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"Der Riese vom Steinfeld"

"Mein Herz ist ein schwarzes Loch", singt der Riese immer wieder. Überhaupt lebt der Musiktheater-Abend von Peter Turrini und Friedrich Cerha von der Annäherung an das letzte schwarze Loch des menschlichen Lebens in konzentrischen Kreisen. Todesmotive durchziehen, bei allem süßem Espressivo der Gesangslinien und Orchesterzwischenspiele, die nostalgische, etwas anrührende und ziemlich melancholische Geschichte. Der Tod – und darin ist Turrinis Libretto sehr wienerisch – spielt die heimliche Hauptrolle.

Von Frieder Reininghaus | 11.02.2004
    "Die kleine Frau" erscheint als die Antipodin des Riesen vom Steinfeld (und bleibt ebenso namenlos wie dieser). Die kleine Blonde tritt auf die noch von einer graffitigeschmückten Milchglasscheibe verstellte Bühne und schreibt mit Lippenstift, was sie sucht: einen baumlangen Kerl. Und als sie des durch Kothurn-Schuhe verlängerten grauen Tenors ansichtig wird, bemerkt sie mit geschichtsphilosophischer Grundierung: "Ich hätte nie gedacht, dass mir etwas so Großes noch widerfahren wird".

    Es geht also zuvorderst auch um Größe mit dieser Lebensreise, die ein auf 2,52 m heranwachsender junger Mann vor gut hundert Jahren antrat. Die Ausstatterin Kirsten Dephoff rahmte sie in eine oberösterreichische Ferienlandschaft: riesige Blumenwiesen, Sehnsuchtsort des Riesen, prangen auf den Fotowänden im Geviert, waldige Höhen unterm blauen "Kaiserwetter"-Himmel. Zwischen solcher Fremdenverkehrswerbung – sie wird am Ende des Stücks mit Video-Künsten sarkastisch angeprangert – lauter verkrachte Existenzen und verbogene Charaktere: die Mutter Anja, der gewesene Hofkapellmeister von Cuxhaven, der geldgierige Klammerschneider etc. Der Großwüchsige wird in der engen Heimatwelt gehänselt und bedroht, dann in der großen weiten Welt gegen Geld zur Schau gestellt. Die Aufklärung beginnt hinter den Grenzen des Dorfes.

    In der Kleinstadt Ried klappt es mit der Vorführung der abnormen Größe noch keineswegs. Da ist der Auftritt in einer Prager Judenschule schon aussichtsreicher: die Kleinen dürfen auf die Schultern des Riesen klettern und glauben, dass sie bis zum Schreibtisch des Hofoperndirektors von Wien blicken können. Doch richtig reüssiert die Klammerschneider-Nummer erst bei Willem zwo, der hoch zu Ross in Berlin von einer Zucht eines Riesen-Heeres mit lauter langen Kerls träumt und deklamiert: "Heute gehört uns Deutschland und morgen das blutige Feld". Schon der Abstecher nach Westminster zu Queen Victoria erweist sich als Abstieg, weil das soeben erfundene Wasserclosett die Show stielt. Also Paris – Varieté. Und von dort hinunter ins Elend der oberbayerischen Joe-Vanni-TV-Show. Das Wiedersehen und die Liebe des Riesen und der extrem-melismatischen Kleinen Frau wird brutalstmöglich vermarktet. Der gesundheitlich längst angeschlagene Hüne verendet nach einer psychoanalytelnden Rückrunde mit der Mutter – und wird vom Sargschreiner des Heimatdorfs mit der Handsäge auf "Gemeindemaß" gebracht, damit er in die Kiste passt. Aber so richtig passt er erst als Legende: er wird Fremdenverkehrs-Attraktion. Und die Stonefield Pictures blasen das Provinzielle zu Weltformat auf.

    Peter Turrini hat ein zartbitteres urlaubsleichtes Libretto hingeworfen, Friedrich Cerha die 14 Szenen mit einem an Alban Berg geschulten Tonsatz untermauert, dabei allerdings die Momente des melodiösen Espressivo bedeutend gesteigert. Das Ganze fast zu ernst. Im Krefelder Theater balanciert Kapellmeister Graham Jackson die Ambivalenz auf erstaunlich hohem Niveau aus. Christoph Erpenbeck überzeugt stimmlich wie als Darsteller in der hochgestelzten Titelpartie – und Jeannette Wernecke, das kleine energische Persönchen, gewinnt immer wieder akustische Lufthoheit über Schanktische und Sommerfrische.
    "Der Riese vom Steinfeld" ist eine neue Opéra comique, die gut ankommt mit der dunklen Unterfütterung des heiter-kritisch verhandelten Glanzes der großen und kleinen Scheinwelten. Und trotz (oder gerade wegen) des latenten Akademismus der Musik. Friedrich Cerhas Ton steht auf halbem Weg zurück zwischen der musikalischen Gegenwart und der bösartigen Idylle vom Irrsee von Achtzehnhundertdazumal.