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Der weiße Berg

Die Ebene der Drei Flüsse liegt bis an den Innenrand des Hohen Altai hingestreckt und erstarrt; schwarzbunt bespicken Yakherden das weite, graugelbe Ak-Hem-Tal, hellblaue Dunstschwaden stehen niedrig darüber; das Homdu-Tal wirkt wie ein ausgebreitetes scheckiges Fell, der Wald entlang der Flußniederung ist der dunkle Rückenstreifen und die beiden Hügel rechts und links, jeweils am Rand sind das entzweigeschnittene, auseinandergescheuchte Euter; keine Rauchsäule steigt, nicht Ail noch Herde noch Reiter zeigt sich.

Marica Bodrozic |
    Diese Landschaftsaufnahme des deutsch schreibenden mongolischen Schriftstellers Galsan Tschinag findet sich in seinem neuen Roman Der weiße Berg. Erzählt wird die Geschichte des jungen Dshurukuwaa, der in den sechziger Jahren zum Schamanen berufen wird; in einer Zeit also, in der eine "sozialistische Erziehung" wünschenswerter erschien als das Beschwören der Geister.

    Dshurukuwaa, das ist das Alter Ego Galsan Tschinags, der eigentlich Irgit Schynyk-baj-oglu Dhurukuwaa heißt. 1944 kam er in einer Nomadenfamilie der Tuwa in der Mongolei zur Welt. Von 1962 bis 1968 studierte Tschinag in Leipzig Germanistik und schreibt seitdem in deutscher Sprache. Bekanntgeworden ist der Autor mit der Erzählung Eine tuwinische Geschichte und dem Roman Der blaue Himmel. In beiden Texten ließ er das Leben seiner Nomadenkindheit lebendig werden, ein Leben in der Steppe der Mongolei, in dem der Überlebenskampf sowie das Auseinanderdriften der alten Strukturen und Traditionen die bestimmenden Elemente sind.

    In den Erzählungen, Gedichten und Romanen des Chamisso-Preisträgers nimmt, neben dem Thema der Nichtsesshaftigkeit, der Traum eine wichtige Rolle ein. Der Traum ist das poetische Medium seiner Geschichten, denen insgesamt eine Tonalität der Sage und des Märchens innewohnt. "Möglich, diese Geschichte hat ihren Anfang in einem Traum genommen", hieß es im 1994 publizierten Roman Der blaue Himmel. Nur zwei Jahre nach dieser vielbeachteten Veröffentlichung geht es dem tuwinischen Stammesfürsten und Dichter deutscher Sprache auch im Leben um einen Traum. Er ist fest entschlossen, die Rettung der alten Stammeskultur der Tuwa zu ermöglichen und führt in 63 Tagen Teile seines Volkes in einer großen Karawane zurück ins Altai-Gebirge, die ursprüngliche, fast zweitausend Kilometer entfernt liegende Heimat der entwurzelten Nomaden.

    Der gerade erschienene Roman Der weiße Berg spielt in der Zeit, in der das tuwinische Volk durch die stalinistische Zwangsumsiedlung vertrieben worden war. Auch hier ist der Erzähler wieder einmal in einem Raum zwischen Traum und Realität gefangen:

    Ich träume wohl vom Fliegen. Doch stehe ich immer am Rande der Geschehnisse, bin Zuschauer meines eigenen Traumes, und darum vielleicht sind es trübe, zähe Bilder, ohne Anfang, ohne Ende. Wieder und wieder verheddert sich der Traum, geht zwischendurch auch aus und läßt Gestaltloses und Drückendes zurück. Dann aber erscheint mit einem Mal stechend Scharfes.

    Der jugendliche Dshurukuwaa möchte sich "in Worten abschälen". Gleich zu Anfang des Romans spricht er von seiner Geschichte als "einer Krankheit", die es mit den Mitteln der Bewußtwerdung zu überwinden gilt. Dshurukuwaas Lehrerin, der Schamanin Pürwü, ist es zu verdanken, daß es dem jungen Mann gelingt, seine innere Fesseln zu sprengen. Liebevoll beschreibt er sie:

    Die obere Hälfte ihres Gesichtes ist verdeckt von den herunterhängenden schwarzen Fransen der Schamanenmütze. Die weißen Perlmuttknöpfe, Kaurimuscheln und Iltiszähne in zwei Reihen lachen mich an, dem Gebiß eines Totenkopfes gleich, und es zucken darüber flammenhaft Uhufedern. Ich schaue still zurück. Nichts regt sich in mir. Klar stehen die Gedanken. Der Druck ist gewichen. Die Enttäuschung hat sich gelegt. Der Haarbandgeruch hat die Übelkeit betäubt. Komme, was wolle, ich bin da und bin zu allem bereit.

    Pürwü ist es auch, die Dshurukuwaa eine Reise ins Innere ermöglicht, in einen tranceähnlichen Zustand, der mit dem der Träume vergleichbar ist. Obwohl die "Wunde" des Lebens dadurch nicht verheilt, scheint sie dennoch, wie es bei Tschinag heißt, unter dem "Zeitstaub" zu verharschen und zu vernarben.

    Der schlecht begonnene Sommer endet dann doch "recht gut" und der Herbst zieht ins Land. Die Welt des Wissens fällt langsam aber sicher mit dem Wissen der Schamanenlehre zusammen. Es ist ein schmerzhafter Weg, der zwar zu Erfahrung, nicht aber aus der Zerrissenheit des Lebens herausführt. "Und als die Reise endlich zu Ende geht", verbietet sich Dshurukuwaa "zu winseln" und sagt:

    Das zumindest habe ich begriffen. Und das kann durchaus der Inhalt meines bisherigen Lebens gewesen sein. (...) Endlich zieht der Winter ein, und unsere Jurten gehen auseinander. Der Rauhreif wächst zu Schnee, der weiteren anzieht, den Wolken neue Schichten abschält. Die ersten Schneestürme fegen über den Altai hinweg.

    Das archaische Leben spitzt die Suche nach einer Identität zwischen den Welten zu, zeigt, daß auch der Einbruch der Moderne in die Welt der Steppe das Wachstum des Menschen weder verhindern noch die damit einhergehenden Leiden ausschalten kann. Galsan Tschinag hat einen zeitlosen Roman geschrieben, in dem das Erwachsenwerden eines jungen Nomaden beschrieben wird, der viele Wege gehen muß, um zu begreifen, daß nur der Umweg Gewißheit gibt und am Ende als einziger zu sich selbst führt.