Dieser eignet sich – weil er so packend ist - vortrefflich als Einstiegsdroge in das vielfältig gelagerte und anspielungsreiche Werk des heute 56-jährigen Briten. Gilbert Adair hat sich hier einen Spaß mit einem Genre erlaubt, das ihm nicht fremd ist. Bereits in "Blindband", seinem vorletzten, vielleicht originellsten Roman, hatte er bewiesen, mit welcher Virtuosität er – damals mit den scheinbar obsoleten Mitteln des durch keine epische Begleitmusik gestörten Dialogromans - auf der mit Nervensträngen versehenen Klaviatur des Thrillers zu spielen versteht. Hier nun im "Schlüssel zum Turm" zeigt er ein weiteres Mal, diesmal allerdings auf konventionellere Weise, daß spannende Unterhaltung sich nicht darin erschöpfen darf und muß, sich stets von neuem irgendwelchen langweilenden Serienmördern zu widmen. Nein, die Gattung des Thrillers hat in Wahrheit immer noch mehr als das zu bieten, was man ihr und ihren Lesern heutzutage im allgemeinen zuzumuten bereit ist. Ein Thriller muß sich nicht auf die Darstellung detaillierter Grausamkeiten, austauschbarer Typen und ebenso austauschbarer Cops beschränken.
Alfred Hitchcock (den kürzlich ein Regisseur namens Sönke Wiehießernochmal sinngemäß als hoffnungslos überschätzt bezeichnete) hat in vielen seiner Filme bewiesen, daß sich Spannung auch anders erzeugen und halten läßt: Vorrangig durch die oft zunächst unangemessen erscheinende Vergrößerung eines Objekts, dem man erst dann Beachtung schenkt, wenn ihm durch eine Großaufnahme jene Bedeutung beigemessen wird, die ihm eigentlich nicht zukommt (etwa ein beleuchtetes Glas Milch oder ein Paar an sich harmloser Vögel in einem Vogelkäfig auf einem Autositz).
Nicht nur der Ausgangspunkt von Adairs neuem Roman erinnert an eine typische Hitchcock-Konstellation: Ein Witwer, so arglos und unschuldig wie James Stewart, verstrickt sich durch reinen Zufall in eine Intrige, die sich ihm – und dem Leser – nur schrittweise enthüllt; d.h. er kapiert immer zu spät, um dem Schicksal noch in den Arm greifen oder es gar zu seinen Gunsten wenden zu können. Er ist – wie er erkennen muß - nichts weiter als ein nützlicher Idiot Dritter, in diesem Fall einer Frau, die ihn für ihre kriminellen Machenschaften missbraucht, derweil er sich in sie verliebt (was ihren, aber nicht den Absichten ihres bisherigen Liebhabers, eines begabten Fälschers, entgegenkommt). Guy Lantern, so heißt dieser James Stewart in Buchformat, gelangt nach einem glimpflich verlaufenen Unfall – ein Baum stürzt wie "ein erstarrter Brocken Finsternis", der sich am Firmament gelöst hat, auf die Straße und macht sie unpassierbar -, kurzfristig in den Besitz eines Rolls-Royce, in dessen Kofferraum sich etwas befindet, von dem weder er noch der Besitzer der Nobelkarosse etwas weiß, woran aber mehrere andere Leute, darunter Béa, die eben erwähnte junge Frau des abwesenden Rolls-Royce-Besitzers, und deren Liebhaber Sasha einerseits, ein kunstsinniger arabischer Sammler namens Nasr (und seine etwa weniger feinen Helfer) andererseits ein mehr als nur oberflächliches Interesse haben. Es handelt sich dabei nämlich um nichts geringeres als ein lange verschollenes Gemälde von Georges de La Tour, um das sich in der Folge ein weit gesponnenes Doppelspiel (mit Verfolgungsjagd und einigen Toten) entwickelt, in deren Zentrum Guy Lantern gleich einem Ball von mehreren Spielern und Spielverderbern wehrlos und meist nichtsahnend von einer Ecke in die andere eines recht ausgedehnten Spielfelds geschleudert wird. Das Feld ist zu groß, er ist zu klein. Was er auch tut, was er auch überlegt – er hat keinen oder allenfalls einen negativen Einfluss auf den Gang der Dinge.
