Archiv


Der Philosoph aus Chicago

Chicago blieb seine Stadt fürs Leben. Zwar wurde Saul Bellow hier nicht geboren, doch prägte die Metrople den jüdischen Schriftsteller entscheidend. Später setzte der Sohn russischer Emigranten Chicago mit dem modernen Schelmenroman "Die Abenteuer des Augie March" ein literarisches Denkmal. Am 5. April starb der Nobelpreisträger im Alter von 89 Jahren.

Von Denis Scheck |
    Boston, Bay State Road 73. Ein rotes Sandsteinhaus mit Erkern, Türmchen, viktorianischen Zinnen. Ringsum ein amerikanisches Bilderbuchviertel: blitzblank, ein bisschen verschlafen und träge wie der Anfang April gemächlich dahin fließende Charles River. In den Straßen kaum Autos, keine Passanten, nur auf dem Fluss übt das Ruderteam der Harvard University für die nächste Regatta.

    "Hub of the universe", Radnabe des Universums, nannte man die Stadt vor hundert Jahren, doch das ist Boston längst nicht mehr. Die "Action" - ein Schlüsselbegriff Saul Bellows - läuft inzwischen anderswo: im nahen New York, in Los Angeles und vielleicht auch in Chicago, jener Stadt, in der Bellow in den zwanziger Jahren aufwuchs.

    Chicago. In dieser Stadt wurde Bellow zwar nicht geboren - er kam am 10. Juni 1915 im kanadischen Montreal als Sohn einer aus Russland emigrierten Kaufmannsfamilie zur Welt -, aber in dieser Stadt ist er aufgewachsen und hat studiert, hier hat er am längsten gewohnt, hier spielen die meisten seiner Romane. Vor über zehn Jahren hat er sein geliebtes, gehasstes Chicago dennoch verlassen und ist nach Boston gezogen.

    "Nicht ich habe Chicago verlassen - man könnte sagen, Chicago hat mich verlassen. Wenn man dort aufgewachsen ist, tut es ziemlich weh, heute in dieser Stadt zu sein. Als die deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht wurden, baute man sie wieder auf. Ein ähnlicher Vorgang hat sich in Chicago abgespielt. Das alte Chicago, das ich kannte und in dem ich aufgewachsen bin, ist verschwunden. Nicht nur einzelne Viertel oder die Innenstadt, der gesamte Charakter der Stadt hat sich von Grund auf verändert. Aber meine Verbindung zu Chicago ist so stark, dass ich häufig das Gefühl habe, immer noch dort zu sein.

    Chicago macht einen zum Philosophen, denn die Stadt führt ihren Bewohnern unablässig die Vergänglichkeit alles Sterblichen vor Augen. Wenn ich heute durch ihre Straßen gehe, habe ich deshalb eine doppelte Pflicht - die Stadt so zu sehen, wie sie jetzt ist, und mich daran zu erinnern, wie sie früher einmal war. Mir fällt dann ein, wer in diesem Haus gewohnt hat und wer in jenem, wer noch lebt und wer gestorben ist. Und jetzt, wo ich in Boston lebe, tröstet mich der Gedanke an die ständig wachsende Zahl der Toten - die haben Chicago schließlich auch verlassen. "

    Bellow hat der Stadt seiner Kindheit ein Denkmal gesetzt mit dem modernen Schelmenroman "Die Abenteuer des Augie March". In einem überbordenden Redestrom, durchsetzt von Straßenslang und Zitaten aus dem klassischen Bildungsgut, schildert der Ich-Erzähler Augie March seine Jugend in den Slums von Chicago zurzeit Al Capones, der Billardhallen und Flüsterkneipen. Augie March, das war ein jüdischer Huckleberry Finn, respektlos, dreist und voll ansteckender Lebenslust - eine Figur, wie es sie in der amerikanischen Literatur nie zuvor gegeben hatte.

