Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Der Vergessenheit entrissen

Von ihm werde einmal die ganze Welt sprechen, hatte Franz Liszt dem jungen Alexander Glasunow prophezeit. Tatsächlich wurde der russische Komponist von Zeitgenossen umjubelt. Doch dann fiel sein Werk aus der Zeit. Das Utrecht String Quartet entreißt Glasunow nun der Vergessenheit.

Von Maja Ellmenreich | 08.04.2012
    Utrecht String Quartett:
    Eeva Koskinen, Violine
    Katherihne Routley, Violine
    Joël Waterman, Viola
    Sebastian Koloski, Violoncello

    MDG 603-1736-2
    LC 06768, EAN 760623173627


    Mit unserer heutigen Neuen Platte schließt sich ein Kreis – oder, um es genau zu sagen: Es schließen sich gleich zwei Kreise.

    Die Gesamteinspielung der Streichquartette von Alexander Glasunow durch das Utrecht String Quartet ist komplett. Seit 2003 hat das niederländische Ensemble daran gearbeitet. Zuletzt fehlten nur noch zwei Werke - Quartett Nr. 1 und Nr. 7. Und diese beiden sind jetzt auf der fünften und letzten CD des Projektes. Soweit also der erste Kreis, der geschlossen ist.

    Der zweite findet sich auf der CD selbst: Denn mit Quartett Nr. 1 und 7 begegnen sich das erste und das letzte Werk, das der Russe Glasunow für Streichquartett-Besetzung geschrieben hat: Opus 1 und Opus 107. Die Komposition eines hochbegabten Teenagers und die eines 65-Jährigen, hinter dem eine lebhafte Musikerkarriere liegt. Beginnen wir mit Opus 1.

    Glasunow: Quartett Nr. 1, op. 1 – 1. Satz Allegro moderato

    "Von diesem Komponisten wird noch die ganze Welt sprechen." Franz Liszt hatte sich zu der Prognose hinreißen lassen, nachdem ihm 1884 der junge Alexander Glasunow und dessen Musik vorgestellt worden war. Liszt war nicht der einzige, der in den höchsten Tönen von dem jungen Talent schwärmte und ihm eine große Karriere voraussagte. Nikolaj Rimskij-Korsakow etwa, auch er spendete Beifall, in Form einer pointierten Formulierung: Glasunows musikalisches Können entwickle sich nicht tageweise, sondern stundenweise weiter. Rimskij-Korsakow wusste, wovon er sprach, hatte er den 15-jährigen Glasunow doch unter seine pädagogischen Fittiche genommen und ihm private Unterrichtsstunden erteilt. Der Anfang einer lebenslangen Musikerfreundschaft, wenn auch die Schüler-Lehrer-Beziehung schon bald wieder ein Ende nehmen sollte. Denn Rimskij-Korsakow war offensichtlich mit seinem Latein am Ende und meinte, Glasunow nichts mehr beibringen zu können.

    Die Begeisterung für den Sohn einer Pianistin und eines Buchverlegers aus Sankt Petersburg war allseits groß: Die Komponisten des so genannten "Mächtigen Häufleins" – neben Rimskij-Korsakow waren das Balakirew, Borodin, Cui und Mussorgsky – diese fünf erklärten Glasunow zu ihrem Adoptivkind. Und ihrem Bestreben, die erklärt russische Musik zu fördern, folgte auch Glasunow. Schon in seinem ersten Streichquartett, das er als 16-jähriger Gymnasiast schrieb, sind national-folkloristische Einflüsse unüberhörbar.

    Glasunow: Quartett Nr. 1, op. 1 – 4. Satz Finale. Moderato

    Wohlgemerkt: die Komposition eines 16-jährigen. Schon hier zeigt sich das Erfolgsrezept des Alexander Glasunow, den Rimskij-Korsakow einmal als Alexander den Großen bezeichnete: Er kombinierte schon in jungen Jahren russische Klänge – schlichte, eingängige Melodien, bisweilen elegisch und wuchtig – mit westeuropäischer Formstrenge – klare Strukturen, die sich im Laufe der abendländischen Musikgeschichte etabliert haben.

