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Der Subventionskarawane auf der Spur

Die Empörung über Nokias Abgang aus Bochum ist groß. Politiker und Gewerkschafter verurteilen einmütig wie selten die Vergabe öffentlicher Gelder an Unternehmen. Mit Wortschöpfungen wie "Subventionsheuschrecke" und "Karawanenkapitalismus" machen sie ihrem Ärger Luft. Doch während die Vergabe von Subventionen auch innerhalb der Europäischen Union umstritten ist, zieht die Karawane längst weiter - ganz nach Osten, nach China.

Von Volker Finthammer, Jan Pallokat und Friederike Schulz |
    Tausende von Mitarbeitern verlieren in Kürze ihre Existenz, wenn Nokia sein Werk in Bochum schließt. Der Protest ist laut und einmütig wie selten: Politiker und Gewerkschafter in Berlin und Düsseldorf verurteilen seit Tagen die Vergabe öffentlicher Gelder an Unternehmen, und auch aus der Katholischen Kirche kam heute Kritik.

    Doch die Würfel sind anscheinend gefallen: Entscheidet sich ein Unternehmen wie jetzt Nokia, den Standort zu wechseln, hat die Politik kaum Spielraum, um einzugreifen. Die Regeln, welches Unternehmen in welchem Land wieviel Geld erhält, hat sie allerdings selbst aufgestellt. Über Segen und Fluch der Subventionsvergabe in Nordrhein-Westfalen berichtet Friederike Schulz:


    Seit 1961 sind Subventionen aus der nordrhein-westfälischen Wirtschaftspolitik nicht mehr wegzudenken. Drei Jahre zuvor hatte in Bochum das erste Bergwerk seine Pforten geschlossen - der Niedergang der Steinkohle-Industrie im Ruhrgebiet begann.

    Hatten nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch 600.000 Menschen auf den Zechen gearbeitet, waren es Mitte der 70er Jahre nur noch 200.000. Die Förderkosten im Revier waren im Vergleich einfach zu hoch. Außerdem machten Erdöl, Erdgas und Atomstrom der Kohle auf dem Energiemarkt zunehmend Konkurrenz.

    Die Politik merkte bald, dass sie die Entwicklung nicht aufhalten, wohl aber mit Subventionen verlangsamen konnte. Sonst hätte der Strukturwandel die Region noch viel härter getroffen, erläutert Professor Franz Lehner, Leiter des Instituts für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen.

    "Oberhausen hat auf einen Schlag 20.000 Arbeitsplätze verloren. Das können Sie mit normalen wirtschaftlichen Entwicklungen nicht aufholen."

    Bis heute subventioniert Nordrhein-Westfalen den Bergbau mit 500 Millionen Euro im Jahr - noch immer der größte Posten im Förder-Etat des Landes. Der Bund gibt weitere zwei Milliarden hinzu. Doch seit einem Jahr ist klar: 2018 ist Schluss damit. Auf dem Steinkohle-Gipfel einigten sich Vertreter der Industrie, des Bundes und des Landes auf das Ende der Steinkohleförderung. Gerhard Papke, der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Düsseldorfer Landtag, sah endlich eine der zentralen Forderungen seiner Partei erfüllt:

    "NRW kann sich die Subventionierung einer nicht wettbewerbsfähigen Industrie nicht mehr leisten. Wir wollen vielmehr die dort eingesparten Milliardensubventionen nutzen und sie in Zukunftsbereiche stecken, vor allem im Ruhrgebiet. Nordrhein-Westfalen wird seinen Wohlstand nur halten können, wenn es uns gelingt, Produkte zu verkaufen, die weltweit wettbewerbsfähig sind. Mit der Steinkohle wird uns das nicht gelingen."

    Und mit dem Bau von finnischen Handys anscheinend auch nicht, seufzt Professor Franz Lehner. Er beobachtet seit Jahren den Strukturwandel im Ruhrgebiet und ist genau wie die Politiker aller Parteien empört über die Entscheidung des Nokia-Konzerns, sein Werk in Bochum zu schließen - trotz der rund 60 Millionen Euro, die allein das Land seit Mitte der 90er Jahre gezahlt hat.

