Dalmatien. Seine Mutter Wiener Jüdin, die sich evangelisch taufen ließ. In Florenz macht er Abitur, studierte zuerst Chemie, dann Philosophie und Theologie am Collegium Romanum, der päpstlichen Lehranstalt. 1950 wurde er zum Priester geweiht. Bei seinen Studien im Vatikan muss der spätere Theorie Star, der 8 Sprachen sprach, wohl schon geleuchtet haben: Alle Abschlüsse summa cum laude. Der 25jährige bereitete gerade seine Habilitation über Albertus Magnus vor, wird an die amerikanischen Elite-Unis Princeton und Harvard eingeladen und gibt seine akademischen Pläne abrupt auf, als er in New York eingetroffen, dort mit dem Elend der Puerto Ricaner konfrontiert wird. Ivan Illich wirft, wie mehrfach in seinem Leben alles um, arbeit als Armenpriester in Manhattan`s Upper West Side. Er will eben kein Christus Epigone sein, kein gesalbter Nachschwätzer, kein Verräter an den eigenen Überzeugungen. Seine Passion wird mehr und mehr die Welt ändern zu müssen, ja der Glaube, sie erfolgreich von ihren empfindlichen Punkte aus ändern zu können. Einer ist die Dritte Welt.

    Nach wenigen Jahren Priester in den Slums wird er Vizekanzler der katholischen Universität Santa Maria in Puerto Rico. Man nennt ihn bald den Rousseau Lateinamerikas. Der Vatikan blickt skeptisch auf seinen einstigen Musterschüler. 1960 gründet Illich seine eigene, wie er sie nennt "Denkerei", aus der fünf Jahre später das internationale Forschungs- und Dokumentationszentrum CIDOC in Cuernavaca, Mexiko, wird. Nach zehn Jahren CIDOC löst er diese Einrichtung auf, weil er ahnte, dass man die unvergleichbare Aura dieses Ortes nicht auf Dauer stellen könnte. Institutionen verklumpen und mutieren zu ihrem Gegenteil. Inzwischen hatte er nach Eröffnung eines kirchlichen Verfahrens alle priesterlichen Würden abgelegt. In Cuernavaca, vor allem bei seinen Vorträgen und Gesprächen in aller Welt, entwirft Illich seine Kritik am Schulsystem und später an der modernen Medizin. Die Schule sei zu einer der mächtigsten Fesseln menschlicher Intelligenz und Freiheit geworden. Man werde dort seines Eigenen beraubt und geistig kastriert. Ähnlich seine ätzende Kritik an der Medizin, die zur Hauptgefahr für die Gesundheit geworden sei, oder am Transportwesen, das auf den finalen Stau zu rase. Seine Gegenvorschläge hießen Selbstbegrenzung und die Kultivierung einer, wie er sie nannte "konvivialen Technik".

    Aber Illichs großer Entwurf einer "politischen Kritik der Technik", sein Vertrauen auf die ansteckende Kraft seiner Haltung, auch die gewiss problematische Option auf eine bevorstehende Zusammenbruchskrise des Industriesystems, schließlich Selbstbegrenzung, seine Therapie, dies alles führte nicht zu dem erwarten Erfolg, einer großen Menschheitskehre.

    Er zog sich zurück, übernahm seit 1979 Gastprofessuren vor allem in Deutschland, zunächst in Kassel und Marburg, dann in Bremen, wo er schließlich eingebürgert wurde. Dort gibt es auch CROP, den Circle for Research on Proportionality, ein Freundeskreis um Ivan Illich, zu dem Intellektuelle, zumeist Hochschullehrer, wie Barbara Duden und Johannes Beck gehören. In einer Villa in Bremens Ostertorviertel, die er mit Freunden bewohnte, gab es berühmte Spagetti Essen, Hausmusik und vor allem Gespräche. In der Hausbibliothek liegt das Exemplar einer Festschrift, die seine Freunde für ihn vor 11 Jahren zum 65. Geburtstag geschrieben haben. Sie ist gedruckt, aber es gibt nur ein einziges Exemplar.

    Link: mehr ...

    419.html