    So wie Chicago Bellows Stadt fürs Leben bleiben sollte, so ist die Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Korruption ein roter Faden in Bellows Romanwerk. Wie kaum ein zeitgenössischer amerikanischer Autor hat er sich immer wieder in das Geschehen in seiner Stadt eingemischt, war oft ein unbequemer Kommentator der Lokalpolitik. Wie sieht er Chicago heute?

    "Schlimmer ist es wohl nicht geworden. Die alten Machtstrukturen, die politischen Apparate der Stadt sind heute verschwunden. Diese politischen Apparate waren zwar korrupt, haben allerdings auch viel Gutes für die Einwanderer getan und Hilfestellungen geleistet, die die heutige Regierung nicht mehr anbieten kann. Die Patrone des Systems, die Politiker und Gewerkschaftsbosse, verhielten sich auf ihre Weise loyal gegenüber ihren Heimatvierteln, es bestand da eine persönliche Beziehung - sie boten ihrer Klientel Jobs, sorgten für ein Minimum an städtischen Dienstleistungen und nahmen auf ihre Weise Anteil am Gemeindeleben. Es war natürlich ein durch und durch verrottetes, verlogenes und kriminelles System. Doch der größte Dieb des Landes ist in meinen Augen heute die Bundesregierung in Washington, die einen bis zu fünfzig Prozent des Einkommens abknöpft. Ich bin zwar Patriot, aber alles hat seine Grenzen."

    Der größte Dieb des Landes die amerikanische Regierung? Wie seine Romanfigur Augie March hat Saul Bellow einen Hang zur Polemik. Natürlich ist er sich bewusst, dass er spätestens seit der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 1976 ein Denkmal ist. Doch das ändert nichts an seiner Lust, den Sockel, auf dem er steht, immer wieder kräftig zum Wackeln zu bringen - mit zunehmend provozierenden Statements, verpackt in ein Alterswerk, das ihn in den 80er Jahren immer heftiger ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ließ. Die europäische Friedensbewegung? Für Saul Bellow von Moskau ferngesteuert. Glasnost und Perestroika? Ein Trick, um die westliche Welt vor der kommunistischen Gefahr einzulullen. Ökologische Katastrophen von Bhopal bis Tschernobyl? Schrecklich, doch mehr Menschen sterben an gebrochenem Herzen als an radioaktiver Strahlung. Diese Sentenz, ebenso zynisch wie wahr, legt Bellow dem Helden seines letzten großen Romans in den Mund und leitet daraus den Titel ab: "Mehr noch sterben an gebrochnem Herzen." In jüngster Zeit sorgte Bellow - immerhin selbst studierter Anthropologe - mit einer Äußerung zur amerikanischen Multikulturalismus-Debatte für Furore:

    "Die Leute bestehen heute darauf, dass ihre Kinder auf den Schulen etwas über alle möglichen anderen Kulturen lernen, bloß nichts über die eigene. Sie gehen auf die Barrikaden, wenn ein Kurs über die Geschichte der USA angeboten wird statt über Zulus und Papuas. Wohlgemerkt, es handelt sich bei diesen Eltern um Angehörige des Mittelstands, die mit der Ausbildung, die sie selbst erhalten haben, unzufrieden sind. Deshalb erscheint es ihnen als Verbesserung, andere Kulturen zu studieren. Aber dieses Studium anderer Kulturen ist eine Fiktion, ein frommer Wunsch. Es nimmt ungeheuer viel Zeit in Anspruch, auch nur die Grundlagen einer primitiven Gesellschaft zu verstehen. Worum geht's also beim Multikulturalismus? Um Gerechtigkeit und eine Form des Universalismus. Ich bin ganz und gar nicht gegen Universalismus, aber diese Leute verstehen nicht mal ihre eigene Kultur.
    Sie können weder richtig lesen noch richtig schreiben, sie kennen weder die eigene Sprache noch die Geschichte ihres eigenen Landes, geschweige denn die großen Philosophen oder die Geschichte der westlichen Zivilisation.
    Aber das hält sie nicht davon ab, Schamanen zu feiern, deren Sprache sie nie verstehen werden und deren Heilmittel sie niemals einnehmen würden."