    Damit hat Nokia nach Auskunft des Wirtschaftsministeriums mehr als ein Drittel der Mittel kassiert, die das Land in den vergangenen zehn Jahren für die regionale Wirtschaftsförderung zur Verfügung gestellt hat. Das ist ein weiterer Subventionstopf, den das Land gemeinsam mit dem Bund unterhält - das Ziel: Zukunftstechnologien in strukturschwachen Regionen anzusiedeln - und das sei im Fall Nokia zunächst auch gelungen, betont der Sprecher des Wirtschaftsministeriums, Joachim Neuser:

    "Nokia hatte 1988 ein Fernsehwerk in Bochum gekauft, die Firma Graet, hatte die Fernsehproduktion fortgeführt und im Jahre 93, 94, festgestellt, dass diese Form der Produktion schon zum damaligen Zeitpunkt in Fernost wesentlich günstiger war. Daraufhin hat das Land der Firma Nokia geholfen, von der Fernseh- auf die Handyproduktion umzuschalten. Es kann also keine Rede davon sein, dass hier finnische Arbeitsplätze nach Nordrhein-Westfalen verlagert worden sind, sondern im Gegenteil: Es ist einem Unternehmen in Not geholfen worden, auf neue Produkte umzuschalten."

    Das Unternehmen garantierte dafür, rund 2.800 Arbeitsplätze in Bochum dauerhaft zu erhalten. Nun ist die Bindungsfrist ausgelaufen - prompt will Nokia das Werk schließen. Die Empörung ist groß, Ministerpräsident Rüttgers sprach gar von einer "Subventionsheuschrecke" und lässt nun prüfen, ob der Konzern verpflichtet werden kann, Fördergelder in Höhe von 40 Millionen Euro zurückzuzahlen.

    Professor Franz Lehner ist skeptisch, ob das gelingt. Er hofft vor allem, dass die Politik aus dem Fall lernt. Denn aus seiner Sicht zeigt das Beispiel Nokia, dass es der Region langfristig nichts bringt, internationale Konzerne mit Fördergeldern halten zu wollen, ganz gleich, welche Bindungsfristen und andere Auflagen an die Beihilfen gekoppelt sind:

    "Dem Problem kann man aus meiner Überzeugung bei großen Unternehmen nicht beikommen. Wir können noch so wunderbare Bedingungen schaffen, die großen Unternehmen haben doch genügend Wahlmöglichkeiten. Die können global wählen. Und irgendeiner macht immer bessere Bedingungen. Wenn wir hingehen und machen jetzt richtig scharfe Regeln, dann holen sie sich die Subventionen zu günstigen Konditionen woanders. Da ist nichts zu machen, da braucht man sich nichts vorzunehmen."

    Er rät, vor allem auf die Ansiedlung und Neugründung kleiner und mittelständischer Unternehmen zu setzen und führt das Beispiel Dortmund an - eine Stadt, die ähnlich stark vom Strukturwandel betroffen ist wie Bochum. Dort entwickelten Vertreter der Stadt, der Universität und der lokalen Wirtschaft vor einigen Jahren ein Netzwerk, aus dem der sogenannte "Technologie-Park" hervorging. Mittlerweile haben sich auf dem Gelände etwa 280 Firmen aus der High-Tech-Branche angesiedelt. 8.400 Arbeitsplätze entstanden, die auch sicher nicht von heute auf morgen nach Rumänien ausgelagert werden.

    Eine Erfolgsgeschichte, die als Vorbild dient für ein neues regionales Subventionsmodell des Landes und der EU. Das Ziel: Innovative Mittelständler fördern und durch echte Standortvorteile langfristig in der Region halten. Allein Brüssel stellt dafür 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung.

    So üppig die öffentlichen Gelder auch fließen mögen, ein Problem lösen sie nicht, nämlich den Mangel an qualifizierten Facharbeitern. Dabei haben Bund, Länder und die Europäische Union vor allem Zukunftsbranchen, etwa den Hightech-Bereich im Visier, wenn es um die Förderung strukturschwacher Gebiete geht, in denen sich Unternehmen in ganz Europa ansiedeln sollen.

