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Der SPD-Europapolitiker Jo Leinen
"Eine Minderheitsregierung ist auch eine Regierung"

Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen rät seiner Partei und der Bundeskanzlerin, möglichst schnell Gespräche über eine Minderheitsregierung zu führen. "Die Hängepartie in Berlin ist regelrechtes Gift für Europa", sagte Leinen im Dlf. Man müsse jetzt kreativ und bereit sein, innovative Lösungen zu finden.

Jo Leinen im Gespräch mit Silvia Engel | 23.11.2017
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen (imago / Yex Pingfan)
    Silvia Engels: Wir weiten den Fokus ein wenig, denn die unklare Regierungsbildung in Deutschland sorgt auch in der EU für Besorgnis. Der frühere Landesminister und heutige SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen hatte Anfang der Woche mit Blick auf die gescheiterten Jamaika-Sondierungen gesagt: "Die Hängepartie in Berlin schade nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa." Er ist nun am Telefon. Guten Morgen, Herr Leinen.
    Jo Leinen: Guten Morgen, Frau Engels.
    Engels: Für welche anstehenden Europaprobleme ist denn die derzeitige geschäftsführende Bundesregierung Ihrer Ansicht nach zu schwach?
    Leinen: In Brüssel ist allgegenwärtig die Sorge, dass neben den vielen Unsicherheiten, die wir in der EU haben, jetzt auch noch Deutschland als bisheriger Pfeiler der Sicherheit eine zusätzliche Unsicherheit hinzufügt, also dass die Bundesregierung nicht handlungsfähig ist. Und in den nächsten Wochen und Monaten stehen ganz große Entscheidungen an: die Stärkung der Eurozone, die Reform der Europäischen Union, die europäische Verteidigungsgemeinschaft, die jetzt gebildet wurde, und nicht zu vergessen der Ausstieg von Großbritannien aus der EU. Das sind kapitale Themen, wo man eine Bundesregierung braucht, die mit Legitimation arbeiten kann und entscheiden kann. Die Hängepartie in Berlin ist regelrechtes Gift für Europa.
    Engels: Ihre Kritik am Scheitern einer Jamaika-Koalition von Anfang der Woche kann man ja auch auf die SPD übertragen. Die Spitze in Berlin weigert sich bislang, für Gespräche mit der Union über eine Regierungsbildung bereit zu stehen. Was erwarten Sie von Ihren Parteifreunden in Berlin?
    Leinen: Wir können es uns gar nicht erlauben, dass bis in den nächsten Sommer hinein es keine Bundesregierung gibt. Ergo muss jetzt in den nächsten Tagen und Wochen eine Entscheidung fallen, wie das in Berlin weitergeht. Ich denke, dass nach dem Gespräch heute von Martin Schulz mit Bundespräsident Steinmeier auch eine neue Lage entsteht, dass die SPD zu Gesprächen bereit sein soll, falls die Kanzlerin auf die SPD zukommt und solche Sondierungsgespräche haben will.
    "Wir haben auch Verantwortung für Deutschland - und Europa"
    Engels: Sondierungen, die auch am Ende eine Neuauflage der Großen Koalition nicht ausschließen?
    Leinen: Ich glaube, wir haben gesagt, das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten seit dem Zweiten Weltkrieg ist kein Mandat für eine Regierung durch die SPD. Ich glaube, wir haben eine andere Rolle. Aber wir haben auch Verantwortung für Deutschland und, ich muss sagen, auch für Europa. Insofern braucht man irgendwie Stabilität in Berlin und das geht auch mit einer Minderheitsregierung. Wir haben in Europa viele Länder, von Schweden über Dänemark bis Portugal, wo Minderheitsregierungen existieren und auch ganz gut arbeiten. Das könnte funktionieren und ich glaube, so eine Lage könnte sich jetzt anbahnen, und die SPD sollte dem offen entgegentreten.
    "Merkel bleibt von der Arithmetik her nur die SPD"
    Engels: Das heißt, Sie schlagen Ihrer Partei eine Zusage an die Union vor, in wichtigen Fragen die Union als Minderheitsregierung dauerhaft zu tolerieren?
    Leinen: Zuerst kommen ja mal Gespräche. Man kann das auch Sondierungen nennen. Und es hängt natürlich auch von den Konditionen ab: Ist Frau Merkel bereit, auf wesentliche Inhalte der Sozialdemokraten einzugehen. Sie braucht ja jemand. Die FDP bekommt sie nicht, die Grünen sind zu wenig, also es bleibt ihr von der Arithmetik her nur die SPD, um Stabilität für Deutschland und Europa herzustellen. Da, denke ich, gibt es auch gute Chancen, unsere Vorstellungen für ein soziales Europa, unsere Vorstellungen für ein soziales Deutschland voranzubringen. Wenn das stimmt von den Inhalten her, dann kann es eine Minderheitsregierung mit Tolerierung durch die Sozialdemokratie geben in Berlin.
    Engels: Wenn Sie aber sagen, die wichtigsten Themen müssen vorab abgestimmt werden, die SPD muss ihr Profil da einbringen können, dann ist das doch eine Große Koalition, ohne dass man sie so nennt.
