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Der Schneefänger des Himalaja

"Berg des Geistes" - so lautet übersetzt der Name des achthöchsten Gipfels auf diesem Globus. Es ist der Manaslu: ein Berg in Nepal, direkt an der Grenze zu Tibet. 8.163 Meter hoch. Und er liegt ein bisschen im Schatten der anderen Himalajariesen, weil er so abgelegen und unzugänglich ist. Der Aufstieg führt wochenlang über eine zerrissene Gletscherkappe, unter der sich der Gigant versteckt. Und diese zerschrundenen Gletscher sind es auch, die viele Alpinisten abschrecken. Geben sie doch Kunde davon, dass der Manaslu so etwas wie ein "Schneefänger" ist. Jegliche Feuchtigkeit, die vom Indischen Ozean gegen den Himalaja treibt, bleibt hier hängen. Das Wetter ist - selbst im Vormonsun - dementsprechend unangenehm. Folkert Lenz hat sich davon nicht abschrecken lassen. Unser Reporter ist mit drei Schwaben und einem Bayern zu den eisigen Höhen Nepals aufgebrochen, um seinem ersten Achttausender aufs Dach zu klettern. Sein Expeditionsbericht gibt Zeugnis davon, dass das Höhenbergsteigen bis heute ein echtes Abenteuer geblieben ist.

Von Folkert Lenz |
    "Das Naturschauspiel, die Berge, die ganzen Bilder, die unterschiedlichsten Bilder der Natur. Das ist schon beeindruckend. Oder auch das Leben oder Sein in einer Höhe, wo normal bloß nur die Flugzeuge sind. Also der Blick über die Wolken oder über die ganze Welt. Das ist schon unheimlich beeindruckend für mich. "

    Jürgen Deiber will ganz nach oben. Der Schwabe ist auf dem Weg zum Manaslu. Es gibt nur wenige Berge auf der Erde, die höher sind. Doch ohne Puja geht es nicht! Kein Buddhist in Nepal würde eine größere Reise antreten ohne die Segenswünsche eines Mönches. Ein Gipfelgang ohne das Glücksritual? Erst recht undenkbar - da müssen auch die Europäer durch.

    Der Abt aus dem nahen Kloster Sama Gaon ist eigens zum Basislager am Fuße des Berges hinaufgekommen. Der glatzköpfige Mann dreht seine Runde, besucht eine Expeditionsgruppe nach der anderen. Zwischen den Zelten wird jeweils ein Altar errichtet: eine mannshohe Halbkugel aus Schnee. Rote Jacke, roter Pullover, rote Schuhe - selbst das Brillengestell des Mönches ist rot. Auf einem Kissen thront der Prediger mitten im Schnee. Zitiert Mantras und Gebete. Stundenlang!

    Die Szenerie: schamanenhaft! Der Mönch opfert Butter, Milch, Reis und Kekse. Er segnet Eispickel, Seile und die warmen Spezialstiefel der Alpinisten. Die herumstehenden Sherpas freuen sich über ein paar Dosen Bier und eine Miniflasche voll Gin - eigentlich stehen die Getränke den Göttern zu. Doch der Buddhist denkt eben praktisch. Und so lässt sich der Mönch auch nicht aus der Ruhe bringen, als die Touristen nach dreieinhalb Stunden Andacht während der Zeremonie das Frühstück zu sich nehmen.

    Tage zuvor: der Start der Expedition.

    Ein staubiger Bergpfad beim Anmarsch. Feiner Sand wirbelt beim Gehen auf. Der knirscht zwischen den Zähnen. Eseldung auf dem Weg: Er stinkt in der Hitze! Unter der glühenden Sonne: vier Männer mit Rucksäcken, die sich die enge Budi-Ghandaki-Schlucht in Nepal hinauf kämpfen. Ihr Ziel ist der Manaslu - der achthöchste Gipfel der Erde. Seit einer knappen Woche sind die Alpinisten unterwegs. Über 100 Kilometer zu Fuß: durch Schluchten, über Flüsse hinweg, an Felswänden entlang.

    Der Gipfel: Sechs Tage lang war er versteckt hinter anderen Bergen und Wolken. Doch an diesem Morgen zeigt ein weißer Pfeil steil in den dunkelblauen Himmel: die schneebedeckte Doppelspitze des Manaslu.

