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Der unsichtbare Mann

Am Anfang war eine Stimme. Sie sprach über die verwirrenden und komplizierten Erlebnisse eines jungen Schwarzen bei seiner Identitätssuche. Zum ersten Mal vernahm Ralph Ellison diese Stimme, nachdem er 1944 zwei Erzählungen über die Rassenproblematik in den amerikanischen Streitkräften veröffentlicht hatte. Darin hatte er Thematik und Aussage durch die Mittel des Handlungsaufbaus sowie der sozialen Konstellationen zwischen den Figuren gestaltet. Die Stimme aber, deren Rede nun die Phantasie des Schriftstellers zu besetzen begann, verband sich weder mit der Vorstellung einer konkreten Figur noch mit bestimmten Ereignissen. Dafür gab sie ein umso genaueres Bild von einem Grundgefühl und einer Summe von Erfahrungen. Und immer wieder hob diese Stimme mit ironischer Unverblümtheit hervor, daß ihr Inhaber von aller Welt behandelt werde, als wäre er unsichtbar.

Eberhard Falcke |
    Als Inspiration stand diese Stimme am Anfang von Ellisons großem Roman "Der unsichtbare Mann". Darüber berichtet der Autor in einem sowohl anekdotisch wie gedanklich ergiebigen Aufsatz von 1981. Er schrieb ihn anläßlich des damals bevorstehenden dreißigsten Jahrestages der Erstveröffenlichung jenes Buches, das ihn 1952, mit 38 Jahren, schlagartig berühmt gemacht hatte. Als Nachwort ist der Aufsatz nun der unlängst erschienen deutschen Neuauflage des Romans beigefügt.

    "Ich bin ein wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit - und man könnte vielleicht sogar sagen, daß ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar - weil man mich einfach nicht sehen will." So stellt sich der namenlose Romanheld gleich auf der ersten Seite vor. Und doch ist das schon das Resümee seiner wechselvollen, ebenso abenteuerlichen wie beklemmenden Odyssee durch die amerikanische Gesellschaft. Er ist ein junger Neger - Ellison bestand auf dieser längst verpönten Bezeichnung - , der seine Laufbahn als hoffnungsvoller College-Student begann. Nun aber treffen wir ihn als Bewohner eines Kohlenkellers an, den er mit abgezweigtem Strom taghell erleuchtet hat. Das ist der symbolisch besetzte Ort seiner Selbstaufklärung, an dem er die gescheiterten Versuche, sich als Mensch in der Gesellschaft zu behaupten, Revue passieren läßt. #Fjodor Dostojewski#s "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" haben für diesen Schauplatz die Anregung geliefert.

    Nicht als Mensch, sondern nur als Unterprivilegierter, als Sozialtypus, wandelndes Rassenproblem oder auch als politisches Instrument wird der junge Mann von seiner Umgebung behandelt. Der opportunistische schwarze Direktor wirft den Studenten aus dem College, weil es dem nicht gelang, einem weißen Mäzen das schreiende Elend jenseits des Campus zu verheimlichen. Ein früher Fall von politischer Korrektheit. Gedemütigt fährt der Held nach New York, wo er wenigstens mit den Empfehlungsbriefen des Direktors einen Job zu finden hofft. Tatsächlich aber enthalten diese Briefe nur Verleumdungen und den Rat, den Bewerber im Ungewissen hinzuhalten. Das ist ein Leitmotiv seines Scheiterns. Zum erstenmal begegnete es ihm in einem Traum aus Kindertagen. Da öffnete er viele ineinandergesteckte Briefumschläge mit Staatssiegel, nur um im letzten die böse Botschaft zu finden: "Für den, den es angeht: Halte diesen Negerjungen auf Trab." So will es, nach Ellison, die Strategie der weißen Gesellschaft: Die Schwarzen sollen mit Illusionen gelockt werden, aber ihren Zielen dürfen sie nicht näherkommen.