    Leinen: Ja, gut. Eine Minderheitsregierung hat ja die Chance, mit wechselnden Mehrheiten zu arbeiten. Wir hätten unsere Punkte, die wir gerne durchgesetzt sehen und auch dafür Unterstützung anbieten. Sicherlich, wenn man keine Koalition gebildet hat, gibt es auch andere Themen, wo die Kanzlerin dann versuchen würde, vielleicht Jamaika noch mal hinter sich zu bekommen. Das ist ja auch eine Mehrheit. Das ist der Preis, den man zahlt, wenn es keine geschlossene Regierung gibt, sondern eine Minderheitsregierung. Mit wechselnden Mehrheiten zu arbeiten, das kennen wir auch in Deutschland. Auf der Kommunalebene ist das vielfach der Fall, auf Länderebene ist es auch der Fall. Und jetzt haben wir die Situation, dass es womöglich auch auf Bundesebene so kommen wird.
    "Man muss bereit sein, innovativ nach neuen Lösungen zu suchen"
    Engels: Aber das Ganze auf vier Jahre angesichts der riesigen Probleme auf EU-Ebene, die Sie ja skizziert haben, wie will man denn weiterkommen, wenn es dann wirklich um kardinale Fragen geht wie Haushalt oder große Reformpakete, die auf europäischer Ebene geschnürt werden müssen? Ist das realistisch?
    Leinen: Ich sehe, dass andere Länder das auch machen. Für uns ist das Neuland. Das ist für deutsche Verhältnisse nicht eingeübt. Aber wir haben jetzt die Situation, dass Jamaika gescheitert ist. Die SPD hat aus der Bundestagswahl heraus kein Mandat, die Große Koalition in alter Form fortzusetzen. Von daher muss man kreativ sein und muss auch bereit sein, innovativ nach neuen Lösungen zu suchen. Und wenn nichts mehr geht, dann geht eine Minderheitsregierung, wo wir dann unsere Inhalte anbieten. Soweit die dann auch getragen werden, können wir die Bundesregierung unterstützen. Soweit das nicht getragen wird, muss Frau Merkel – sie hat dann natürlich die Wahl, auch andere Mehrheiten im Bundestag zu suchen.
    "Frau Merkel muss auf uns zukommen"
    Engels: Dadurch wäre die SPD aber noch viel schwächer in der Regierung, als sie in einer offiziellen Großen Koalition wäre.
    Leinen: Wir haben die Chance, auch aus der Opposition heraus unsere Profile zu schärfen. Wir wollen ja, dass der Arbeitsmarkt wirklich neu geordnet wird in Deutschland, dass wir ein großes Investitionsprogramm haben in den Bildungssektor, für das digitale Zeitalter, auch die kaputten Brücken und sonstigen Infrastrukturmaßnahmen endlich reparieren mit dem vielen Geld, was da ist. In Europa wollen wir auf Frankreich zugehen. Wir hatten noch nie einen so deutsch- und europafreundlichen Präsidenten als Emmanuel Macron, und es wäre wirklich eine Sünde, wenn Deutschland jetzt nicht in der Lage wäre, mit Frankreich zusammen eine neue Dynamik in der Europäischen Union zu entwickeln. Dafür kann die SPD auch wirklich bereit sein und auch Unterstützung anbieten, und Frau Merkel muss auf uns zukommen und dann Gespräche anbieten.
    "Ohne Neuwahlen wird die SPD nicht in eine Große Koalition eintreten können"
    Engels: Würden Sie denn sagen, die Tolerierung soll über vier Jahre gehen, oder würde man zwischendurch doch über eine Große Koalition noch mal verhandeln?
    Leinen: Ohne Neuwahlen, bin ich ziemlich sicher, wird die SPD nicht in eine Große Koalition eintreten können. 20,5 Prozent, das schlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg, das ist jetzt kein Mandat von den Wählerinnen und Wählern, mit Ministern in der Regierung aufzutreten. Aber Deutschland braucht eine Regierung. Wir können ja nicht über viele Monate ohne Regierung dastehen. Die anderen in der Welt warten nicht darauf, bis wir eine Regierung gebildet haben. Eine Minderheitsregierung ist auch eine Regierung. Sie muss dann auf die Parteien im Bundestag zugehen und sich für die jeweiligen großen Fragen die Unterstützung holen. Das kann gehen. Ich sagte schon, das ist Neuland für Deutschland. Das war noch nicht da. Aber wir erleben ja laufend, dass wir uns flexibel verhalten müssen und auch innovativ denken müssen.
    Engels: Was denken Sie, ist diese Idee einer Minderheitsregierungstolerierung mehrheitsfähig in der SPD?
    Leinen: Wir haben ja gesehen, dass in der Bundestagsfraktion eine Mehrheit, wie ich höre, keine Neuwahlen will.
    Engels: Wie ist es in der Europaebene?
    Leinen: Ich habe gestern Abend eine Sondierung in der Europa-AG gehabt hier im Parlament. Wir waren einmütig der Meinung, Große Koalition nein, aber Sondierungen und auch Bereitschaft für die Tolerierung einer Minderheitsregierung, ja. Eine ganz klare Orientierung, die die Kolleginnen und Kollegen abgegeben haben, weil wir mit Sorge sehen, dass Deutschland, dieser bisherige Stabilitätsanker in der EU, eine große Unsicherheit in die Europapolitik bringt, und das können wir uns zurzeit überhaupt nicht erlauben.
    Engels: Jo Leinen war das. Er ist für die SPD im Europäischen Parlament. Wir sprachen mit ihm über die SPD und die mögliche Ausrichtung in Berlin. Vielen Dank für das Gespräch.