    Solche Tiraden über die Bildungsfaulheit seiner amerikanischen Landsleute haben Bellow im Lager der politisch Korrekten Feinde gemacht, ihm den Ruf eines herzlosen Elitedenkers eingetragen. Die Vielschreiberin Joyce Carol Oates nannte Bellow einen "zunehmend egozentrischen Reaktionär", und John Updike sah den "bedeutendsten lebenden Romancier Nordamerikas" immer mehr "in den Netzen des eigenen Narzißmus" zappeln. In den letzten Jahren bescheinigte die amerikanische Kritik, einig wie selten, ihrem Vorzeige-Literaten, dass er auf der falschen Seite stehe - zu weit rechts. Bellow kontert mit dem Vorwurf, die Wortführer dieser Kritik hätten sich dem 'linken Meinungsklima' gebeugt, das er in Amerika zu spüren glaubt:

    Er sei Schriftsteller, kein Rechter - das unübersetzbare Wortspiel mit "writer" und "rightist" läßt nicht nur Bellows Humor durchblicken, sondern benennt jenen Gegensatz, der seit jeher im Zentrum von Saul Bellows Denken steht: der Gegensatz zwischen Intellektuellem und Künstler.

    "Ich glaube, jeder Philosoph, der Vorschläge zum Wohl der Menschheit zu machen hat, wie überhaupt jeder Mensch, der große Massen von irgend etwas überzeugen will, sollte vorher eine Auszeit nehmen, um darüber nachzudenken, was geschehen wird, falls sich seine Ideen als Unfug erweisen. Hätte Karl Marx das getan, wäre der Welt viel Unheil erspart geblieben. Dasselbe gilt übrigens auch für das Christentum. Wäre den frühen Christen eine Vorahnung von den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts oder von der Inquisition in Italien und Spanien zuteil geworden, hätten sie vielleicht ein klein wenig gezögert. Die populärsten Heilsversprechungen unserer Zeit heißen künstliche Intelligenz und Computertechnologie. Und natürlich bieten sich die Vereinigten Staaten selbst als älteste und erfolgreiche Demokratie - stabil seit ihrer Gründung - der Welt als Beispiel an. Durchaus möglich, dass die Idee des Multikulturalismus nicht zuletzt auch davon inspiriert wurde. Amerika hat all diesen Völkern etwas für die Zukunft zu bieten. Das geht Hand in Hand mit jener uramerikanischen Vorliebe für missionarische Aktivitäten. Wenn ich mich nicht irre, kamen die meisten Missionare im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert aus Amerika."

    Fast scheint es paradox, wie häufig in Bellows Ideenromanen dieses Motiv der Intellektuellenschelte wiederkehrt - kann man sich für sie doch keinen anderen Verfasser und keinen anderen Adressaten denken als eben jenen viel geschmähten Intellektuellen. Zu den großen ideologischen Systemen, die sich wie der Marxismus oder das Christentum als "hirnverbrannte Ideen" überlebt und selbst diskreditiert haben, zählt für Saul Bellow inzwischen auch die Psychoanalyse. Sein Leben ist ein langer Befreiungskampf gegen die Tyrannen des Geistes gewesen - erst Lenin und Marx, dann Sigmund Freud, dessen Idee des Ödipuskomplexes für ihn ebenso übermächtig und verlockend gewesen ist wie die Vorstellung von Geschichte als Ausdruck des Klassenkampfs. Freud habe Amerika nach einem Besuch in New York als "einen Fehler" bezeichnet, beginne ich meine Frage nach Bellows heutiger Haltung zur Freudschen Theorie."