    "Die Dimensionen hier im Himalaja sind doch etwas anders als wie daheim gewohnt in den Alpen. Ein sehr beeindruckendes Gefühl, dass das 5000 Meter höher ist, als wir selber."

    "Der ist schon beeindruckend, der Berg. Also ich habe jetzt nicht den Anspruch, dass ich da oben stehen MUSS. Aber einfach das zu versuchen und zu schauen, wie weit man kommt, in aller Lockerheit und Gelassenheit: Ich denke, das ist schon genügend."

    Stefan Trinkner und Jürgen Deiber: Die zwei Süddeutschen sind knapp über 40. Der eine führt im Schwarzwald einen Laden für Outdoor-Ausrüstung. Der andere arbeitet sonst als Ingenieur und baut Maschinen zur Lebensmittelherstellung. Doch für knapp zwei Monate haben sie sich eine Auszeit genommen, um an der Expedition teilzunehmen. Für beide soll es der erste Achttausendergipfel werden.

    Es dauert Tage, bis die Gruppe das Basislager am Fuße des Manaslu erreicht. Ein Camp - eingezwängt zwischen zwei Gletscherarmen. Links: aufgerissenes Eis, Spalten und Löcher. Rechts eine steile Wand, aus der alle paar Minuten Lawinen donnern. Dazwischen bunte Igluzelte auf einem Firnrücken.

    In einer Schneemulde hat Carsten Otto einen sicheren Lagerplatz ausgemacht. Dort heißt es Buddeln. Sorgfältig müssen die Gruben für die Zelte ausgehoben werden. Denn hier bleibt die Gruppe über einen Monat lang. Jürgen Deiber gräbt schon - bewaffnet mit dunkler Gletscherbrille, Nasenschutz und Sonnenhut.

    "Ja, jetzt müssen wir hier eine ebene Fläche schaffen fürs Zelt. Und dann das Zelt aufbauen. Einfach mit der Schaufel hier. Aber das ist schon mühsam hier auf 4.700 Meter. Da merkt man schon, dass wir noch Akklimatisation brauchen. Aber jetzt schaffen wir es bald. Drei Zelte stehen schon."

    Es dauert noch eine Weile, bis auch das Küchenzelt und ein zweites großes Zelt zum Essen stehen.

    Dann ist es an der Zeit, sich mit den anderen Teams im Basislager bekannt zu machen. Die wichtigste Frage: Wie sieht es aus, oben am Berg? Wie sind in diesem Jahr wohl die Verhältnisse? Eine zweite deutsche Expedition ist schon seit ein paar Tagen im Camp und hat keine guten Nachrichten.

    "Wir haben uns nicht erträumt, was uns erwartet: Als wir dann wirklich raufgekommen sind, hat es hier oben zehn, zwölf, 13 Tage nur geschneit. Und das Wenigste, was wir über Nacht bekommen haben, das waren 20 Zentimeter. Und das Meiste waren hier unten 80 Zentimeter. Man kann sich dann vorstellen - das Basislager liegt auf 4.800 Meter - dass sich das dann auch noch vermehrt in der Höhe und dann natürlich auch sehr gefährlich wird."

    Ein Blick mit dem Fernglas Richtung Gipfel bestätigt, was der Garmisch-Partenkirchener Luis Baudrexl erzählt. Es ist noch viel zu viel Schnee in der Eiswand.

    Am Manaslu ist es vor allem das unberechenbare Wetter, das in vielen Fällen den Erfolg am Berg vereitelt. Denn das Massiv wirkt wie ein Regenfänger, weil es die gesamte Bewölkung abbekommt, die vom Indischen Ozean gegen den Himalaja zieht.

    "Eine Gefahr kommt natürlich daher, dass wir diese immensen Niederschläge haben und dadurch natürlich mit Windbewegung entsprechende Lawinen, die sich hier bilden und über die Route abgehen können. Dann ist er sehr stark vergletschert, durch diesen hohen Niederschlag. Dementsprechend haben wir hier auch die Gefahr von Eisschlag, von Eisfall und eben Lawinen."