    Schlecht ausgebildete Arbeitnehmer haben dagegen immer öfter das Nachsehen. Wie die Subventionsvergabe bei der EU geregelt ist, und wer über die Verteilung der Gelder entscheidet, berichtet Volker Finthammer aus Brüssel:


    Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers war nicht der erste und sicherlich nicht der letzte Politiker, der mit dem Vorwurf der "Subventionsheuschrecke" auch die EU-Förderpolitik ins Visier nahm und als eine der Ursachen für den Umzug des Nokia Werkes nach Rumänien ausmachte.

    Vor zwei Jahren schon erklärte Wirtschaftsminister Michael Glos im Zuge der Schließung des AEG Werkes in Nürnberg, das man endlich die EU-Hilfen stoppen müsste, mit deren Hilfe ganze Betriebe von einem EU-Mitgliedsland in ein anderes verlagert werden würden.

    Es war die deutsche Bundesregierung die darauf gedrungen hatte, dass in die neue Verordnung über die europäischen Strukturfonds für die laufende Finanzperiode bis zum Jahr 2013 ein Passus aufgenommen wurde, der sicherstellen soll, dass die Gemeinschaftsfinanzierung über EU-Mittel nicht zu Standortverlagerungen innerhalb der EU führen darf.

    Zu groß war die Karawane, die sich in ganz Europa im Zuge der Osterweiterung auf den Weg in die neuen Mitgliedsländer gemacht hatte, um sich die günstigeren Produktionsbedingungen zunutze zu machen, und immer wieder wurde spekuliert, dass die EU-Förderpolitik kräftig daran mitarbeite.

    "Die EU Kommissare Hübner und Verheugen, die dafür zuständig sind, haben das überprüft und haben gesagt, es gibt nur einen einzigen Fall, bei dem überhaupt Betriebsverlagerungen durch EU-Gelder subventioniert worden sind, und das war ein innerdeutscher Fall. Nämlich die Verlagerung von Brandt Hagen nach Thüringen","

    sagt der sozialdemokratische EU-Parlamentarier Helmut Kuhne, in dessen Wahlkreis das Bochumer Nokia-Werk liegt. Auch die EU-Kommission bemüht sich darauf hinzuweisen, dass im Fördersystem der Gemeinschaft keine Beihilfen für Betriebsverlagerungen innerhalb der EU gezahlt werden.

    ""Eine solche Förderung wäre natürlich inakzeptabel. Sie ist nicht vorgesehen. Die Europäische Union fördert die Infrastruktur in wirtschaftlich benachteiligten Gebieten, sowohl in den alten als auch in den neuen Mitgliedsstaaten, auch in Deutschland","

    erklärt Johannes Laitenberger, der Sprecher von Kommissionspräsident Manuel Barroso. 195 Milliarden Euro gibt die EU in den Jahren bis 2013 für die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in den sogenannten Ziel-1-Gebieten aus - Regionen, in denen das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner maximal 75 Prozent des EU-Durchschnitts erreicht.

    Darunter fallen alle neuen Mitgliedsländer und durch die Verschiebungen nach der Osterweiterung in Deutschland nur noch Teile der ostdeutschen Bundesländer, wie etwa die Küstenregionen oder dünn besiedelte Landesteile. Für Rumänen etwa gelten die Höchstfördergrenzen.

    Man könne aber ausschließen, dass diese Förderung wie eine konkrete Beihilfe für die Verlagerung von Unternehmen wirke, sagt Daniel Gros, Ökonom am "Center for European Studies" in Brüssel:

    ""Die EU Strukturhilfen können nicht dazu verwendet werden, um einzelne Unternehmen anzulocken. Sie dienen dazu, allgemein die Infrastruktur eines Landes zu verbessern, neue Strassen zu bauen, Schulen zu fördern, Infrastruktur im Allgemeinen. Aber sie können auf keinen Fall dazu verwendet werden, um einem einzelnen Unternehmen zu sagen, bitte kommt hierher, wir geben Euch so viel Geld, um eine neue Fabrik zu bauen."