    Hat er es nicht sogar noch schärfer ausgedrückt? Ich glaube, er sprach von Amerika als einer "Missgeburt". Aber was hat Freud schon von Amerika verstanden? Er litt an dem, was wir amerikanische Juden russischer Abstammung den "kulturny" Blick auf die Welt nennen. Und natürlich gab es hier in den Vereinigten Staaten nichts, was so einen Menschen zufrieden stellen konnte. Wäre er ein wirklich bedeutender Autor wie Tocqueville gewesen, hätte er vielleicht mehr gesehen. Ich empfinde heute eine gewisse Feindschaft gegen Freud, die ich früher nicht besaß, weil mir damals noch nicht klar war, wie tyrannisch sein Gedankensystem werden und welchen Einluss es auf Amerikaner meiner Generation ausüben würde. Freud hat der amerikanischen Gesellschaft seinen Stempel aufgedrückt. Ihm haben wir es zu verdanken, daß Amerikaner sich Kinder als wehrlose Wesen vorstellen, dazu verdammt, von sadistischen, grausamen Eltern erzogen zu werden, die sie unweigerlich zu Krüppeln machen. Es gibt inzwischen wohl keinen Amerikaner aus dem Mittelstand mehr, der nicht irgendwelche Klagen gegen seine Eltern vorzubringen hat. Das ist meinen Augen das Erbe Freuds. Diese Einstellung erklärt, weshalb wir so abstoßend geworden sind, so jämmerliche Versager. Mir fehlt es ganz und gar an Sympathie für dieses idiotische Selbstmitleid und diese noch idiotischeren Rechtfertigungen, sich immer nur als Opfer zu sehen.

    "Freud ist passé. Das weiß sogar ich." Ein Satz aus Saul Bellows Theaterstück "Die letzte Analyse". In der Farce um den absurden Comebackversuch eines abgehalfterten Fernsehclowns gießt Bellow Kübel voll Spott über die Psychoanalyse als Instant-Kur, als käufliches, konsumierbares Allheilmittel gegen die "Humanitis". Humanitis, erfährt der Zuschauer, "das ist, wenn das Menschsein einem auf einmal zuviel wird."

    An dieser Krankheit leiden alle von Bellows Figuren. Sie haben "keine Schmerzen", wie Henderson im Roman "Der Regenkönig" sagt, "nur Seelenqualen". In ihrem Inneren klagt eine Stimme, die sich trotz allen Ablenkungen der Außenwelt immer wieder Gehör verschafft. "Ich darbe, ich darbe, ich darbe!" sagt diese altertümelnde Stimme, und um sie - wenigstens zeitweilig - zum Verstummen zu bringen, müssen Bellows Figuren weite Reisen unternehmen, ins tiefste Herz Afrikas vordringen wie Henderson oder bis in die Antarktis wie Benn Crader, der Botaniker mit dem gebrochenen Herzen, dem selbst dies nicht weit genug ist.

    Es ist kein dumpfer Weltschmerz, der Bellows Figuren in so exotische Breiten treibt, auch nicht die Flucht vor sich selbst. Eher hat es mit dem zu tun, was Mr. Sammler die "Armut der Seele" nennt und der Erzähler von "Mehr noch sterben an gebrochnem Herzen" auf die Formel bringt: "Es gibt keine Worte für das, was der Seele in der freien Welt passiert."