    Als gäbe es nicht schon genug Gefahren und Schwierigkeiten, hat sich das deutsche Team noch etwas Besonderes vorgenommen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gruppen will es beim Gipfelsturm auf die Hilfe von einheimischen Trägern und Führern verzichten. Auch künstlicher Sauerstoff ist Tabu. Bergsteigen in seiner ursprünglichsten Art also. Das ist ungewöhnlich in einer Zeit, in der die meisten Gipfelaspiranten sich einem kommerziellen Unternehmen anschließen, das alles organisiert, weiß auch Expeditionsleiter Thomas Lämmle.

    "Normalerweise läuft das ja so ab, dass der Berg - viele sagen das so - in Ketten gelegt wird. Also er wird mit Fixseilen versichert von unten bis oben. Träger tragen das persönliche Gepäck, tragen die Zelte, bauen die Lager auf, versichern den Berg mit Fixseilen. Und die Gäste kommen dann gesichert mit Steigklemmen nach oben. Unter Umständen - auch an diesem Berg - wird dann in den oberen Regionen, ab Lager 3 oder 4, Sauerstoff eingesetzt und ein Sherpa begleitet dann jeden einzelnen Klienten zum Gipfel. Das ist jetzt nicht der Stil, den wir machen. Wir versuchen das schon hier auf eine relativ saubere Art und Weise. Das heißt, wir tragen unsere ganzen Sachen selber. Wir legen unsere Seile selber, beziehungsweise sichern uns gegenseitig und sind einfach selbstständig und autark unterwegs."

    Bevor es losgeht, muss noch der Proviant für die Hochlager verpackt werden. In zwei großen blauen Plastikfässern steckt die Spezialnahrung. Nun wird der Inhalt auf eine Plane gekippt.

    Kekse und Müsli, Schokoriegel und Dauerwurst fallen aus den Fässern. Auch Alutüten und Plastikbeutel mit Trockenfutter wandern auf den Haufen. Jürgen Deiber sortiert.

    "Pasta siciliana mit Oliven, vegetarisch. Und dann gibt es noch für die Hochlager: Huhn mit Curryrahm. Und da haben wir noch Nudeln mit Tomatensoße Napoli. Und hier haben wir Kartoffel-Lauch-Topf mit Schinken."

    Die Fertiggerichte: Menüs, die ordentlich Power bringen sollen. Es ist nicht nur das Klettern, für das der Körper reichlich Energie benötigt. Auch die andauernde Kälte laugt aus. Über 5.000 Kilokalorien pro Tag braucht ein Bergsteiger in großen Höhen - mehr als ein Maurer oder ein Stahlkocher. Doch je höher es geht, desto kleiner wird der Appetit. Alles muss also gut schmecken.

    Auch Pickel und Steigeisen, Schlingen, Karabiner und Firnanker als Sicherung sowie Hunderte Meter Seil liegen schon bereit. Der erste Aufstieg steht an. Besprechung im Mannschaftszelt, Teamchef Thomas Lämmle erklärt die Taktik.

    "Wir gehen hoch und transportieren zum Beispiel vom Basislager ins Lager 1 Gepäck. Kommen wieder runter, schlafen unten. Am nächsten Tag gehen wir hoch, schlafen oben, gehen wieder runter ins Basislager. Machen einen Ruhetag. Dann gehen wir hoch ins Lager 1, schlafen oben, transportieren eventuell etwas ins Lager 2 und steigen wieder ganz ab. Also man muss sich das so vorstellen: Man läuft solche Wege fünf, sechs Mal hin und her."

    Das System: auf und ab wie ein Jojo, bis sich der Körper an die dünne Luft gewöhnt hat. Wochenlange Schinderei also für einen Achttausender.

    Dann der Aufbruch!

    "Endlich geht es los. Diese Spannung, dass wir mal die erste Akklimatisationsphase hinter uns haben. Dass wir endlich mal sehen, wie geht es uns wirklich am Berg."

    Auf Ski geht es Richtung Lager 1. Wenigstens keine Stapferei durch den tiefen Schnee. Die Bretter unter den Füßen helfen. Erst ein langes, flaches Gletscherbecken bis zum Naike-Pass. Am Ende dann steil empor durch verschneite Felsen. Oberhalb des steinernen Riegels: das Lager 1 in 5.600 Meter Höhe. Die Luft wird merklich dünner.

    "Das ist die Grenze menschlichen Lebens. Menschlicher Dauersiedlungen auf der Welt. Bis zu dieser Höhe können wir noch regenerieren. Wenn wir darüber gehen, dann findet keine Regeneration mehr statt. Also, der Mensch ist dann in so einem abbauenden Prozess."

