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Der Traum des Gerontius

Der englische Schriftsteller James Hamilton-Paterson ist bei uns vor allem durch seine Bücher über das Meer und seine Ufer bekannt - und leider noch viel zu wenig durch seine erstaunlichen Romane. Auf deutsch gab es bislang den 1998 erschienenen Roman "Die Geister von Manila", eine Geschichte von der Nachtseite der Zivilisation, über Gewalt, Aberglauben und den Verlust der Sehnsucht. Begonnen hat der 1941 geborene Hamilton-Paterson als Lyriker. Er hat erste Versuche beschrieben, auf die Beunruhigung zu reagieren, die Musik, die Klänge auch aus der Natur bei ihm auslösen. Zwei frühe Gedichtbände geben nur ein zögerliches Zeugnis von der enormen Bedeutung, die Musik für ihn er hat. Nach langen Jahren mit vielen Reisen und schnell wechselnden Tätigkeiten, vor allem als Journalist in Brasilien und Vietnam, läßt sich Hamilton-Paterson für einige Zeit auf den Philippinen nieder, wo er auch heute noch ein paar Monate im Jahr lebt. Er schreibt weiter, keine Gedichte mehr, sondern Prosa, die vom Meer erzählt und changiert zwischen Reportage, Reisebericht und Fiktion. Es gibt aber auch Erzählungen.1986 erscheint ein erster Sammelband. Hier, in den Reisebüchem, in den Romanen der folgenden Jahre, schließlich in dem zweiten, auch noch nicht übersetzten Erzählband "The Music" von 1995, geht es immer wieder um Töne, Gerüche und Farben, um die Schwierigkeit, Konturen für die Welt zu finden und um das Verschwinden.

Guido Graf |
    Für seinen Roman Gerontius erhielt Hamilton-Paterson 1989 den renomierten Whitbread-Prize. Unter dem Titel "Der Traum des Gerontius" ist das Buch jetzt in einer leider oft allzu betulichen, der Musikalität von Hamilton Patersons Prosa hilflos ausweichenden deutschen Übersetzung von Wolfgang Krege erschienen. Auch eine Vielzahl von Bezügen zu Biographie und Werk des englischen Komponisten Edward Elgar, von dessen später, tatsächlicher Reise zum Amazonas Hamilton-Paterson in Gerontius erzählt, sind Krege verborgen geblieben. Und es ist natürlich ein verbreitetes Übel, daß die knapp bemessenen Übersetzungshonorare gründlichere Recherchen nicht erlauben, um den Originalen weniger holprige Äquivalente an die Seite stellen zu können. Hamilton-Paterson läßt den greisen Edward Elgar in sein Tagebuch notieren, während er auf einem Schiff den Amazonas hinauffährt. "Ich kann von der Musik nicht deutlich sagen, ob ich die Töne höre, fühle, schmecke." Was er da vermerkt, ist wiederum ein Zitat aus dem langen Gedicht "Der Traum des Gerontius" von Kardinal John Henry Newman, entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts.

    Diese Stelle, dieser pathetische Zweifel an der Universalität der Musik, die ihm alles bedeutete, sei es gewesen, so Elgar, weswegen er beschloß, Newmans Gedicht als Oratorium zu vertonen. Und es ist diese universelle sinnliche Intensität, um die es Hamilton-Paterson geht, die er beschwört, wenn er ihrem Verlust nachschreibt, wenn er selbst das Gefühl auf der Haut, die den Wind in der Nacht auf See aufsaugt, als Musik bezeichnet, als ein Verlangen, das verwandt ist mit Schmerz.

    Die Spannung zwischen Melancholie, Intimität und grundlosem Effekt charakterisiert für Hamilton-Paterson den Bruch in Elgars Persönlichkeit: auf der einen Seite der stille Künstler, der Einzelne, in seiner Individualität auch Gefangene, auf der anderen Seite dieses leicht prätentiöse öffentliche Bild, dieser bombastische Klang in Märschen wie Pomp and Circumstance.

    Kurz nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Tod seiner Frau entschloß sich Elgar, die Reise zum Amazonas, nach Manaos, zu unternehmen. Darüber, warum er gerade dorthin und allein gefahren ist, gibt es keine detaillierten Notizen von ihm. In dieser Leerstelle setzt Hamilton-Patersons Erzählung ein. Elgar gelingen keine Kompositionen mehr, jegliche Inspiration ist verschwunden. Die Inszenierung der großen Reise soll Abhilfe schaffen. Das wird ihm zwar nicht gelingen, doch legt Hanülton-Patersons Fiktion frei, was die Kräfte des musikalischen Ingeniums zerstäubt hat. Und Hamilton-Paterson war selbst auf der Flucht vor einer konsequenten Entwicklung seiner eigenen musikalischen Talente in Komposition und Klavierspiel und unternahm 1967 eine Fahrt den Amazonas hinauf nach Manaos, auf einem deutschen Frachter, dessen Maschinenraum er putzte. Was er in Manaos vorfindet, hat sich, seit Elgar dort war, kaum verändert.

    In Gerontius, im Roman, tritt dieses Déjà-vu zusammen mit der Inszenierung von Elgars Amazonasreise 1923 als einer Hadesfahrt. Wie viele Zeitgenossen sah sich Elgar zu dieser Zeit auf dem Weg, wenn nicht in 'die andere Welt', so doch in eine andere Welt. Mit einem Mal war alles so vollständig anders. Es gab Jazz, es gab Schönberg und Stravinsky. Die spätromantische, postwagnerianische Musik Elgars kam aus einer vergangenen Epoche. Er fühlte sich wie ein Dimosaurier. Und tatsächlich sagte er einigen Freunden, er fühle sich, als sei er tot.