    "Ich bin mir gar nicht sicher, ob dies eine seelische Verarmung ist - es fällt schwer, diese Sache genau zu benennen. Aber ich halte es für eine Revolution, die im Keim schon in der industriellen Revolution angelegt war, die aber viel weiter gegangen ist, als sich irgend jemand hätte träumen lassen können. Ich denke oft, dies ist einer der Faktoren, die unser kindisches Gehabe erklären. Angesichts der modernen Hochtechnologie sind wir wie Kinder, die sich an all diesen neuen Dingen erfreuen. Von High-Tech verstehen wir Laien sehr wenig, diese Produkte sind wie ein Wirklichkeit gewordenes Märchen. Vieles, was die Grimms und Andersen und Tausendundeine Nacht aus den Mythen schöpften, ist nun Realität: wir reisen durch die Lüfte, können fast ohne Zeitverzögerung über Ozeane hinweg Gesichter sehen und Stimmen hören. Wer hätte das gedacht? Ich glaube, daß die Menschen von diesen Dingen, die sie im Grunde nicht wirklich verstehen, buchstäblich verzaubert ist. Robinson Crusoe hätte auf seiner Insel selbst dann keinen Düsenjet zusammenbauen können, wenn ihm die Bauteile dazu zur Verfügung gestanden hätten. Dennoch vermochte er aus dem Schiffswrack die wichtigsten Dinge des täglichen Bedarfs seiner Zeit zu basteln. Wir hingegen können die Geräte, mit denen wir uns umgeben, nicht aus eigener Kraft herstellen, ja wir können sie noch nicht mal erklären. Deshalb sind wir wie Barbaren angesichts all dieser technischen Mirakel, die wir gleichwohl für selbstverständlich halten. Ortega y Gasset hat in "Der Aufstand der Massen" zwischen dem Massenmenschen und dem Intellektuellen unterschieden. Der Massenmensch, so Ortega y Gasset, nehme diese Artefakte als gegeben hin - als seien sie ein Teil der Natur -, während die Gebildeten sich des Unterschieds zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen bewusst seien.
    Auch das stimmt heute nicht mehr. Denn inzwischen wissen auch die Gebildeten nicht mehr, was das Künstliche künstlich macht und das Natürliche natürlich."

    An dieser Unfähigkeit, das Artifizielle vom Natürlichen, das Echte vom Falschen zu unterscheiden, gehen Bellows Helden nicht unbedingt zugrunde. Doch verlieren sie darüber Herz, Kopf oder Verstand - und manchmal alles zusammen.
    Auch die Liebe vermag keinen Ausweg aus dieser Welt der Täuschungen zu weisen - Saul Bellows Liebesgeschichten sind meist Katastrophenberichte, Protokolle unerwiderter Leidenschaften. Immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, setzen seine reflexionsbesessenen Antihelden ihre Sinnsuche fort, die sich als eigentümliches Band von Bellows Debütroman "Der Mann in der Schwebe" bis zu den jüngst erschienenen Novellen zieht. Joseph, Bellows erster Romanheld, feierte am Ende noch emphathisch Abschied von aller Individualität und dem Streben nach Erkenntnis, indem er seine Einberufung zum Militär mit dem Vivat begrüßt: "Es lebe die Einreihung, die Aufhebung der persönlichen Freiheit". Der alte Ich-Erzähler der Novelle "Damit du dich an mich erinnerst" bekräftigt dagegen den Anspruch auf die Möglichkeit transzendenter Erfahrung: "Jawohl, ich war überzeugt, dass alle menschlichen Wesen ein höheres Wissen teilten." Welches höhere Wissen, welche Mysterien sind damit gemeint?

    "Man spricht sehr frei von Mysterien, so wie man auch Worte wie Glaube, Geist und so weiter sehr frei verwendet. Alle diese Begriffe sind heute ein wenig in Verruf geraten. Denn wir leben in einer Welt der Wissenschaft, wo man entweder sichtbare, greifbare, hörbare Tatsachen auftischt oder gefälligst den Mund zu halten hat und gar nichts sagen soll. Ich halte es aber zum Beispiel für eine Tatsache, daß die moderne Wissenschaft der Natur die Seele ausgetrieben hat. Was genau das bedeutet, da könnten wir ein Seminar darüber abhalten, uns monatelang zweimal die Woche treffen und dennoch keine großen Fortschritte erzielen - man muß diese Dinge einfach hinnehmen und versuchen, sie zu begreifen. Aber daß sie etwas bedeuten, daran glaube ich. "

    Auch wenn im Mittelpunkt von Bellows späteren Romanen nicht mehr Zauderer am Rande der Gesellschaft stehen wie Joseph, der Mann in der Schwebe, sondern Professoren oder doch mindestens Millionäre, Arrivierte also, sind es letztlich allesamt Aussteiger, über die Bellow schreibt. Sie haben "für das eiserne Zeitalter der Technik sehr wenig übrig", wie Henderson der Regenkönig sagt, flüchten sich aus der Aktion in die Reflexion. Gebannt und zugleich voll Abscheu beobachten sie jene Austreibung der Seele aus der Natur, die Saul Bellow meint, wenn er sagt, die "Action" des 20. Jahrhunderts finde in Amerika statt.

