Baag: Sie schreiben auch in Ihrem Buch über die Ostvertreibungen der Polen, also die Zwangsumsiedelung von Polen aus den damaligen polnischen Ostgebieten vor dem Zweiten Weltkrieg. Das scheint mir immer noch ein blinder Fleck zu sein im deutschen historischen Gedankengut. Wie lässt sich das eigentlich erklären?
Urban:
Die deutsche kollektive Erinnerung, was den Zweiten Weltkrieg und Osteuropa betrifft, konzentriert sich auf zwei andere Aspekte: auf den Holocaust und auf den Krieg mit der Sowjetunion. Alles, was den anderen Ländern geschehen ist, den anderen Nachbarn, ist demgegenüber zweitrangig. Man weiß in der Tat sehr wenig über die Zwangsumsiedelung der Menschen aus den Gebieten, die bis zum Krieg polnisch waren, aber während des Krieges von der Sowjetunion annektiert worden sind. Aber noch weniger weiß man, wie das Kriegsschicksal dieser Polen aussah. Von Wilna bis Lemberg, namentlich in den Gebieten, die heute zur Ukraine gehören - gab es schon während des Krieges große Vertreibungsaktionen, und zwar haben ukrainische Verbände von Milizen, die von den Nazis, von der deutschen Besatzung geduldet worden sind, die polnische Bevölkerung aus diesen Gebieten nach Westen vertrieben. Weil man die Idee hatte, das ist der ukrainischen Befreiungsarmee versprochen worden von den deutschen Besatzern, sie kriegen nach dem Krieg ihren eigenen Staat. So weit ist es natürlich nicht gekommen, aber während des Krieges wollte man schon mal die Polen vertreiben.
Baag:
Die beiden letzten Kapitel in ihrem Buch lauten "Deutschland und die Vertriebenen" bzw. "Polen und die Vertreibung". Gibt es trotz der politischen Konfrontation zwischen beiden Ländern während des Kalten Krieges, also nach 1945, Parallelen im Verhalten der politisch Verantwortlichen?
Urban:
Sowohl in der Bundesrepublik wie auch in der Volksrepublik Polen hat man natürlich das Thema Vertreibung versucht, politisch zu instrumentalisieren. In der Bundesrepublik ging es darum, bestimmte Wählerschichten, eine große Wählergruppe, zu binden. In Polen war das Thema sehr geeignet zu rechtfertigen, warum Sowjetsoldaten im Lande stehen. Es wurde also immer wiederholt die staatliche Propaganda, wenn die Sowjetarmee nicht in Schlesien und Pommern steht, dann kommen die Deutschen zurück. Das ist eigentlich politisch alles erledigt. Heute spielen natürlich noch Emotionen eine Rolle, wie wir wissen.
Baag:
Was mir auffiel, das habe ich eigentlich sogar auch ein wenig vermisst: das Stichwort die DDR und die Vertriebenen.
Urban:
Es kommt am Rande vor, das ist richtig. Sehr kurz, weil es sich auch sehr einfach beschreiben lässt. Das Wort "Vertreibung", das Wort "Vertriebene", waren in der DDR tabu. Man redete von Übersiedelung. Es durfte nicht thematisiert werden, dass Breslau mehrere Jahrhunderte zum Verband des Deutschen Reichs gehört hatte, es durfte überhaupt nicht der Name Breslau oder Stettin benutzt werden, man musste Szczecin und Wroclaw sagen. Das war ein absolutes Tabu zu DDR-Zeiten. Man hätte dann ja auch Fragen stellen müssen, warum die sowjetische Politik so aussah.
Baag:
Sind wechselseitige Vertreibungen, Verfolgungen, Umsiedlungen, Bedrückungen, ist sowas eigentlich eins zu eins vergleichbar - lässt sich also die eigene Schuld am Leid des anderen - in der Synthese gewissermaßen - auf eine Art fifty-fifty-Quote festlegen?
Urban:
Ich glaube, diesen Versuch sollte man nicht machen. Man muss zwei Dinge auseinanderhalten: Wir haben zum einen das individuelle Schicksal. Betroffen und Leidtragende waren immer die einfachen Menschen, das war die Zivilbevölkerung. Täter, politische Funktionsträger, militärische Führung, hatten sich immer rechtzeitig abgesetzt, egal in welchem Land, egal, in welche Richtung es ging. Das zweite ist natürlich die Verantwortung des Staates. War Vertreibung staatliche Politik oder war ein Land daran nicht beteiligt oder hat selber nicht darüber entschieden, das ist ja das Argument, das in Polen immer angeführt wird, es sei eine Entscheidung der Alliierten nach dem Krieg gewesen, die nicht gleichbewertet werden kann mit der systematischen Besatzungspolitik der Deutschen in Polen, die darauf abzielte, Polen als Kulturvolk auszulöschen. Das sind zwei verschiedene Ebenen, und man neigt in der Diskussion natürlich dazu, diese Ebenen zu vermischen. Ich denke, unter moralischem Gesichtspunkt ist jede Vertreibung, egal ob sie von fremden oder von eigenen Führungen beschlossen und durchgesetzt worden ist, moralisch immer verwerflich. Und die Vertriebenen, die Betroffenen auf allen Seiten, egal wie die politischen Rahmenbedingungen sind, haben ein Recht auf Gedenken und auf Mitleid.
Baag:
"Der Verlust", ein relativ knapper Titel, mit der Unterzeile "Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert" - dies impliziert doch eigentlich, dass etwas unwiederbringlich verloren ist. Man kann es aber auch so deuten, was man verloren hat, könnte man schließlich auch wiederfinden.
Urban:
Der Titel ist ja bewusst so gewählt, dass er sehr, sehr viele Deutungen zulässt. Der Verlust ist zu sehen auf der psychologischen Ebene, auf gar keinen Fall im Materiellen, Politischen, obwohl dies natürlich der Ausgangspunkt ist. Aber es kann heute, drei Generationen später, nur darum gehen, dass beide Seiten gemeinsam erkennen, man hat etwas verloren. Und dass beide Seiten vielleicht dann auch sagen und nachschauen, was man verloren hat und sich dabei annähern. Darum geht es.