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Der Sound der Sozialämter

Immer wieder widmet sich Barbara Mundel den drängenden Fragen unserer Zeit, seit sie vor zwei Jahren ihre Intendanz am startete. Unter dem Arbeitstitel "Kevin tot zu Haus" gab sie jüngst ein Stück über das heikle Thema Kindesmisshandlung in Auftrag. Mit dem Ergebnis namens "Kaspar Häuser Meer" ist der Autorin Felicia Zeller ein packendes Stück gelungen - keine Täteranalyse, sondern eine Groteske über eine ausgebrannte Berufsgruppe.

Von Sandra Helmeke | 21.01.2008
    Mitten auf der Bühne steht ein zimmergroßer Bretterverschlag. Dessen vordere Wand fällt plötzlich nach vorne weg. Drei Damen vom Amt in adretten 60er Jahre Kleidern sind den Blicken des Publikums ausgesetzt. Auf einem Bildschirm spielt ein Langhaariger verträumt Gitarre und verbreitet einen Hauch von längst vergessener Weltverbessererromantik. So könnten sie mal angetreten sein, die drei Sozialarbeiterinnen Annika, Barbara und Silvia. Doch von ihrem Idealismus ist nicht viel geblieben.
    Über den gesamten Bühnenraum legt sich ein Video, wie ein ewiges schlechtes Gewissen. Schemenhaft wird ein endlose Kamerafahrt erkennbar durch Betonwüsten, graue Häusermeere: Die sozialen Brennpunkte unserer Zeit. Da sollte man mal wieder hin - diese oder jene Familie kontrollieren. Die letzten drei Mal hat niemand aufgemacht.

    Doch Annika, Barbara und Silvia sind heillos überlastet: Ihr Kollege Björn hatte einen Burnout, jetzt müssen sie seine Fälle auch noch übernehmen. Doch solche Handlungsstränge bleiben nur angedeutet. Entschiedenes Handeln gibt es ja auch im Amt nicht. Mechanisierte Arbeitsabläufe ersetzen echtes Handeln. Fälle werden verwaltet und nicht gelöst. Wie auch: Es fehlt die Zeit, und die übergroße Verantwortung lähmt.

    Abgesehen von den kurzen Rockmusik-Einspielern vertraut die Regie von Marcus Lobbes ganz auf Felicia Zellers Text und auf die Sprache und Körpersprache der Schauspielerinnen. Rebecca Klingenberg, Bettina Grahs und Britta Hammelstein wirken wie Gefangene in einem Hamsterrad – viel Spielraum haben sie nicht, sie machen höchstens ein paar Lockerungsübungen.

    Ihre Texte spielen sie ab wie Schallplatten. Sie sprechen gleichzeitig miteinander - und aneinander vorbei. Man kennt ja schließlich das Repertoire der jeweils anderen. Behördensprech wie: "Hat denn jemand schon eine Eingabe gemacht auf Verwaltungsebene?" Ein dichter Textteppich ergießt sich ins Publikum, 70 Minuten lang in hohem Tempo: Der irre, monotone Sound der Sozialämter.

    Felicia Zeller hat lange für ihr Stück recherchiert, hat Fachbeiträge gelesen, mit Sozialarbeitern gesprochen und ihre Gespräche belauscht. Dann hat sie ihrer Sprache einen Rap-Rhythmus verpasst: im hektischen Sprachduktus die Überlastung und Angst vor Fehlern spürbar gemacht. Schließlich wob sie in die Sozialarbeiterdialoge Satzfetzen von Eltern und Nachbarn ein.
    Das sind jedes Mal starke Momente, wenn die Schauspielerinnen plötzlich ihre Körperspannung verlieren, sich in die Ecke drücken und von Sozialarbeiterinnen zu Eltern werden: zu jenen Eltern, die sie täglich kontrollieren müssen, und die ihnen nörgelnde Abwehr-Sätze entgegenschleudern wie "hau ab, ey".

    Die misshandelten und vernachlässigten Kinder selbst kommen über weite Strecken des Stückes nicht vor. Dann aber erzählt Silvia von einem Wohnungsaufbruch: In einem vermüllten Zimmer, auf kotverschmierter Matzratze habe sie ein fast verhungertes Körperchen gefunden.
    Hatte man vorher über die atemlosen, in grotesken Ritualen erstarrten Sozialarbeiterinnen geschmunzelt, erwischt es einen jetzt eiskalt. Der Film, der über dem Bühnenraum liegt, wird plötzlich zum Videospiel. Eine Maschinenpistole irrt nun durch die Häuser-Meere, und das Publikum wird in die Perspektive eines aggressiven Jugendlichen versetzt. Dazu singen computerverzerrte Kinderstimmen "we will rock you".

    Ein Stück zu schreiben über Kindesmisshandlung, daran hätte man leicht scheitern können. Zu groß das Risiko, Betroffenheitslyrik zu produzieren. Felicia Zeller hat keine Täteranalyse geschrieben, sondern eine Groteske über eine ausgebrannte Berufsgruppe. Und indem sie ihren Figuren auch immer wieder Satzfetzen von Eltern und Nachbarn in den Mund legt, entsteht das Bild einer ausgebrannten Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die keine Kraft mehr hat für den eigenen Nachwuchs. Ein kurzer, packender Premierenabend.