"Ich bin durch Zufall darauf gekommen, dass ein Jurist, der auch mal in Gießen gelebt hat, über das Trinkgeld geschrieben hat im 19. Jahrhundert - und das als eine der großen Unsitten seiner Zeit verstanden hat. Das Trinkgeld, das Duell und der Leichenschmaus, sagt er, sind die größten Unsitten seiner Zeit. Und er kämpft also an gegen das Trinkgeld, und das hat mich interessiert, warum. Warum kommt es zu einer riesigen Bewegung, Vereinen, die sich gegen das Trinkgeld wehren, öffentlichen Debatten, Verboten und so weiter?"
Warum das Trinkgeldgeben überhaupt in Frage gestellt wurde, schildert Winfried Speitkamp in seinem Buch sehr plastisch:
In einem Hotel der besten Kategorie waren um 1900 bei der Abreise Trinkgelder für zehn verschiedene Bedienstete fällig: für Oberkellner, Zimmerkellner, Saalkellner, Abteilungschef, Zimmermädchen, Hausbursche, Portier, Wagenbegleiter, Läufer und Liftjunge. Das war internationaler Standard.
Bis zum Beginn der Moderne war es in den meisten europäischen Ländern üblich, Boten, Handwerkern oder Hausangestellten ein Trinkgeld zuzustecken - der Adel dominierte die Geberszene. Das 19. Jahrhundert aber brachte die Schichten und Klassen ins Wanken - kein Wunder, dass hier die ersten heftigen Debatten ums Trinkgeld einsetzten.
"Es gilt als eine Unsitte, weil das für die Zeitgenossen etwas Neues war im späten 19. Jahrhundert. Die Städte expandieren, das Freizeitgewerbe expandiert, immer neue Berufsgruppen entstehen: Kellner, Träger, alle möglichen Dienstleistungen. Und die haben alle noch kein festes Gehalt, sondern nur ein kleines festes Gehalt, und versuchen durch Trinkgeld noch mehr herauszuholen. Und die Bürger, die ins Gasthaus gehen, die fühlen sich plötzlich von den Dienstboten ausgenommen, da kehren sich die Verhältnisse um."
Die Debatten ums Trinkgeld kulminieren in der Gründung einer bürgerlichen "Anti-Trinkgeld-Liga". Immer wieder versuchen Parteien, Vereine und nicht zuletzt Gewerkschaften, das Trinkgeld einzudämmen, bis weit in die Weimarer Republik.
Das Trinkgeld galt als Türöffner für Alkoholismus, sexuelle Zügellosigkeit und Prostitution. Auch Jugendbewegung und Pfadfinder verurteilten das Trinkgeld als Ausdruck der Kommerzialisierung und Entwürdigung menschlicher Beziehungen.
Doch am Trinkgeld beißen sich viele die Zähne aus. Finanzämter, Gerichte, nicht zuletzt die Gewerkschaften, denen es von jeher ein Dorn im Auge war. Löhne hoch statt Kellner und Dienstmädchen abhängig machen von den stets schwankenden finanziellen Gunstbezeigungen - das ist der Kern ihrer Kritik im 19. und 20. Jahrhundert.
Vielleicht beharrte das inzwischen etablierte Bürgertum aber auch deshalb so auf dem Trinkgeld, weil es insgeheim ein schlechtes Gewissen dabei hatte, dass es sich jetzt ähnlich bedienen ließ wie früher nur der Adel. Das ist zumindest die Theorie von Jürgen Kaube, Redakteur bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der sich schon länger für Trinkgeld-Gepflogenheiten interessiert:
"Es könnte sein, dass dieser Dienstleistungsgesichtspunkt… Man wird kutschiert, man hat einen Friseur, es legt einem einer das Essen auf, dass sind ja so bisschen Dienstleistungen aus einem Kontext, wo man sagen würde: Früher hatten das nur die Reichen oder die Adligen, eben eigenes Personal dafür, einen Kutscher; jetzt hat man das selber, in bürgerlichen Zeiten. Und vielleicht ist das Trinkgeld so ein kleiner Tribut an diese Tatsache, dass man dieses Spiel des Bedient-Werdens auch richtig spielt, auch von der Nehmer-Seite aus richtig spielt und ein bisschen mehr gibt, als eigentlich verlangt ist, als eigentlich auf dem Preisschild drauf steht."
Eine kleine Geschichte des Trinkgeldes - was sich nach kleinbürgerlicher Pfennigfuchserei anhört, liest sich ungemein spannend. Dahinter verbirgt sich nicht nur ein Abriss der Entstehung des Massentourismus und eine kleine Geschichte des Kellnerstandes. Die Geschichte des Trinkgeldes seit dem 18. Jahrhundert ist im wesentlichen eine Geschichte der Ehr- und Moralvorstellungen, sagt Winfried Speitkamp.