    Der immer wieder als kalter Positivist Attackierte ist in Wahrheit ein Romantiker im Reich der Ideen, ein melancholischer Metaphysiker. Beharrlich hält er am Individuum fest und muss doch erkennen, dass die "Action" über dieses Individuum hinwegrollt, und dies nicht nur in den USA.

    Die Brandreden in Bellows Romanen gegen den Verfall von Sitte, Anstand und Moral im 20. Jahrhundert, gegen modischen Nihilismus und seelische Verarmung entspringen einem idealistischen Furor. Es sind Protestrufe, Empörungen gegen das Verschwinden des Wunderbaren - und das heißt bei Bellow immer des Menschlichen - im Zeitalter der Technik. Was er über das "radikale Mysterium" schreibt, das Mozart erlaube, in "die problematischen Zonen der Existenz" vorzudringen, gilt auch für ihn selbst - Bellow will sich nicht weismachen lassen, dass die ohne Staunen hingenommenen High-Tech-Mirakel von heute das in Märchen und Mythen aufscheinende Wunder des Daseins ersetzen können:

    "Jeder hat seine eigenen Gründe, warum er Schriftsteller geworden ist. Mein Grund war die Merkwürdigkeit des Lebens, die ich schon in ganz jungen Jahren erfahren habe. Ich glaube, fast jedes Kind spürt diese Merkwürdigkeit des Lebens. Auch wenn sie es sich vielleicht nicht bewusst machen und keine Worte dafür finden, müssen sie doch eine Ahnung jener Empfindung haben, die Rozanov, der russische Schriftsteller, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in dem Satz zusammenfasste: "Ich habe Jahrtausende auf meine Geburt gewartet und habe nicht vor, mich nun um meine kurze Chance betrügen zu lassen." Der natürliche Feind dieser Empfindung ist die Gewohnheit und die Abstumpfung, die die wunderbarsten Dinge wie graue Routine erscheinen lassen. Je älter das Kind wird, desto stärker ergreift diese Abstumpfung von ihm Besitz, und alles kommt ihm plötzlich selbstverständlich vor, so wie es dem Massenmenschen als selbstverständlich erscheint, daß das Licht angeht, wenn er auf einen Knopf drückt. Aber wenn dieser ausgeprägte Sinn für die Merkwürdigkeit des Lebens anhält, dann ist man auf die eine oder andere Weise ein Künstler. Ich, Sie, wir alle sind einzigartige Wesen, die es niemals zuvor gegeben hat. Selbst unsere Fingerabdrücke lassen sich nicht nachmachen. Diese einzigartige Gestalt verlangt daher nach Ausdruck. Und worum sonst geht es letztlich - für uns alle?"

    Sein Gespür für die Merkwürdigkeit des Lebens hat Saul Bellow zum Schriftsteller gemacht. Mit dem Schreiben hat er sich gegen die Abstumpfungen des Alltags gewehrt. Doch es schwingt kein Triumph mit, während er dies sagt, Bellow wirkt eher verlegen, streicht mit den Händen immer wieder seine Hose glatt, als sie es ihm peinlich, davon zu sprechen.
    Wird Kunst, so verstanden, nicht zu einer Ersatzreligion? Bellow wehrt ab.
    Für Literatur und Kunst interessierten sich in den USA gerade Mal ein Zehntelprozent der Bevölkerung - angesichts solcher Zahlen könne man wirklich nicht von einer Ersatzreligion sprechen, eher von einer versprengten Sekte. Wenn er die Aussichten für Literatur so pessimistisch beurteilt, was treibt ihn dann dennoch an, weiter zu schreiben? Etwa doch der Wille, die Welt zu verändern, oder zumindest einen Wandel im Bewusstsein seiner Zeit herbeizuführen, wie es Norman Mailer in den sechziger Jahren formulierte?