    "Hecheltraining". Jürgen Deiber und Carsten Otto probieren eine spezielle Atemtechnik. Sie soll den Gang zum Gipfel erleichtern. Schon im Lager 1 steht dem Menschen nur noch halb so viel Sauerstoff zum Atmen zur Verfügung wie im Flachland. Oberhalb von 8.000 Metern nur noch ein Drittel.

    "Man muss so atmen, als wenn man einen Luftballon aufbläst. Also nach außen die Luft gegen einen Widerstand rauspressen."

    "Es kommt wirklich auf dieses Ausatmen an. Dass die Luft, die verbraucht ist, wieder aus dem Körper rauskommt und damit die Sauerstoffsättigung im Körper auf dem Niveau bleibt, wie wir es gewohnt sind."

    Die Passage oberhalb des Camps ist wohl die heikelste. Über eine Stunde lang müssen die Alpinisten unter herabhängenden Eistürmen hindurch aufsteigen. Gelegentlich poltern Eisbrocken in der Größe von Einfamilienhäusern herunter. Doch in diesem Jahr gibt sich der Gletscherbruch friedlich. Die folgende Rinne allerdings birgt eine neue Gefahr: Lawinen! Meterhoch hat der Wind den Schnee gepackt. Der Fuß versinkt bei jedem Tritt ins Bodenlose. Eine elende Schinderei! Die Ski sind hier fehl am Platze, es ist einfach zu steil.

    Nach Hunderten von Metern Aufstieg: Eine tiefe Gletscherspalte versperrt den Weg. Die Kletterer müssen hindurch. Ein letzter Aufschwung noch, dann ist das zweite Hochlager erreicht.

    "Ich bin ziemlich k.o. und ausgepowert. Als wenn man drei Marathons hintereinander gerannt wäre. - Wenn man so rauf geht, dann meint man, man schläft schier ein. So müde ist der Körper. Man möchte sich eigentlich gar nicht mehr anstrengen, sondern einfach nur noch sitzen bleiben."

    Die Gruppe hat eine Höhe von 6.400 Metern erreicht. Mehrfach müssen in das Camp noch Rucksäcke hinauf gebracht werden - vollgestopft mit Essen und Gas, mit Seilen und Kletterausrüstung. Knochenarbeit!

    Ein paar Tage später: zurück im Basislager. Die Zeltstadt hat ihr Gesicht verändert: 65 Iglus, Küchenzelte, Duschkabinen und Latrinenverschläge drängen sich jetzt in der Schneemulde. Ein Zweitakt-Generator brummt, sobald es dunkel wird. Kunstlicht, Satellitenfunk und Internet brauchen Strom. Die Zivilisation hat Einzug gehalten. Manches Teamzelt ist mittlerweile zum Medienzentrum geworden. Auf Blogs und Webseiten, mit E-Mails und Digitalfotos informieren viele Expeditionen die Daheimgebliebenen und die Welt über ihr Treiben am Manaslu. Stefan Trinkner ist genervt!

    "Es erinnert einen mehr an einen Rummelplatz im Kleinen als an ein Basislager. Da kamen dann zwei japanische Gruppen mit sehr großem Aufwand, mit Generator, und eben einer sehr großen Geräuschkulisse, die man an einem Achttausender nicht unbedingt wünscht. Also das Basislager war dann nicht mehr dieser schnuckelige Platz wie am Anfang."

    Hektischer Funkverkehr ist durch die Zeltbahn zu hören. Die einheimischen Sherpas sind unruhig. Irgendetwas muss passiert sein oben am Berg. Am frühen Morgen ist das zweite deutsche Team offenbar nur knapp einer Katastrophe entgangen, weiß Luis Baudrexl.

    "Als wir dann um halb sieben eigentlich starten wollten, da ist direkt in der Aufstiegsroute eine Riesenlawine, beziehungsweise ein Riesenschneebrett - ausgelöst durch Eisschlag vom Westgipfel des Manaslu - abgegangen, und da sind wir dann alle sehr erschrocken. Und dann haben wir gedacht, jetzt ist das raus, da können wir ja beruhigt starten. Der Berg, der hat es in sich."

    An den Tourentagen heißt es meistens Frühaufstehen. Es ist einfacher, unterwegs zu sein, solange der Schnee noch hart gefroren ist und trägt - also nachts. Um zwei oder drei Uhr geht es manchmal schon bergan.

