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Der stille Star von 1972

Unter den Veranstaltungen der als die "heiteren" konzipierten Sommerspiele der XX. Olympiade München 1972 war der "Olympische Wissenschaftskongress" ein Highlight. Die internationale Zusammenkunft der Forscher wurde unter dem Dach des "Deutschen Museums" im Vorfeld der Wettkämpfe platziert.

Von Kerstin Kirsch-Schück | 17.05.2012
    Die Konferenz bildete den Auftakt zu jenem denkwürdigen 26. August 1972, dem Datum der strahlenden Eröffnungsfeier der Spiele von München. Nach dem Wunsch des damaligen deutschen NOK-Präsidenten und Cheforganisators Willi Daume sollten sie der Welt das neue, unpathetische Gesicht der jungen Bundesrepublik Deutschland zeigen. Auch das wissenschaftliche Motto des Kongresses: "Sport in unserer Welt – Chancen und Probleme" touchierte das gewisse Etwas, den berühmten "spirit of the games".

    Münchens "Olympischer Sommer", wie der Name des vielfältigen Kulturprogramms nach den Regeln des IOC lautete, sollte die bayrische Landeshauptstadt nicht nur als die "Metropole der Muskeln" sondern zugleich als die ""Metropole der Musen" erweisen. Die Erwartungen waren hoch. Die Themenpalette des Wissenschaftler-Meetings gliederte sich in mehrere Sektionen: Anthropologie, Philosophie, Theologie, sodann Soziologie, Sozialwissenschaften, Sozialpsychologie, weiterhin Pädagogik und Psychologie, sowie in den Komplex der allgemeinen Medizin und der Sportmedizin.

    An vier Konferenztagen fanden sich mehrere hundert Wissenschaftler ein. Die 45 olympisch motivierten Themenfelder zeichneten eine für die heutige Sportwissenschaft typische interdisziplinäre Spannung vor. In München 1972 steckte man aber noch in den Kinderschuhen. Das Sportrecht, die Rechts-, Wirtschafts- und Informations-wissenschaften, sie fehlten als eigener Part. Die Organisation notierte das Fehlen geographischer Regionen wie Südamerika, Afrika und von Teilen Asiens. Als Konferenzsprachen fungierten Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Deutsch.

    Welche Thematiken stachen besonders hervor? In der Sektion Medizin galt das virulente Interesse Feldern wie: "Neuromuskuläre Grundlagenerkenntnisse der Sportmedizin" oder "Angewandtes medizinisches Wissen im Hochleistungssport". In der Rubrik "Pharmaka und Sport" wurden 1972 erstmals Ansätze zur Vereinheitlichung der Regel- und Gesetzeswerke und zur Koordination sportmedizinischer Forschung im Rahmen einer internationalen Anti-Doping-Politik sichtbar. Besondere Projekte zum Stoffwechsel des Athleten bezogen sich auf den gefährlichen, oft ineffektiven Einsatz von Drogen wie Amphetaminen oder von Körpereiweiß aufbauenden Anabolika als damals noch nicht praktikabel nachzuweisenden Substanzen.

    Die Perspektive der Globalisierung gab sich im Bereich der Sozialwissenschaften ein Stell-Dich-Ein unter dem Sujet "Der Beitrag des Sports zur Integration der Weltgesellschaft". Die Ökonomie wurde akzentuiert mit: "Der Beitrag des Sports zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung". In der Sektion "Anthropologie, Philosophie und Theologie" entdecken wir Titel zu "Selbstwert und Leiblichkeit" und zur "Interpretation des Hochleistungssports". Die schwierige Sinnfrage des modernen Sports sollten die philosophische Anthropologie und Phänomenologie lösen helfen.

    Einen umfassenden Schwerpunkt bildeten im Zeitalter des Kalten Krieges Akzente zur "Sportpsychologie in sozialistischen Ländern" im Gegenhalt zu einer "Sportpsychologie in westeuropäischen Ländern". Damit begann 1972 ein olympisch motivierter, intellektueller Austausch zwischen den Blöcken in Ost und West und ein Stück weit Friedenspolitik.

    Interdisziplinäre Beiträge zur Psychomotorik berührten "Sensomotorisches Training bei geistig behinderten Kindern". Die Fortentwicklungen zu den Paralympics wie den Special Olympics als eigenen Gestalten der Olympischen Spiele. Es gab Foren zum "Mentalen Training", zur Sportpädagogik in Entwicklungsländern, zu medizinischen Problemen des Schulsports, zum programmierten Lernen, zu Stoffwechselfragen im Sport.

    Konnten konkret Chancen des olympischen Sports skizziert werden? Und wie gewann dabei das berühmte "Olympische Ideal" seine besondere Kontur? - Eine Antwort versucht eines der brilliantesten Hauptreferate, der Vortrag des Belgiers Leo Kardinal Suenens mit dem wachen Titel: "Entfremdung und Identität des Menschen". Der Theologe zielt auf den Sinn des Sports: Sport als Verhältnis des Menschen zu sich selbst, Sport als Verhältnis zu anderen Menschen und drittens auf den Sport als Fortsetzung der Inkarnation, der Menschwerdung. Der Sport wird gekennzeichnet als Mittel zur menschlichen Entfaltung und zur Findung des inneren Gleichgewichts. Das klingt vertraut und modern. Suenens spricht davon, dass für das Christentum die menschliche Person in ihrer Ganzheit, in ihrer ganzen Realität im Mittelpunkt des Interesses steht. Wörtlich: "Der Mensch ist nicht eine Seele und ein Körper, auch nicht eine Seele mit einem Körper, sondern ein beseelter Körper und eine fleischgewordene Seele." Der Mensch als Sportler "besitzt nicht eine Seele, wie er ein Auto besitzt; sein Körper ist nicht nur eine Hülle, der Mensch ist Seele und Körper zugleich." Durch die Theologie wird der Respekt vor der Ganzheit des Menschen im Sport zum Ausdruck gebracht: "Der ganze Mensch ist ihr heilig, alles ist der Gnade würdig. … Der Sport bietet sich in diesem Sinne als Faktor der individuellen und sozialen Vermenschlichung in einer Welt mit so vielen unmenschlichen Seiten an."

    Reicht diese tiefe Sichtweise bis in unsere Tage? Erreicht sie den in seiner humanen Dimension stets gefährdeten Athleten? Trifft uns die Ernsthaftigkeit des Argumentes, wenn wir an das Schicksal des unter schweren Depressionen leidenden Fußballers denken? - Das Wagnis eines internationalen Netzwerkes der Wissenschaften charakterisierte den olympischen Wettstreit der Forscher und Denker in München ebenso wie verdienstvolle Publikationen. Der Terrorschock durch den Palästinenserüberfall auf das israelische Olympiateam am 5. September 1972 warf indes einen dunklen Schatten auf die Spiele. Dennoch blieb der Olympische Wissenschaftskongress von 1972 etwas Unverzichtbares: Er war der bergende, stille Star.