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Der Pathos des Chaotischen

1969 brach der schweizer Museumsleiter und Kurator Harald Szeemann in Bern mit den traditionellen Ausstellungsformaten. "Live in Your Head - When Attitudes Become Form" war inszeniertes Chaos. Man sollte es riechen, hören und tasten können. In Venedig ist die jetzt ein Remake dieser wegweisenden Ausstellung zu sehen.

Von Carsten Probst |
    Eines stellt Kurator Germano Celant von Beginn an klar: Dies ist keine Kopie der legendären Ausstellung von Harald Szeemann aus dem Jahr 1969. Es geht nicht um Nostalgie, sagt er, und das bemerkt man schon daran, dass im Vergleich die großen Kunstwerke im Außenraum fehlen, die damals vor der Berner Kunsthalle aufgebaut waren. Aber authentische Wiederholung wäre ohnehin unmöglich.

    Denn Szeemann brach in der Berner Kunsthalle mit den traditionellen Ausstellungsformaten. "Live in Your Head - When Attitudes Become Form" war inszeniertes Chaos. Man sollte es riechen, hören, tasten können, eine wollüstige Feier des Ephemeren, der zufälligen Bedeutungen quer durch alle Medien, Materialien, Formen: Feuer, Wasser, Wachs und Margarine, Leder, Fell, zerrissene Zeitungen, kaputtes Glas, ein Bulldozer und viele zittrige Filme. Die Installationen gehörten jeweils völlig unterschiedlichen Traditionen und Ästhetiken an, aber Kunststile waren für Szeemann nicht das Kriterium der Auswahl. Er wollte, dass die Kunst den Raum erobert, dass sie den Betrachter zwingt, sich mit ihrer Entstehung, ihren Materialien auseinanderzusetzen und mit dem Alltag, aus dem diese Kunst erwuchs.

    44 Jahre später, in der Fondatione Prada in Venedig, ist die Situation eine ziemlich andere. Szeemanns Pathos des Chaotischen polarisiert und provoziert nicht mehr. Die damals meist weitgehend unbekannten Teilnehmer wie Richard Artschwager, Eva Hesse, Lawrence Weiner, Richard Serra, Mario Merz, Aligiero Boetti, Bruce Nauman, Robert Morris oder Hanne Darboven sind heute als Klassiker der zweiten Moderne gesetzt und erzielen Höchstpreise auf dem Kunstmarkt. Was 1969 das Momentum einer neuen Kunst war, lässt sich nicht als Momentum wiederholen – und doch ereignet sich dabei Einleuchtendes am Canale Grande.

    Rem Koolhaas hat den Grundriss der modernen Berner Kunsthalle mit ein paar Tricks in den völlig andersartigen Grundriss der Fondatione Prada hineinprojiziert. Der deutsche Künstler Thomas Demand hat die Innenraummaße mitsamt Details der ursprünglichen Gestaltung aus Bern bis hin zu Wandnischen und Heizkörpern mitten in den mosaikgepflasterten und mit Wandmalereien verzierten Räumen des venezianischen Palazzo nachgebildet. Der Besucher wird durch verschiedene Etagen geführt und aufgefordert, sich vorzustellen, er sei im Erd- oder ersten Geschoss der Berner Kunsthalle. Das bleibt spekulativ, eher ein Readymade, als eine Rekonstruktion, sagt Germano Celant. Aber die Wirkung der Werke in den Räumen verblüfft doch.

    1969 rückt 2013 plötzlich ganz nah. Gary Kuehns "Wedge Piece" aus gewelltem, gelblichem Kunststoff von 1968 entfaltet sich neben Reiner Ruthenbecks drahtbewehrtem "Aschehaufen" als seltsame rhetorische Form; Papierfelder von Eva Hesse schichten sich wie eine höchst zerbrechliche, dünne Architektur auf dem Parkettboden, in eine Wandnische drängt sich ein "Werksatz" aus weißen Papierpaketen von Franz Erhard Walther. Carl Andrés inzwischen so wohlbekannte, minimalistische Bodenlegearbeiten erhalten in dieser Umgebung einen ungeahnt aufrührerischen, expressiven Ausdruck.

    Die Nennung von Einzelwerken kann die Gesamtwirkung des Parcours nicht hinreichend verdeutlichen - ebenso wenig den Einfluss, die Faszination, den diese Ausstellung als Kristallisationspunkt einer Epoche auf Künstler der nachfolgenden Generation seit 1970 ausübt, bis heute. Jedes Einzelwerk von damals ist unter diesen Künstlern bis heute bekannt. Der neue Aufschwung von Performance und Installation ist ohne Szeemanns über die Zeit hinausweisende Pioniertat nicht denkbar. Gerade das macht das Faszinosum des venezianischen Remakes aus.