    Diese Formen hatte Glasunow auf dem Gebiet des Streichquartetts am Beispiel von Joseph Haydn studiert, denn in der russischen Szene gab es so gut wie keine Vorbilder. Die Komponisten des "Mächtigen Häufleins" hatten sich mit größeren Formen und Besetzungen beschäftigt: mit Oper und Orchester. Doch Glasunow lag die Kammermusik am Herzen, schließlich kannte er sie von kleinauf: In seinem musikbegeisterten Elternhaus war fleißig musiziert worden. Und der Wunsch nach einem hauseigenen Kammermusikensemble hatte auch den Musikunterricht des kleinen Sasha bestimmt: Nach Klavier lernte er noch Bratsche und Cello.
    Vielleicht lässt sich mit dieser Sozialisation auch der Klang der Glasunow’schen Streichquartette erklären: Spitzentöne in höchsten Lagen sind nicht vorherrschend, es dominiert immer wieder das mittlere und tiefe Register.
    Glasunow: Quartett Nr. 2, op. 107 – 1. Satz Adagio

    "Alles bei Glasunow ist so elegant gemacht, alle Farben sind so satt und kräftig." So hat der russische Musikkritiker Vjaceslav Karatygin einmal die Tonsprache Glasunows beschrieben: Eleganz und Kraft im Doppelpack -und nicht als Widerspruch. So hält es auch das Utrecht String Quartet: Die Streicher spielen mit Eleganz und mit Kraft. Und diese Kraft ist eine ganz besondere: Sie kommt nicht als "Hauruck" daher, ist alles andere als brachial, sondern flexibel und geschmeidig. Die beiden Geigerinnen Eeva Koskinen und Katherine Routley, der Bratschist Joël Waterman und der Cellist Sebastian Koloski – die vier vom Utrecht String Quartet spielen ihre Instrumente ohne übertriebenen Druck, sondern mit einer Leichtigkeit, die der Musik von Alexander Glasunow besonders gut tut. Nichts könnte ihr mehr schaden als zu viel Pathos, zu viel Drama – insbesondere wenn es bei Glasunow explizit russisch wird. Intensität stellt das Utrecht String Quartet auf andere Weise her: Die Quartettmitglieder wissen einen herrlich flächigen Klang zu produzieren. Dass da gerade nur vier Musiker am Werk sind, mag man kaum glauben.

    Glasunow: Quartett Nr. 7, op. 107 – 4. Satz Finale. Festival Russe

    "Festival Russe" ist das Quartettfinale überschrieben. Ein russisches Fest feiert Alexander Glasunow da in Gedanken. Sein letztes Streichquartett – Opus 107 – ist einzig und allein der Erinnerung gewidmet: an seine Jugend und an seine russische Heimat. Denn seit 1928 lebt Alexander Glasunow in Paris. Hinter ihm liegt ein rastloses Leben als Professor und später gar Direktor des Petersburger Konservatoriums und als weitgereister Gastdirigent.

    Mit 16 hatte er sein erstes Quartett geschrieben, mit 65 macht er sich in Paris an sein letztes. Und obwohl zwischen diesen beiden Werken beinahe ein halbes Jahrhundert und somit eine ganze Musikerkarriere liegt, ähneln sie einander sehr. Glasunow hält im Quartett Nr. 7 an einer Tonsprache fest, die bereits zu seinen Lebzeiten als veraltet gilt. Die Avantgarde hat Einzug gehalten, doch ohne Glasunows Beteiligung. Sein Streichquartett Nr. 7 wirkt also in doppelter Hinsicht rückwärtsgewandt, wenn er sich darin vor den Komponisten des "Mächtigen Häufleins" verneigt, indem er die von ihnen so geschätzten Märchenthemen aufgreift, oder – wie gerade gehört – einen Festtag im längst vergangenen Russland in Erinnerung ruft.

    Obwohl dies alles in handwerklicher Vollendung und mit inhaltlicher Tiefe geschieht, ist die Musikgeschichtsschreibung gnadenlos mit Glasunow. Wer nicht auf der Höhe der Zeit ist, fällt schnell durch’s Raster. Umso verdienstvoller, dass das Utrecht String Quartet im Laufe von acht Jahren und mit einigen Besetzungswechseln das Glasunow’sche Streichquartettschaffen auf CD dokumentiert und damit der Vergessenheit entrissen hat.

    Glasunow: Quartett Nr. 7, op. 107 – 4. Satz Finale. Festival Russe

    Die Gesamteinspielung des Streichquartettschaffens von Alexander Glasunow ist komplett. Das Utrecht String Quartet hat zu guter Letzt die Quartette Nr. 1 und Nr. 7 aufgenommen. Auch diese fünfte und letzte CD des Projektes ist bei mdg, der Musikproduktion Dabringhaus und Grimm erschienen.



    Utrecht String Quartett:
    Eeva Koskinen, Violine
    Katherihne Routley, Violine
    Joël Waterman, Viola
    Sebastian Koloski, Violoncello

    MDG 603-1736-2
    LC 06768, EAN 760623173627