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Der verhinderte Retter

Viele Bilder gibt es vom Streik 1980, vom "Sommer der Solidarität". Eines vor allem hat sich eingeprägt: der Vorsitzende des überbetrieblichen Streikkomitees Lech Walesa signiert im Speisesaal der Danziger Werft die so genannten "August-Vereinbarungen" mit dem realsozialistischen Warschauer Regime. Der gläubige Katholik unterzeichnet die Geburtsurkunde der ersten unabhängigen Gewerkschaft in Osteuropa mit einem besonderen Stift: einem armlangen Kugelschreiber. Darauf das Bild von Johannes Paul II. Der gebürtige Pole Karol Woytila war erst im Jahr zuvor zum Papst gewählt worden. Sofort danach reiste er in seine Heimat. Die Predigten vor Millionen von begeisterten Landsleuten bedeuteten eine "ungeheure Provokation" für die kommunistischen Machthaber. Im Rückblick muss General Jaruzelski, einst polnischer Staatschef, das eingestehen. Der Triumph des Papstes wird auch zum Triumph der Solidarnosc. Und Walesa? Erst Elektromonteur auf der Werft. Dann Vorsitzender der ersten freien und dann wieder verbotenen Gewerkschaft "Solidarnosc". Das bekannteste Opfer des von Jaruzelski verhängten Kriegsrechts. Friedensnobelpreisträger. Und - nach der Wende - fünf Jahre lang Polens erstes frei gewähltes Staatsoberhaupt. Diese Geschichte von der selbst erkämpften Freiheit zu verfilmen, dafür hat Hollywood bereits 1989 eine halbe Million Dollar bezahlt. Heute verfügt Walesa über eine eigene Villa, Leibwächter und Limousine. Mit dem Papst verbindet ihn weitaus mehr, so scheint es, als mit den Kollegen von einst.

Von Sören Harms |
    Leszek Walesa sitzt von der Tür abgewandt am Schreibtisch unter einer Dachschräge. Er schaut nicht auf, als seine Bürochefin eintritt. Ein stahlblaues Hemd spannt sich über seinen Rücken, das Sakko hängt an der Garderobe. Er hört Radio und betrachtet den Bildschirm vor ihm, mit zwei Fingern tippt er Buchstaben in den Rechner. In den USA bekommt er für eine Rede viele tausend Dollar.


    Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Streik von 1980 schaltet Ex-Arbeiterführer, Ex-Präsident und Ex-"Solidarnosc"-Mitglied Walesa das Radio aus und durchmisst die acht Meter von seinem Schreibtisch bis zur Besucherecke. Seine Schritte sind klein und energisch wie der ganze Mann, dabei heißt "Walesa" so was wie "der Bummler". Gerade ist er aus Rom vom Papstbesuch zurückgekehrt, und draußen im Treppenhaus feiert ein Plakat das 25-jährige Pontifikat von Johannes Paul II. Walesa ist ihm noch eng verbunden, nicht bloß als Katholik, sagt er und verweist auf das Jahr 1979.

    " Damals war ich in der Opposition und suchte Leute für den Kampf gegen den Kommunismus. Bevor der Papst nach Polen kam, hatte ich in 20 Jahren gerade mal zehn Leute sammeln können. Zehn Leute aus einem 40-Millionen-Volk! Die Menschen glaubten nicht daran, dass man den Kommunismus besiegen kann. In dieser Situation wird ein Pole zum Papst gewählt, kommt nach Polen und spricht den bekannten Satz aus: "Habt keine Angst, verändert das Antlitz dieser Erde". Nach einem Jahr hat unsere Bewegung zehn Millionen Leute - ich mache nichts anders, ich arbeite nicht besser, doch auf einmal sind es so viele Freiwillige. Der Papst hat dafür gesorgt, dass Leute nicht nur in Polen, sondern im gesamten Ostblock weniger Angst hatten."

    Über der Tür hängt das in Polen allgegenwärtige Kreuz. Walesa ist im Herbst 60 geworden; beleibter als 1980 ist er zwar, aber dünner als auf den Fotos der letzten Dekade. Den berühmten Sprung über die Mauer der Danziger Werft könnte er allerdings kaum wiederholen. Mit diesem Sprung, so geht der Gründungsmythos, konnte sich der Aufwiegler im August 1980 an die Spitze der streikenden Kollegen setzen, obwohl ihm das Betreten des Geländes verboten war.