"In dem Sinn, dass die Kritiker des Trinkgeldes meinten, wer Trinkgeld annimmt, der ist käuflich, der macht für Trinkgeld eine ganze Menge Dienstleistungen. Und in dem Zusammenhang wurden Diskussionen über Kellnerinnen geführt. Und auch von der bürgerlichen Frauenbewegung wurde gefordert, Kellnerinnen nicht mehr zuzulassen, weil Kellnerinnen potenziell Prostituierte sind, für Geld berühren sie die Gäste, dann gehen sie mit denen nach Hause und so weiter."
In den USA wurde die Trinkgeldfrage zudem durch den Umstand angeheizt, dass im wesentlichen Schwarze kellnerten. Das Ideal der freien und gleichen Bürger ist im Kern auch der Antrieb, weshalb der Nationalsozialismus ebenso wie die DDR-Führung Trinkgeldgeben demonstrativ verboten. Doch Trinkgeld zahlten die Menschen weiter - allen Verboten zum Trotz.
Wie ist das diese hartnäckige Gepflogenheit zu erklären? Der Historiker Winfried Speitkamp erklärt die vermeintliche Selbstlosigkeit des Trinkgeldgbers angelehnt an den Soziologen Pierre Bourdieu: Neben dem Trinkgeldempfänger sei nämlich der zweite Adressat der milden Gabe das Publikum.
"Weil es eben wichtig ist für die Menschen, ihren Status zu zeigen. Hier gibt es sozusagen noch einen kleinen irrationalen Rand der Gesellschaft, wo wir nicht ökonomisch denken. Ökonomisch ist es unvernünftig. Wir sehen in den meisten Fällen den Kellner nie wieder. Warum geben wir ihm Trinkgeld? Weil wir zeigen wollen, wer wir sind, und dass wir uns zu benehmen wissen. Dass wir auftreten können. Dass wir in dem Moment, wo wir im Gasthaus sind, sozusagen zur besseren Seite der Gesellschaft gehören."
Allerdings lebt diese Perspektive von festen Klassenzuschreibungen. Gast gleich höhere soziale Schicht, Kellner in jedem Fall darunter. Das lässt sich heute oft nicht mehr halten, wo die Kellnerin oft Jurastudentin und der Gast vielleicht Bauarbeiter ist.
Doch für Speitkamps These spricht, dass Gäste in Restaurants sich wesentlich spendabler zeigen, wenn sie in Begleitung sind - ihre Großzügigkeit also bemerkt wird. Der FAZ-Redakteur Jürgen Kaube favorisiert eine zweite Theorie:
"Ein Ökonom aus Cornell, Robert Frank, sagt: Das ist gar nicht Kommunikation mit anderen, das ist Kommunikation mit sich selber. Das heißt, der Trinkgeldgeber findet es eigentlich fair, das so zu machen, den Leuten ein bisschen mehr zu geben, als sie Anspruch haben. Und dann macht man das, ohne es zu sagen, weil man sich selbst praktisch zu einem kleinen Altruismus anhält. Das ist quasi so eine Art Gespräch, das man mit sich selber führt, wenn man Trinkgeld gibt, dass man sagt: Ich will gar nicht so ein Egoist sein, obwohl ich es sein könnte."
Ob als demonstrative Geste oder als stille Selbstlosigkeit: Das Trinkgeld hat sich international durchgesetzt. In Zeiten des weltumspannenden Pauschal-Tourismus scheint Trinkgeldgeben so normal zu werden wie das Nutzen der Billigflieger, und zwar auch in Weltregionen, die früher keine Trinkgeld-Tradition kannten. Trinkgeld sei ein europäisches Exportprodukt, behauptet Speitkamp. Der Reisende kann sich als großzügiger, vom Status her überlegender Reisender wahrnehmen.
Durch Trinkgeldratschläge wiegen Reiseführer den Reisenden in der trügerischen Sicherheit, dass er sich bei anleitungsgemäßer Zahlung Prestige auch in der fremden Kultur bewahren oder erwerben kann und dass er in der Fremde kein Opfer fremdartiger Praktiken wird, sondern das Heft des Handelns in der Hand behält.
"Was passiert, wenn wir immer mehr Dienstleistungen durch Automaten oder durch All-inclusive-Angebote erledigen lassen? Wem geben wir dann noch Trinkgeld? Wer sind wir dann noch? Wir haben keine Möglichkeit mehr zu zeigen, dass wir noch etwas anderes sind als sozusagen eine Maschine auf Reisen."