    "Als ich jünger war, wollte ich die breite Öffentlichkeit erreichen und sie sozusagen geistig und moralisch bessern. Aber je älter ich wurde, desto mehr setzte sich bei mir die Erkenntnis durch, dass alle dies versucht haben und keiner irgendwelchen Erfolg damit hatte - dass es also eine törichte Verschwendung von Energie und Willenskraft war. Fünf Generationen von Schriftstellern in England, Frankreich, Italien und Deutschland haben sich die Finger wund geschrieben, um die Massen ihrer Länder auf ein höheres Leben vorzubereiten - und es hat einfach nie geklappt. Alle nahmen sich dieses Ziel vor - Ruskin, William Morris, Carlyle, Tennyson. Auch Shelley, der schrieb: "Lasst mich die Gedichte einer Nation schreiben, dann überlasse ich es euch, ihre Gesetze zu erlassen." Shelley vertrat die Ansicht, der wahre Gesetzgeber der Menschheit sei der Dichter. In den Vereinigten Staaten folgten ihm in dieser Tradition Longfellow und Whittier und sogar Walt Whitman. Sie alle wollten dasselbe: die in demokratischen Gesellschaften lebenden Menschen darin unterweisen, wie man eine höhere Kultur aufbaut als die Kulturen der aristokratischen Gesellschaften. Das war ein kompletter Flop, es hat nie funktioniert. Was heute noch davon übrig ist, findet sich als vereinzeltes Gerippe in der Wüste der Lesebuchindustrie."

    Wieder einer dieser Rundgänge durch die Literaturgeschichte, wie sie Bellow auch gern in seine Bücher einflicht. Von allen bedeutenden zeitgenössischen Autoren Amerikas ist er der intellektuellste, seine zitierwütigen Antihelden räsonieren über Gott und die Welt, haben die gesamte westliche Geistesgeschichte auf ein Fingerschnippen hin präsent, heben immer wieder zu belehrenden Monologen an - bisweilen langatmig, doch nie langweilig. Was mit Bellows mitunter etwas selbstgerecht elitär klingenden Ausführungen versöhnt, ist sein Humor: typisch jüdisch-amerikanisch, geprägt von der Erfahrung des Außenseitertums und der Großstadt, darin verwandt dem Humor eines Philip Roth oder Bernard Malamud.
    Etwas davon blitzt auf, als ich Bellow frage, ob denn gar kein Bedauern mitschwingt, wenn er den Schriftsteller als Angehörigen einer an den Rand gedrängten, fast ausgestorbenen Gruppe darstellt?

    "Nun, als Jude bin ich daran gewöhnt. Aber bedauern kann ich das nicht, wie könnte man etwas so Ungeheuerliches bedauern? Ich glaube, dass eine bestimmte Form persönlicher Kultiviertheit nur aus der Literatur erwachsen kann. Allein die Lyrik, das Drama und der Roman können einem bestimmte Einsichten eröffnen und zu einem tieferen Verständnis des Lebens führen. Es fällt auf, dass diese Dinge heute im Bildungswesen der Vereinigten Staaten keine Rolle mehr spielen. Die Jugend weiß davon nicht mehr viel, es wird ihr nicht vermittelt. Dies wäre Aufgabe der Universität en gewesen, aber sie haben diese Aufgabe ganz und gar verraten. Sie waren in dieser Hinsicht eine Katastrophe, denn die Universitäten selbst waren es, die sich an die Spitze dieses Angriffs auf die Literatur gesetzt haben.