    Und bald kommt dieser magische Moment, der für all die Mühen entschädigt. Das erste Licht setzt die Bergspitzen in Flammen.

    " Als wir an den Zelten fortgegangen sind, da war es noch stockfinster. Wir sind mit unseren Stirnlampen natürlich losgegangen. Wenn man dann so nach eineinhalb Stunden das Morgengrauen erblickt und die ersten Umrisse der Gebirge, dann geht einem das Herz auf. Das geht dann immer weiter, bis die ersten Sonnenstrahlen eintreffen und der Tag dann immer heller wird. Und jetzt ist es schon richtig heiß, obwohl es erst sieben Uhr morgens ist."


    Der Monsun rückt näher. Wenn die Regenzeit beginnt, ist es zu spät zum Aufstieg. Deswegen soll es jetzt in einem Zug bis auf die Spitze des Manaslu gehen.

    "Für uns kommt es jetzt darauf an, dass wir uns jetzt die letzten zwei Tage hier erholt haben. Dass wir die Flüssigkeitsbilanz ausgeglichen haben, also viel getrunken. Die Energiespeicher voll sind, wir also hier unten entsprechend gut gegessen haben. Und dann heißt es jetzt einfach, die Zeit in dieser Zone oberhalb von 5.500 Meter relativ kurz zu halten - wir bauen ab in der Zeit, die wir da oben sind - und zu versuchen, relativ zielstrebig den Gipfel zu erreichen. Was jetzt nicht ganz einfach sein wird, weil wir uns auf dieser Route, die sich oben durch steileres Eis durchzieht, uns wahrscheinlich gegenseitig sichern müssen."

    Nun heißt es: Schneller am Gipfel zu sein, als der Körper verfällt. Fast drei Kilometer Eiswand warten noch vor dem höchsten Punkt. Eine Woche ist für die Gipfeltour veranschlagt. Das Lager 2 ist schnell wieder erreicht. Ab dort kommen Daunenjacke, dick wattierte Hosen, Spezialstiefel, Gesichtsmaske und Schneebrille zum Einsatz. Denn obwohl die Sonne den ganzen Tag strahlt, sind die Temperaturen doch weit unter dem Gefrierpunkt. Schritt für Schritt nur geht es langsam die steilen Schneeflanken hinauf, immer öfter sind Pausen nötig.

    Dann der nächste Zeltplatz, geduckt unter einem Eisabbruch, der Schutz gegen Lawinen bieten soll. Ein winziges Plateau oberhalb des Nordsattels, gerade breit genug für zwei Schlafsäcke nebeneinander. Wer das Zelt verlässt, muss feste Stiefel anziehen, um nicht den Hang hinabzustürzen.

    "Sehr, sehr eindrücklich an einer Spalte mit einem Seracabbruch als Platz für ursprünglich drei Zelte. Nachher standen da fünf. Das fand ich einen sehr imposanten Lagerplatz. Und dann ging es danach gleich relativ steil weiter. Sehr eindrücklich."


    Der folgende Hang hat es in sich. Mehrere Hundert Meter ist er hoch. Dann geht die Spur von Schnee in Eis über. Das Sicherungsseil muss mit Schrauben und Karabinern in der Steilpassage befestigt werden - eine mühsame Arbeit! Stundenlanges Warten kommt noch hinzu, denn alle Teams am Manaslu sind mittlerweile zum Gipfel aufgebrochen: Der Wetterbericht sagt nur für kurze Zeit noch sichere Verhältnisse voraus.

    Am Ende des Tages die schwierigste Etappe: sprödes, blankes, blaues Gletschereis, das splittert, wenn die Steigeisen zutreten. Der Blick nach unten: Zwischen den Füßen hindurch ist ein Pass zu erkennen - ein Kilometer tiefer. Ein Balanceakt in der Senkrechten!