    "Die Regionalpolitik, so wie wir sie betreiben, sorgt für eine ausgewogene Wirtschaftsentwicklung in Europa insgesamt. Aber von ihr geht keine Anreizwirkung für Betriebsverlagerungen aus","

    so Kommissionssprecher Johannes Laitenberger. Doch getrübt wird diese Zuversicht durch die nüchternen Berichte des Europäischen Rechnungshofes. "Das Risiko, dass im Rahmen von strukturpolitischen Projekten gemeldete Kosten nicht korrekt angegeben werden oder für eine Erstattung nicht infrage kommen, ist hoch", heißt es im letzten Rechnungshofbericht für das Jahr 2006. Mindestens 12 Prozent der Ausgaben für Strukturprojekte hätten nicht erstattet werden dürfen, konstatieren die Prüfer. Die Mitgliedsländer verwalten und vergeben die Finanzmittel, sagt der Ökonom Daniel Gros:

    ""Ein Problem ist halt, dass die Mitgliedsstaaten sagen, das sind unsere Gelder, wir wollen nicht, dass die EU uns dabei kontrolliert, wir passen schon darauf auf."

    Wer die EU zur Verantwortung ziehen möchte, müsste ihr zunächst einmal die Kontrollrechte für diese Fonds übertragen, sagt Gros im Einklang mit den Forderungen des Europäischen Rechnungshofes:

    "Aber das wollen die Mitgliedsstaaten nicht. Die haben lieber eine Situation, wo sie sich beklagen können und gleichzeitig auch bedienen."

    Die Verantwortung für die Vergabe und die Kontrolle der Mittel liegt in Deutschland in den Händen der Bundesländer. Sie formulieren im Rahmen der EU-Vorgaben die Auswahlkriterien für konkrete Projekte und kontrollieren deren Umsetzung. Dass sich Unternehmen nach dem Auslaufen der Vertragsbindung anders entscheiden, dagegen ist auf dem freien Markt kein Kraut gewachsen.

    "Der Fehler, der gemacht wurde, war zu sagen: Wir locken hier mit Steuergeldern ein Unternehmen an, was keine qualifizierten Arbeitskräfte braucht, sondern im Grunde genommen hier nur Montage betreibt. Und das war genau das falsche Unternehmen, das man angelockt hat. Man hätte halt nicht einfach sagen sollen, Handyproduktion ist alles Hightech, sondern man hätte genauer gucken sollen, dann hätte man gesehen, dass es sich nicht lohnt, solche Arbeitsplätze öffentlich zu fördern."

    Nichtsdestotrotz erweist sich die Strukturförderung im Zusammenhang mit der Osterweiterung trotz schwieriger Bedingungen in einzelnen Fällen als eine Erfolgsgeschichte für alle Beteiligten. "Die Effekte der Erweiterung auf die Beschäftigungssituation in Deutschland sind allen Untersuchungen zufolge insgesamt positiv", heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zur wirtschaftlichen Bilanz der Osterweiterung. Und im Blick auf die Strukturförderpolitik sieht es nicht weniger schlecht aus, sagt der EU-Parlamentarier Helmut Kuhne:

    "Ich habe mal einen Bürgermeister in meinem Wahlkreis gefragt: Wenn Du Dich darüber aufregst, dass neue Mitgliedstaaten Geld aus der EU bekommen, um ihre Straßen zu verbessern und ihre Infrastruktur zu verbessern, willst Du Dich dann nicht sofort hinsetzen und einen Scheck unterschreiben und all das schöne Geld, das Du bekommen hast, um Dein Technologiezentrum aufzubauen, wieder an das Land zurückzuzahlen? Das wollte er aber nicht."

    Geben und Nehmen in der Brüsseler Suventionspolitik. Das war der sozialdemokratische Europaabgeordnete Helmut Kuhne, in dessen Wahlkreis das Bochumer Nokia-Werk liegt. Bundesfinanziminister Peer Steinbrück hat Nokias Abgang aus Bochum heute morgen im Deutschlandfunk als "Karawanenkapitalismus" kritisiert. Von dieser Entwicklung haben die neuen EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa indes profitiert.

