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Der Vorhang bauscht sich in Orange

"Das neue Europa – Warten auf die Barbaren?" Unter diesem Motto hat die Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, Anna Badora, vier Schriftsteller aus Mittel- und Osteuropa aufgefordert, die Umbruchsituation in ihren Ländern zu beschreiben. Den Auftakt bildete das Drama "Orpheus, illegal" des ukrainischen Autors Jurij Andruchowytsch. Der schickte Orpheus in die Unterwelt der westlichen Zivilisation.

Von Morten Kansteiner | 18.09.2005
    Anfangs bauscht sich vor der Bühne ein leichter Vorhang in dynamischem Orange. Seit den Demonstrationen auf dem Majdan weiß das deutsche Fernsehpublikum: So sieht die Ukraine aus. Von der Seite tritt ein Moderator auf und erhärtet den Verdacht: Man befinde sich in Lwiw, in Lemberg, um der Performance eines Dichters beizuwohnen. Vom Schlossberg aus wolle der direkt in den Westen springen.

    "Die Aktion unter dem Titel "Junger Poet in den Klauen des Dranchenfliegers" ist ein weiterer Versuch dieses unübertroffenen Monsters der alternativen Szene der Ukraine die europäischen Grenzen zu sprengen und eine neue Revolution anzuzetteln, diesmal im Bewusstsein der Europäer."

    Stanislaw Perfetzky, der Held des Stücks, ist nicht zuletzt das verwegene Alter ego seines Autors. Beide sind vom Ziel beseelt, die Ukraine fest in Europa zu verankern. Gleichzeitig ist Perfetzky der Wiedergänger einer anderen Gestalt: Er trägt denselben Namen wie der Protagonist in "Perverzia", einem Roman, den Juri Andruchowytsch vor fast zehn Jahren in der Ukraine veröffentlicht hat. Auch Material aus seinen geopolitischen Essays hat er für sein Stück herangezogen. In der Prosa ist er zu Hause, auch in der Lyrik. Nur für die Bühne hat er bislang nicht geschrieben.

    "Ich bin sicher, dass das für mich noch immer ziemlich unbekannte Form ist. Ich habe natürlich viel Hoffnung, dass ich schon etwas von Drama in diesem Prozess, etwas schon erfahren habe, etwas schon kann ich. Andererseits aber kann ich noch nicht sagen, dass ich ein Dramatiker bin, keinesfalls."

    Allerdings spielt Andruchowytsch gern mit Assoziationen und mit Textmodi, die sich gerade auf der Bühne wunderbar entfalten lassen. Die erste Szene von "Orpheus, Illegal" blendet vom Kommentar des Fernsehmoderators bald hinüber zum Helden. Und kaum hat der sich von Lemberg aus in den Luftraum des alten Europa erhoben, landet er schon in einem Münchner Bierkeller. Ein desorientierter Faust sozusagen, der die Freuden des Westens erkundet. Er begegnet einer Urologen-Gattin, in die er sich umgehend verguckt, und dem Urologen selbst, der seinerseits nur Aquarien und Fische liebt. Daraus entwickelt Andruchowytsch noch rasch eine Allegorie über den Raubtierkapitalismus, bevor er die nächste Wendung auftischt: Stanislaw Perfetzky soll einen Vortrag auf einem Kongress in Venedig halten – worüber, ist eigentlich egal.

    "Da kommt zum Beispiel "La morte in der ukrainischen Literatur" in Frage, es kann aber auch sein l’amore oder l’erotismo oder la thanateca und zwar in relatione zum Problemen den morgendländischen Europa."

    Letztlich hält Perfetzky ein flammendes Plädoyer für die Einheit Europas, für eine EU, die sich den Nachbarn im Osten öffnet. Ein Plädoyer, wie auch Andruchowytsch es hier und da bereits gehalten hat. Deshalb lässt es gewisse Rückschlüsse auf das wahre Leben zu, wenn die Dramenfigur mit ihrer Botschaft Schiffbruch erleidet, zwischen dem eleganten Unsinn der Koreferenten einerseits und der Bequemlichkeit der Zuhörer andererseits. Ja, Juri Andruchowytsch ist vom westlichen Kulturbetrieb frustriert. In jüngster Zeit hat er in den Medien und auf Podien zwar Gehör gefunden, aber derlei Umarmungen bleiben eben unverbindlich. Immerhin: Die Erfahrung hat womöglich ihren Nutzen.

    "Für mich ist die Enttäuschung sehr wichtiges Gefühl. Ich finde, dass Enttäuschung für den Künstler überhaupt sehr produktiv ist. Enttäuschung bedeutet auch etwas Stimulierendes."

    So gesehen hat auch die Düsseldorfer Uraufführung ihre guten Seiten. Denn letztlich ist sie genau das: eine Enttäuschung. In der Inszenierung von Anna Badora sind alle Zeichen ungefähr so subtil wie der riesige orangefarbene Vorhang aus dem ersten Bild. Wenn Andruchowytsch von einem versinkenden Venedig phantasiert, macht sie aus der Bühne ein Planschbecken. Und Michael Fuchs, der sich die Hauptfigur mit einem ukrainischen Kollegen teilt, geht vor lauter Emphase buchstäblich in die Knie. Dabei hätte der Sarkasmus der Monologe das Gegenteil gebraucht: ein wenig Lakonie. Andererseits ist es konsequent, wenn sich die Erfahrungen des Autors und seines Alter ego auch darin ähneln: Der Kongressbetrieb sperrt sich gegen Perfetzkys Botschaft, und das deutsche Stadttheater überwältigt das Stück von Juri Andruchowytsch mit einem Übermaß an Deutlichkeit.