    Dann lehnt sich der Hang zurück. Ein rotes Bündel liegt am Wegesrand. Ein altes Zelt? Eine weggewehte Jacke? Eine Knochenhand ragt aus den vermeintlichen Lumpen hervor. Sie scheint den Bergsteigern entgegen zu winken. Stefan Trinkner ist entsetzt:

    "Gruselig. Ich brauchte erst mal einen Moment, um das zu realisieren, dass hier eine Leiche liegt, mit der Hand aus dem Schnee. Es sah erst von weitem aus wie Zeltreste oder so was. Das war schon eher gruselig. Und dann ging auch die Fixseilstrecke praktisch auf einen Meter an dieser Leiche vorbei. Ich kenne es aus Erzählungen, dass die Wege von Leichen gesäumt sind, aber wenn man dann so direkt darauf zuläuft, dann ist das schon ein komisches Gefühl."

    Kurz hinter der Eismumie: das Lager 4. Ausgangspunkt für den Gipfelgang. In siebeneinhalb Kilometer Höhe! Ein lebensfeindlicher Ort: Zelte auf freigeblasenem Gletschereis, ein paar Geröllblöcke - sonst nichts. Der Wind pfeift über den schlauchähnlichen, engen Pass. Die Temperaturen: Nachts sinken sie auf unter minus 30 Grad. Den meisten geht es schlecht.

    "Alles strengt an, wirklich alles. Das Hauptproblem: Man wird lustlos und muss sich zu allem zwingen. Schnee zu schmelzen für Tee. Die Essensaufnahme ist mühsam. Man liegt eigentlich nur rum und vegetiert vor sich hin."

    Am 34. Expeditionstag starten Thomas Lämmle und Carsten Otto allein zum Gipfel. Die anderen aus ihrem Team sind einfach zu schwach. Der Aufbruch: mitten in der Nacht.

    Im Schneckentempo arbeiten die zwei sich die Schneeflanken hinauf. Nach acht Stunden: die letzten Meter.

    "Eine steile Rinne, wo man sicher mit Steigeisen können gehen muss. Ich bin dann in meinem Rhythmus drin, in einem Atemrhythmus. Man muss sich das ja so vorstellen: Man geht ein paar Schritte und dann muss man anhalten und dann genauso oft schnaufen, wie man vorher beim Gehen geschnauft hat. Dann geht es wieder weiter und in diesem Rhythmus geht das den ganzen Berg hoch. Selbst bei den letzten 50 Metern hast du Umkehrgedanken. Wo der Körper eigentlich sagt, aufhören, umdrehen. Und du eigentlich hoch wollen musst, damit du auch hochkommst."

    Es ist fast Mittag, als Carsten Otto die Spitze des Manaslu erreicht: 8.163 Meter! Ein Felskopf über einem Wolkenmeer.

    Nur zwei andere Achttausender schauen aus der wattegleichen Masse heraus: Annapurna und Dhaulagiri. Carsten Otto beugt sich über seinen Pickel und ringt nach Luft.

    "Durch diese Anstrengung ist man weich. Ganz natürlich. Ganz menschlich. Man ist da sehr nahe den Tränen. Weil es so eine Gefühlsmischung ist, aus diesem: Boah, das habe ich jetzt geschafft, dieser Anstrengung, die noch da ist und dann dieses erhabene Gefühl, auf so einem hohen Berg stehen zu dürfen."

    Es bleibt nur wenig Zeit für große Gefühle. Und drei ganze Tage dauert es, bis die Gruppe wieder komplett im Basislager ist. Die Alpinisten müssen ihre Zelte abbauen, Material herunterholen, den Berg von ihren Hinterlassenschaften säubern.

    Immerhin: Alle sind heil zurück. Doch mancher schiebt Frust, dass er nicht oben war:

    "Eine Mischung zwischen Enttäuschung und Erleichterung. Die Enttäuschung, dass es nicht ganz gereicht hat zum Gipfel. Und zum Anderen ist es auch ein Stück weit Erleichterung, dass es vorbei ist. Wir waren ja dann mittlerweile sechs Nächte und sieben Tage unterwegs. Immer in der Nähe von 7.000 Metern. Mit Übernachtungshöhen von über 7.000, dreimal hintereinander. Da ist an Schlaf nicht viel zu denken, an Essen nicht viel zu denken. Und deshalb auch Erleichterung, wieder im Basislager zu sein."

    Dankbarkeit, als alle unversehrt im Tal sind. Die Expedition endet, wie sie begonnen hat: mit einer Puja! Ein Besuch im Kloster von Samdo ist beim Abstieg unerlässlich. Wer wollte die Einladung der Mönche ausschlagen, die Rückkehr ins Leben gemeinsam zu feiern?