Literatur-Hinweis:
Winfried Speitkamp: Der Rest ist für Sie!
Kleine Geschichte des Trinkgeldes
Reclam Verlag, Stuttgart 2008, 169 Seiten, 7,90 Euro
Warum das Trinkgeldgeben überhaupt in Frage gestellt wurde, schildert Winfried Speitkamp in seinem Buch sehr plastisch:
In einem Hotel der besten Kategorie waren um 1900 bei der Abreise Trinkgelder für zehn verschiedene Bedienstete fällig: für Oberkellner, Zimmerkellner, Saalkellner, Abteilungschef, Zimmermädchen, Hausbursche, Portier, Wagenbegleiter, Läufer und Liftjunge. Das war internationaler Standard.
Bis zum Beginn der Moderne war es in den meisten europäischen Ländern üblich, Boten, Handwerkern oder Hausangestellten ein Trinkgeld zuzustecken - der Adel dominierte die Geberszene. Das 19. Jahrhundert aber brachte die Schichten und Klassen ins Wanken - kein Wunder, dass hier die ersten heftigen Debatten ums Trinkgeld einsetzten.
"Es gilt als eine Unsitte, weil das für die Zeitgenossen etwas Neues war im späten 19. Jahrhundert. Die Städte expandieren, das Freizeitgewerbe expandiert, immer neue Berufsgruppen entstehen: Kellner, Träger, alle möglichen Dienstleistungen. Und die haben alle noch kein festes Gehalt, sondern nur ein kleines festes Gehalt, und versuchen durch Trinkgeld noch mehr herauszuholen. Und die Bürger, die ins Gasthaus gehen, die fühlen sich plötzlich von den Dienstboten ausgenommen, da kehren sich die Verhältnisse um."
Die Debatten ums Trinkgeld kulminieren in der Gründung einer bürgerlichen "Anti-Trinkgeld-Liga". Immer wieder versuchen Parteien, Vereine und nicht zuletzt Gewerkschaften, das Trinkgeld einzudämmen, bis weit in die Weimarer Republik.
Das Trinkgeld galt als Türöffner für Alkoholismus, sexuelle Zügellosigkeit und Prostitution. Auch Jugendbewegung und Pfadfinder verurteilten das Trinkgeld als Ausdruck der Kommerzialisierung und Entwürdigung menschlicher Beziehungen.
Doch am Trinkgeld beißen sich viele die Zähne aus. Finanzämter, Gerichte, nicht zuletzt die Gewerkschaften, denen es von jeher ein Dorn im Auge war. Löhne hoch statt Kellner und Dienstmädchen abhängig machen von den stets schwankenden finanziellen Gunstbezeigungen - das ist der Kern ihrer Kritik im 19. und 20. Jahrhundert.
Vielleicht beharrte das inzwischen etablierte Bürgertum aber auch deshalb so auf dem Trinkgeld, weil es insgeheim ein schlechtes Gewissen dabei hatte, dass es sich jetzt ähnlich bedienen ließ wie früher nur der Adel. Das ist zumindest die Theorie von Jürgen Kaube, Redakteur bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der sich schon länger für Trinkgeld-Gepflogenheiten interessiert:
"Es könnte sein, dass dieser Dienstleistungsgesichtspunkt… Man wird kutschiert, man hat einen Friseur, es legt einem einer das Essen auf, dass sind ja so bisschen Dienstleistungen aus einem Kontext, wo man sagen würde: Früher hatten das nur die Reichen oder die Adligen, eben eigenes Personal dafür, einen Kutscher; jetzt hat man das selber, in bürgerlichen Zeiten. Und vielleicht ist das Trinkgeld so ein kleiner Tribut an diese Tatsache, dass man dieses Spiel des Bedient-Werdens auch richtig spielt, auch von der Nehmer-Seite aus richtig spielt und ein bisschen mehr gibt, als eigentlich verlangt ist, als eigentlich auf dem Preisschild drauf steht."
Eine kleine Geschichte des Trinkgeldes - was sich nach kleinbürgerlicher Pfennigfuchserei anhört, liest sich ungemein spannend. Dahinter verbirgt sich nicht nur ein Abriss der Entstehung des Massentourismus und eine kleine Geschichte des Kellnerstandes. Die Geschichte des Trinkgeldes seit dem 18. Jahrhundert ist im wesentlichen eine Geschichte der Ehr- und Moralvorstellungen, sagt Winfried Speitkamp.