    Zwischen Ostsee und Balkan haben westliche Konzerne, aber auch viele Mittelständler allerorten Fabriken und Fertigungsstätten errichtet - angelockt von niedrigen Löhnen und geringen Steuern. Auch die Immobilienwirtschaft in Polen und im Baltikum hat goldene Jahre hinter sich. Doch inzwischen wendet sich das Blatt. Die Karawane zieht noch weiter, immer Richtung Osten. Jan Pallokat berichtet:


    Dass Unternehmen den gefeierten Reformländern des europäischen Ostens auch wieder den Rücken kehren, ist dort eine noch neue Erfahrung. Sammeln musste die auch jenes Land, das in der EU eigentlich als Investorenparadies gilt: die Slowakei. Dort startete 1997 der amerikanische Hersteller Samsonite mit einem Werk.

    Das Management legte ein Bekenntnis zum Standort ab, kaufte eine zuvor staatseigene Fabrik, investierte und sanierte: Die Zahl der Beschäftigten wuchs auf zuletzt 350. Dann aber, knapp zehn Jahre nach dem Einstieg, entschied Samsonite plötzlich und ohne Vorwarnung, die Koffer zu packen und umzuziehen nach China. Karoly Domsitz, Bürgermeister der Stadt, war wie vor den Kopf gestoßen: Es habe keinerlei Vorzeichen gegeben.

    "Absolut keine. Der Blitz traf uns aus blauem Himmel, und der Direktor des Arbeitsamtes informierte mich, was bevorstand. Glücklicherweise geht das Leben weiter, und die Frage ist: Was kommt nun?

    Auf der einen Seite ist es verständlich, wenn Sie Potential in China sehen. Andererseits ist es sehr überraschend, weil Samsonite eigentlich keinen wirklichen Grund hat, zu gehen. Und ich verstehe noch viel weniger, dass sie gehen, weil sie erst vor zwei Jahren die gesamten Anlagen saniert haben."

    Für Bürgermeister Domsitz und den Arbeitsmarkt seiner kleinen Stadt ein schwerer Schlag. Gut zehn Prozent aller Beschäftigten in seinem Städtchen waren bei Samsonite beschäftigt. In kurzer Zeit 350 Arbeiter anderswo unterzubringen, sei unmöglich, klagt er. Kleiner Trost: Das boomende Bratislava ist nicht weit, der eine oder andere kommt dort sicher unter.

    Wie oft in solchen Fällen ist das Management von Samsonite, anders als beim hoffnungsvollen Start in der Stadt, eher wortkarg: Interviewanfragen werden abgelehnt. Am Werkstor gelingt es dann aber doch, den slowakischen Direktor zu einer kurzen Aussage zu bewegen.

    "Unsere Zulieferer sind schon vorher in den fernen Osten gegangen. Das ist einer der Gründe, warum wir aufhören müssen: Wir sind nicht so flexibel hier. Wenn wir eine Bestellung bekommen etwa aus Belgien, dann müssen wir das Material in Fernost bestellen, und zwei Monate auf die Schiffe warten."

    Früher, sagt er noch, hätten sich die meisten Zulieferer in Deutschland, Frankreich und Belgien befunden. Jetzt aber werden die Plastikanhänger, Reißverschlüsse und Textilien, die für die Kofferproduktion benötigt werden, im Fernen Osten hergestellt.

    Der überraschende Abgang von Samsonite beherrschte die Diskussionen in der Slowakei über Wochen. War das Land nicht ein weltweit gefeiertes Muster an Reformen? Kamen nicht Politiker aus allen möglichen Schwellenländern hierher, um den erfolgreichen Standort zu besichtigen?

    Die Slowakei bietet eine Einheitssteuer von 19 Prozent, ein insgesamt wirtschaftsfreundliches Klima, eine interessante geografische Lage im Herzen Europas und deutlich niedrigere Löhne als etwa Tschechien. Mit diesem Mix gelang es dem Land, dass erst seit 15 Jahren unabhängig ist, gleich drei große Autohersteller anzulocken: Volkswagen bereits in den frühen 90er Jahren.