Während Béa die Gelegenheit beim Schopf packt, endlich "unter dem Grabstein ihrer eigenen Existenz hervorzukriechen", um sich zu bereichern, und sich des Naivlings Lantern schamlos bedient, sieht sich dieser in eine Geschichte hineingezogen, die "abgesehen davon, daß sie stimmt", tatsächlich so unglaublich klingt, als sei sie erfunden, was ja – bei Licht betrachtet – auch wieder stimmt. Aus einem gelangweilten Touristen, der nach St.Malo reist und am liebsten gleich wieder wegfahren möchte, wird ein gehetzter Liebhaber, der sich in eine Affäre verheddert, deren Hintergründe er immer erst dann kapiert, wenn sie sich – etwa in Gestalt zweier handgreiflich werdender Verfolger (Nars Leute Rieti und Junior) - bereits unübersehbar in den Vordergrund gedrängt haben. Der Schlüssel, den die Abgebildete ihrem Gegenüber auf dem vermeintlichen Gemälde de La Tours heimlich (warum bloß heimlich?) zusteckt, wird ihm nicht zuteil. Er tappt – gleich einem Träumenden, der erst vom Fleck kommt, wenn man ihn von hinten tritt - mit offenen Augen im Dunkeln, bis er stürzt. Mehr sei an dieser Stelle über die Handlung nicht verraten. Nur so viel: wenn die "unglaublich klingende Geschichte" für alle, auch für den Ich-Erzähler Guy Lantern, ein böses Ende nimmt, so ist es diesem zumindest beim Finale vergönnt, sie endlich ganz und gar nach seinem Geschmack zu vollenden. Am Ende ist zwar nichts gut, aber immerhin hat Guy Lantern das letzte, um nicht zu sagen: das allerletzte Wort. Oder etwa nicht? Nun ja, das letzte Wort hat in Wahrheit natürlich Gilbert Adair.
Wem dieses letzte Wort nicht genügt, dem sei Adairs Essay-Band "Wenn die Postmoderne zweimal klingelt" wärmstens empfohlen. Hier kann er sich in die höchst unterhaltsame Lektüre witziger, meist ketzerischer, immer origineller Anmerkungen zur Zeit, zur Kunst, zur Literatur und – ja – zur Postmoderne vertiefen, zu der er eine nicht ungetrübte Beziehung unterhält. Immerhin attestiert er ihr "bei aller pfiffigen Schaumschlägerei, bei allem intellektuellem Hokuspokus (...) eine ganze Reihe durchaus ernsthafter Veränderungen in unserem Verhältnis zur Kunst der Vergangenheit."
Adair geht es in seinen kurzen Essays nicht um "die Zwischenräume der Kultur, sondern eher um die Energieflüsse zwischen ihren mannigfachen Polen. Meine Methode" – schreibt er – "wenn ich eine solche denn für mich in Anspruch nehmen darf, besteht darin, mich der Kultur nicht auf geraden, sondern auf krummen Wegen zu nähern, nämlich mit der Bewegung des Springers auf dem Schachbrett (...), wobei ich mir auch den einzigartigen Vorzug dieser Figur zunutze mache, Zwischenfelder überspringen zu dürfen."
Im Gegensatz zu anderen kritischen Geistern nähert Adair sich seinen Themen, bei aller gebotenen Distanz, stets sehr persönlich; das heißt: er versteht sich nicht als ein von den anderen getrenntes Wesen; intellektueller Dünkel ist ihm fremd, sein Spott schließt seine eigene Person – und nicht aus Masochismus, sondern aus gesundem Menschenverstand - nicht aus; worüber auch immer er schreibt, sei es über die Abwesenheit von Arbeit in der Konzeptkunst, sei es über das Lesepublikum, "dem sonst im Leben nur 'das Beste' gut genug ist", das aber, was seine Lektüre angeht, "klaglos auf dem Zwischendeck" reist, sei es über das Flugzeug - "dieses hässliche Vorzimmer des Himmels" -, "die Dezibelstärke des kulturellen Diskurses" oder über den Kettenraucher, der für ihn "ein Raucher in Ketten" ist, sein Blick auf das, was ihn und uns umgibt (Fernsehen, Natur, Film, Lärm, Theater, Oper etc.) ist stets der Blick des Befremdeten auf das auch ihm nur allzu Vertraute.
Auf wie auch immer verschlungenen Pfaden - immer wieder kehrt Adair dorthin zurück, wo sich seine eigentliche Heimat befindet: zur Literatur. Ohne daß er sich explizit je auf sein eigenes Werk bezöge, erhält man doch einen zumindest flüchtigen Eindruck darüber, welche Gedanken sich der Kolumnist Adair über den Schriftsteller Adair macht. Welchen Wert Adair – ein Meister des treffenden Bilds – etwa dem Stil im Gegensatz zur Handlung beimißt, belegt das folgende Zitat: "Letztlich" – schreibt Gilbert Adair – "hat die Schönheit eines literarischen Stils für den Akt des Lesens die gleiche Bedeutung wie die Schönheit eines Gesichts für den Liebesakt. Obschon die Aufmerksamkeit in beiden Fällen mit wachsender Dringlichkeit anderswo beansprucht wird – vom Körper des Partners oder auch von der Handlung des Romans -, hängt der Reiz jenes "Anderswo doch immer von der Schönheit des Gesichts oder Stils ab, die einen ursprünglich angezogen hat."
Spätestens hier berühren sie sich wieder: der belletristische und der essayistische Schriftsteller Gilbert Adair; ein Name, den man sich merken muß, und nicht nur deshalb, weil ein vergleichbar beschwingter und phantasievolle Denker in Deutschland erst noch geboren werden muss.