    Nach etlichen weiteren Fehlschlägen scheinen die Dinge endlich eine bessere Wendung zu nehmen. Wegen seiner Begabung als Redner, die ihm schon das College-Stipendium eingetragen hatte, wird der Held von einer Organisation angeworben, um in Harlem politische Arbeit zu leisten. Unschwer ist dahinter die Kommunistische Partei zu erkennen, mit der auch Ellison selbst seine Erfahrungen gemacht hat. Das leninistisch agierende Kommitee der Organisation hat immer recht. Der Negerjunge wird auch von den Klassenkämpfern auf Trab gehalten und gegen einen radikalen Schwarzen-Führer ausgespielt. Nachdem er die Bevölkerung von Harlem mobilisiert hat, läßt ihn die Organisation kurzerhand fallen. Er diente nur dazu, die Situation anzuheizen, die sich schließlich in einem alptraumhaft geschilderten Aufstand der Schwarzen gegen die Polizei entlädt. Am Ende ist der Held auf der Flucht und landet in seinem Kohlenkeller.

    Anders als vielen afro-amerikanischen Autoren ging es Ralph Ellison nicht primär darum, die Oberfläche offenkundiger Diskriminierungen zu beschreiben. Und an der Sichtweise der Soziologen störte ihn, daß sie die menschlichen Probleme der Schwarzen oft nur aus "dem engen Gesichtswinkel der Gleichberechtigung sehen". Darum konzentrierte er sich vor allem auf jene sozialen Strukturen und Verhaltensweisen, von denen der Einzelne ganz generell in ein Labyrinth der undurchschaubaren Zwänge hineinmanövriert wird. "Könnte es nicht sein", fragt der "Neger" im letzten Satz des Romans, "daß ich, nur auf anderer Welle, auch für euch spreche?"

    Nicht weniger wichtig als sein Thema war Ellison dessen poetische Gestaltung. Neben dem Afro-Amerikaner #Richard Wright#, der ihn zum Schreiben ermutigte, waren #Fjodor Dostojewski#, #Franz Kafka#, #T.S.Eliot# und #Andre Malraux# für seine Arbeit von zentraler Bedeutung. Mögen die Vergleiche mit Kafka auch inflationär sein - die unerfindlichen Gesetzmäßigkeiten, in denen sich das Leben des Einzelnen verfängt, sind auch in diesem Roman allgegenwärtig. Doch ganz abgesehen von solchen weltliterarischen Referenzen hat Ellison hier im Wechsel zwischen Realismus und visionärer Bildhaftigkeit großartige Szenen von brillanter Prägnanz geschaffen. Das reicht vom Auftritt des jungen Stipendiaten vor einer hundsgemeinen Honoratiorenbande bis zum Rencontre mit einer weißen Frau, für die der schwarze Mann zum Erfüllungsgehilfen ihrer sexuellen Gewaltträume wird.

    Vielstimmig, reich an Tonlagen und Sprechweisen ist dieser Roman von seiner ganzen Anlage her. Für die Neuauflage 1996 hat der Ammann Verlag die 1954 erstmals erschienene deutsche Version des Joyce-Übersetzers Georg Goyert offenbar unverändert übernommen. Insgesamt ist das auch vertretbar, da Tempo, Dichte und Sprachduktus im wesentlichen gut getroffen sind. Eine Revision und Modernisierung in manchen Einzelheiten wäre aber bei einem so wichtigen Roman wünschbar gewesen. Doch ist das ein Einwand, der niemanden von der Lektüre dieser Ausgabe abhalten sollte.

    Abgesehen von Essays und Short Stories hat Ellison zu Lebzeiten kein größeres Werk mehr veröffentlicht. Er starb 1994, im Alter von achtzig Jahren. Einen weiteren Roman hatte er allerdings schon seit den sechziger Jahren in Arbeit. 300 Seiten davon gingen 1967 bei einem Brand seines Hauses verloren. Er begann aufs neue und häufte beträchtliche Textmengen an, ohne sich jemals zur Herausgabe entschließen zu können. Nun soll das Buch in absehbarer Zeit aus dem Nachlaß ediert werden. Darauf darf man, selbst wenn das ein riskantes Unternehmen ist, gespannt sein.