    Vor wenigen Jahren begannen auch KIA und Peugeot damit, dort Autos zu produzieren. "Slowakei wird Weltmeister beim Pro-Kopf-Ausstoß von Autos", so die Schlagzeilen. Doch dürften sich die Slowaken jetzt keinesfalls in diesem Erfolg sonnen, mahnt Miroslaw Poliak von der Unternehmensberatung Amrop Jennewein in der slowakischen Hauptstadt Bratislava:

    "Am Ende müssen alle Investoren damit rechnen, dass die Arbeitskosten und die Materialkosten nicht der Hauptvorteil für alle Zeiten bleiben werden. Investoren sagten mir vor zwei bis drei Jahren: Wir rechnen mit sieben, acht oder bis zu zehn Jahren, solange werden wir davon profitieren können. Und dann müssen wir schauen, welche anderen Vorteile für die Slowakei für weitere zehn bis zwanzig Jahre sprechen."

    Es gibt allerdings auch Branchen, die tatsächlich in kurzer Taktzeit kommen und gehen, und ausschließlich da sind, wo die Löhne besonders niedrig liegen. Es sind Branchen, die sehr lohnintensiv sind und bei denen die Arbeit, oft Handarbeit, eine zentrale Rolle spielt: Teile der Automobilzulieferer gehören dazu, immer wieder genannt wird in diesem Zusammenhang die Kabelbaumproduktion.

    Das Paradebeispiel aber für eine solche Industrie in Wanderschaft ist die Textilindustrie, die den Kontinent von West nach Ost in den letzten Jahrzehnten geradezu durchmessen hat. Noch in den 90er Jahren war Rumänien, dass jetzt wegen des neuen Nokia-Werks Schlagzeilen macht, Eldorado für diese Industrie. Die meisten großen Hersteller und viele Kleine wanderten dort hin.

    Einige Jahre später war es auch schon wieder vorbei: In den letzten Jahren musste Rumänien den massiven Verlust an Textilarbeitsplätzen verkraften. Noch arbeiten knapp 250.000 Rumänen in dieser Branche. Doch allein im letzten Jahr gingen 50.000 Jobs verloren. Vielfach sind die Nähbetriebe größter Arbeitgeber gerade in mittelgroßen und kleinen Städten. Ihre schleichende Abwanderung ist daher oft ein schwerer Schlag.

    Andererseits: Dass nun andere Firmen mit komplexeren, aber auch besser bezahlten Jobs das Land entdecken, bringt Rumänien unterm Strich voran und macht das Land wohlhabender. Rumänien und Bulgarien sind die Nachzügler der Entwicklung: Wegen des späteren EU-Beitritts erlebten sie den Höhepunkt bei den ausländischen Direktinvestitionen später als Polen oder Ungarn.

    Doch früher oder später kommt auch auf Rumänien zu, was in den Ländern der Beitrittsrunde 2004 bereits Formen annimmt: Die Attraktivität als Standort droht zu sinken. Der Mangel an Fachkräften von Riga bis Budapest hat hier bereits ein schnelles, oft zweistelliges Lohnwachstum in Gang gesetzt. Dabei eilen die Löhne, besonders in den baltischen Staaten, der Produktivitätsentwicklung häufig voraus.

    Ost und West nähert sich schnell an: Bei den Löhnen, bei den Problemen, bei den Debatten. Mittelfristig geht es von Bukarest bis Paris, von Tallinn bis Lissabon ohnehin vor allem um eine Frage: Wie können in Europa Jobs erhalten bleiben - auf dem vergleichsweise hohen Lohnniveau, das sich der Kontinent leistet. Denn Rumäniens und Bulgariens Durchschnittslöhne mögen in der EU die niedrigsten sein - sie liegen doch schon jetzt deutlich höher als die Löhne in den allermeisten Staaten der Welt.

    Für die Mitarbeiter des Nokia-Werkes in Bochum ist dies ein schwacher Trost. Und so kratzt die Abwanderung des Unternehmens nach Rumänien nicht nur am Image des Handyherstellers, sondern auch an dem der Europäischen Union. Für sie wird es in Zukunft immer schwieriger werden, die Karawane der weiterziehenden Unternehmen aufzuhalten.