Archiv


Der Vulkan unter den Schweizer Schriftstellern

An den Folgen einer Herzoperation ist der Schriftsteller Hugo Loetscher im Alter von 79 Jahren in Zürich gestorben. Loetscher sei ein "funken-, geschichten-, anekdoten- und bildungsbrockenspeiender Vulkan" gewesen, sagt der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid.

Andreas Isenschmid im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich |
    Burkhard Müller-Ullrich: Hugo Loetscher war knapp 80 Jahre alt, und er war bis zuletzt jemand, der, wie die Franzosen sagen, einen "trop plein" hatte, immer etwas Druckvolles, Schnelles, Kräftiges im Ausdruck. Am Telefon ist der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid. Wir haben beide, Andreas Isenschmid, das darf man an dieser Stelle auch mal sagen, einen guten Bekannten verloren, der auch als Publizist tätig war und ein geradezu unschweizerisches Talent zur Polemik besaß.

    Andreas Isenschmid: Hugo Loetscher war in der Tat ein Vulkan unter den Schweizer Schriftstellern, ein Funken, Geschichten, Anekdoten und Bildungsbrocken speiender Vulkan, der in einem enormen Tempo das alles ausgespeit hat. Die Bildung, die er vertrat, und die Weltläufigkeit, die er vertrat, kam nicht etwa nur aus der Schweiz, die er so gut kannte, dass er sie durchleuchten und satirisch auf die Schippe nehmen konnte. Sie kam aus allen Ecken der Welt. Er war mit Brasilien vertraut und mit Thailand, er war mit Spanien vertraut und mit weiten Teilen Afrikas, und er sprach mehr Sprachen, als Autoren gewöhnlich sprechen können, die alten klassischen ohnehin, aber auch einige moderne. Er las schon als junger Mann Englisch, Französisch, Italienisch ganz ohne Probleme. Das prägte ihn als Journalist, als Redakteur bei der damals noch sehr berühmten Zeitschrift "du", aber das floss auf die eine oder andere Weise auch in seine fiktiven Werke, in seine Romane mit ein.

    Müller-Ullrich: Und diese Romanarbeit, die ist ein bisschen in der Wahrnehmung bei uns untergegangen eigentlich oder zu kurz gekommen, könnte man sagen. Es sind ja zum Teil sehr, sehr nett ziselierte Geschichten, die immer so in Einzelteile zerfallen oder aus Einzelteilen zusammengesetzt. Das Kohärenteste war sein autobiografischer Roman, wenn man es so nennen will, "Der Immune".

    Isenschmid: Es gibt sozusagen zwei Phasen in seinem Romanschreiben. Am Anfang schrieb er mit seinem Erstling "Abwässer" einen Bericht, der die Stadt Zürich aus der Sicht eines Kanalisationswärters von unten betrachtet und der der Zivilisation über den Dreck, den sie in guten, in reichen und in feinen Vierteln genauso hinablässt wie in armen. Gestartet war er mit solchen einerseits großmetaphorischen Gebilden, die andererseits einen hohen Anteil an Realismus aufwiesen. Dann kam mit dem "Immunen" ein Einschnitt, wo tatsächlich seine Romanschreiberei etwas enorm weit Gesponnenes, Weltläufiges, aber auch Kleinteiliges bekam. Das waren in der Tat Geschichten, die aus vielen, vielen kleinen Geschichten zusammengesetzt waren. Er sprengte in diesen beiden Büchern, "Der Immune" und "Die Papiere des Immunen" eigentlich das, was man üblicherweise unter der Gattung des Romans versteht. Er sprengte ihn, indem er ins Essayistische ging, aber nicht Essays schrieb, er sprengte die Gattung, indem er ins Autobiografische ging, aber nie rein autobiografisch wurde. Das gab eine unglaublich funkelnde, flickernde, schnell bewegliche Romanoberfläche, wie man sie in der Schweiz nicht las, aber hier eigentlich auch nicht liest. Ich weiß nie genau, warum das hierzulande eigentlich nicht bekannt wurde.

    Müller-Ullrich: Bleiben wir mal bei diesem Hierzulande, bei dem Schweizerischen. Trotz aller Weltläufigkeit, er war ja nun auch wirklich ein sehr engagierter, ich meine politisch engagierter Schweizer, denn Sie hatten es ganz am Anfang schon im Zusammenhang mit "Abwässer", seinem Frühwerk, gesagt, Reich und Arm war durchaus ein Thema für ihn.

    Isenschmid: Ja, er war immer sehr stolz darauf, dass er als Arbeitersohn an der Sihl - das ist der Fluss, der durch die Armenquartiere Zürichs fließt - zur Welt gekommen ist, und er blickt in manchen Werken am Anfang zuerst mal vom Proletenfluss, der Sihl, hinüber zur Limmat, zum reichen Zürich, und beschreibt dann seine Übergänge, erst mal als Student, dann als Redakteur, dann durch den Aufstieg da und dort überhaupt. Er hat auch den Züricher Kunstpreis bekommen. Und diese Herkunft aus dem Proletarischen und aus dem Einfachen, dieser Stolz darauf, die Sachen selber gemacht zu haben, prägte ihn die ganze Zeit und es prägte sogar den Gestus seines Werkes.

    Müller-Ullrich: Andreas Isenschmid, Sie haben Hugo Loetscher eingangs mit einem Vulkan verglichen - diese Energiequelle, die war ja auch im Grunde eine Art Kraftstoff für den Literaturbetrieb. Hugo Loetscher war ein sehr angenehmer, eigentlich immer disponibler Kollege.

    Isenschmid: Das ist wahr. Man hätte meinen können, dass er eigentlich immer nur sein Funkenfeuerwerk losließ. Wenn man ihn aber anging und um Hilfe bat oder um Vermittlung bat, dann merkte man, was für ein großzügig schenkender und selbstlos helfender Mensch dieser Hugo Loetscher war. Immer wollte er andere zum Glänzen bringen, immer sagte er: Gucken Sie noch dieses Buch an, haben Sie von dem schon gehört, ich kenne in Spanien noch einen, der für Sie schreiben konnte. Er war eine Vermittlergestalt, die unendlich viele Sachen kennt, die heute kein Mensch kennt. Und wenn man bei ihm in seiner Wohnung war, in der Storchengasse, dann sah man, dass er in den Dachboden hinauf immer neue, zum Teil selbst gebastelte Büchergestelle anbauen musste, und die Bücher, die er da rausholte, waren meist keineswegs deutsch, auch nicht unbedingt französisch, sondern vielleicht portugiesisch, und er sammelte überhaupt Bücher, die er selber gar nicht lesen konnte, einfach weil er Spaß an der Vielfalt, am Rotieren der Wörter hatte.

    Müller-Ullrich: Danke, Andreas Isenschmid, für diese Würdigung. Hugo Loetscher ist im Alter von 79 Jahren an den Folgen einer Herzoperation in Zürich gestorben.