"In dem Sinn, dass die Kritiker des Trinkgeldes meinten, wer Trinkgeld annimmt, der ist käuflich, der macht für Trinkgeld eine ganze Menge Dienstleistungen. Und in dem Zusammenhang wurden Diskussionen über Kellnerinnen geführt. Und auch von der bürgerlichen Frauenbewegung wurde gefordert, Kellnerinnen nicht mehr zuzulassen, weil Kellnerinnen potenziell Prostituierte sind, für Geld berühren sie die Gäste, dann gehen sie mit denen nach Hause und so weiter."
In den USA wurde die Trinkgeldfrage zudem durch den Umstand angeheizt, dass im wesentlichen Schwarze kellnerten. Das Ideal der freien und gleichen Bürger ist im Kern auch der Antrieb, weshalb der Nationalsozialismus ebenso wie die DDR-Führung Trinkgeldgeben demonstrativ verboten. Doch Trinkgeld zahlten die Menschen weiter - allen Verboten zum Trotz.
Wie ist das diese hartnäckige Gepflogenheit zu erklären? Der Historiker Winfried Speitkamp erklärt die vermeintliche Selbstlosigkeit des Trinkgeldgbers angelehnt an den Soziologen Pierre Bourdieu: Neben dem Trinkgeldempfänger sei nämlich der zweite Adressat der milden Gabe das Publikum.
"Weil es eben wichtig ist für die Menschen, ihren Status zu zeigen. Hier gibt es sozusagen noch einen kleinen irrationalen Rand der Gesellschaft, wo wir nicht ökonomisch denken. Ökonomisch ist es unvernünftig. Wir sehen in den meisten Fällen den Kellner nie wieder. Warum geben wir ihm Trinkgeld? Weil wir zeigen wollen, wer wir sind, und dass wir uns zu benehmen wissen. Dass wir auftreten können. Dass wir in dem Moment, wo wir im Gasthaus sind, sozusagen zur besseren Seite der Gesellschaft gehören."
Allerdings lebt diese Perspektive von festen Klassenzuschreibungen. Gast gleich höhere soziale Schicht, Kellner in jedem Fall darunter. Das lässt sich heute oft nicht mehr halten, wo die Kellnerin oft Jurastudentin und der Gast vielleicht Bauarbeiter ist.
Doch für Speitkamps These spricht, dass Gäste in Restaurants sich wesentlich spendabler zeigen, wenn sie in Begleitung sind - ihre Großzügigkeit also bemerkt wird. Der FAZ-Redakteur Jürgen Kaube favorisiert eine zweite Theorie:
"Ein Ökonom aus Cornell, Robert Frank, sagt: Das ist gar nicht Kommunikation mit anderen, das ist Kommunikation mit sich selber. Das heißt, der Trinkgeldgeber findet es eigentlich fair, das so zu machen, den Leuten ein bisschen mehr zu geben, als sie Anspruch haben. Und dann macht man das, ohne es zu sagen, weil man sich selbst praktisch zu einem kleinen Altruismus anhält. Das ist quasi so eine Art Gespräch, das man mit sich selber führt, wenn man Trinkgeld gibt, dass man sagt: Ich will gar nicht so ein Egoist sein, obwohl ich es sein könnte."
Ob als demonstrative Geste oder als stille Selbstlosigkeit: Das Trinkgeld hat sich international durchgesetzt. In Zeiten des weltumspannenden Pauschal-Tourismus scheint Trinkgeldgeben so normal zu werden wie das Nutzen der Billigflieger, und zwar auch in Weltregionen, die früher keine Trinkgeld-Tradition kannten. Trinkgeld sei ein europäisches Exportprodukt, behauptet Speitkamp. Der Reisende kann sich als großzügiger, vom Status her überlegender Reisender wahrnehmen.
Durch Trinkgeldratschläge wiegen Reiseführer den Reisenden in der trügerischen Sicherheit, dass er sich bei anleitungsgemäßer Zahlung Prestige auch in der fremden Kultur bewahren oder erwerben kann und dass er in der Fremde kein Opfer fremdartiger Praktiken wird, sondern das Heft des Handelns in der Hand behält.
"Was passiert, wenn wir immer mehr Dienstleistungen durch Automaten oder durch All-inclusive-Angebote erledigen lassen? Wem geben wir dann noch Trinkgeld? Wer sind wir dann noch? Wir haben keine Möglichkeit mehr zu zeigen, dass wir noch etwas anderes sind als sozusagen eine Maschine auf Reisen."
Literatur-Hinweis:
Winfried Speitkamp: Der Rest ist für Sie!
Kleine Geschichte des Trinkgeldes
Reclam Verlag, Stuttgart 2008, 169 Seiten, 7,90 Euro