    " Einige Tage vorher hatten wir festgelegt, wer welche Rolle im Streik spielen soll. Ich musste bis 6 Uhr die Werft erreichen und den Streik anführen. Doch ich habe mich um ein, zwei Stunden verspätet - und das war das Genialste, was uns passieren konnte! Denn die politische Polizei hat mich ja überwacht, und wäre ich einfach zur Werft gefahren, hätten die mich vor dem Werfttor aufgerollt. Die Arbeiter haben dann den Streik ohne mich begonnen, die Polizei-Leiter waren irritiert und haben beraten, statt meinen Bewachern neue Anweisungen zu geben. In diesem Wirrwarr ist es mir gelungen, die Werft zu erreichen und über die Mauer zu springen. Wäre alles nach Plan gelaufen, wäre mir das nicht gelungen, und man weiß nicht, was dann aus dem Streik geworden wäre."

    Der Ort allerdings, an dem Walesa die Weltbühne betrat, ist im Verschwinden begriffen: die Werft. Einen Moment lang schaut der Ex-Arbeiterführer nieder, den Finger an den Mund gelegt. Es gibt ein altes Foto, das Walesa so zeigt, es hängt in der Solidarnosc-Zentrale an einem Bord voller Andenken. Da hatte er noch dunkle Haare. Jetzt ist das weißgraue Haar sorgfältig gestutzt und ebenso der berühmte Schnauzer, die Gesichtshaut gebräunt und straff. Ganz elder statesman. Walesa schaut wieder hoch und sagt etwas trotzig:

    " Ich hatte einen Marshallplan und eine andere Art der Privatisierung, aber die Bevölkerung hat einen Anderen gewählt. Das Ergebnis sehen wir heute, die Werft hat Probleme. Wäre ich Präsident, stünde die Werft besser da, sie würde neben Schiffen auch andere Produkte fertigen. Man hätte meinen Plan durchführen sollen, aber das geschah nicht."

    Walesa spricht, schaut an, ist voll da. Seine Füße stehen beide auf der Erde, die Knie stoßen zusammen und wandern wieder auseinander, zusammen, auseinander, seine linke Hand beknibbelt die Yuccapalme neben seinem Sessel. Hinter seinem Schreibtisch hängt die Urkunde für den Friedensnobelpreis.

    Der Ex-Präsident schickt die Bürochefin kurz hinaus, sie soll einen Namen herausfinden. Einem berühmten Deutschen aus Danzig habe er ein Buch signiert, sagt Walesa. Man denkt sofort an Günter Grass und stellt sich die Buchübergabe von Nobelpreisträger zu Nobelpreisträger vor.

    Die Sekretärin kehrt zurück, einen Zettel in der Hand. Raumann heiße der Mann, ein ehemaliger Lufthansa-Vorstand. Walesa ist durchaus auch ein Genosse der Bosse. Als Präsident wurde der Wahl-Danziger Walesa für seinen Umgang mit der Werft - 'seiner' Werft - harsch kritisiert. Er behandle sie als Heilige Kuh und subventioniere, statt zu modernisieren, sagten die Liberalisten und gestürzten Kommunisten. Er hätte die Managerkaste daran hindern müssen, sich an dem ohnehin verschuldeten Betrieb zu bereichern, sagen die Solidarnoscler. Walesa macht eine unwirsche Handbewegung.

    " Ich habe mein Leben in Etappen gelebt, und diese Etappe war auf zehn Jahre angelegt. In der ersten Amtsperiode als Präsident musste ich mich um die Außenpolitik kümmern: Nach der Wende waren neue Länder entstanden, ich musste die Sowjetische Armee wegschicken und festlegen, ob Polen in die EU gehen oder sich nach Osten wenden soll. Ich habe Ideen gehabt, was ich in der 2. Amtsperiode tun will, auch für die Werft - doch ich bekam diese zweite Amtszeit nicht, meine Ideen sind gestorben."

    1995 hat Lech Walesa seinen Präsidenten-Posten an Aleksander Kwasniewski verloren, den gewendeten Sozialisten und derzeitigen Amtsinhaber. Man spürt Walesa diese Wunde immer noch an. Doch Lech Walesa will es noch einmal wissen. 2005 darf Kwasniewski nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren, und passend zum 25. Jahrestag des großen Streiks von 1980 will Walesa wieder antreten. Wann war er das letzte Mal auf der Werft? Der ehemalige Gewerkschaftsführer weicht aus.

    " Dieser Besuch wird geplant. Den ganzen Monat war ich im Ausland, in Deutschland, in Rom beim Papst, in Australien. Aber bald werde ich mich mit Werftarbeitern treffen, um sie zu fragen, wie es ihnen geht."

    Vielleicht ist das schon Vorwahlkampf, die ehemaligen Kollegen haben ihn jedenfalls schon seit Jahren nicht mehr gesehen.