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"Der Wildschütz" in Nordkorea

Mit seiner Oper "Der Wildschütz" hatte Albert Lortzing so großen Erfolg, dass er sich dazu entschloss, den Schauspielerberuf an den Nagel zu hängen. Lortzing gilt heute als Begründer der deutschen Volksoper. Der britische Regisseur Nigel Lowery hat Lortzings Werk "Der Wildschütz" an Stuttgarter Staatsoper inszeniert.

Von Frieder Reininghaus | 14.03.2005
    Der Wildschütz ist, so weit bekannt, die einzige Oper, mit welcher der deutsche Dorfschulmeister zum Helden avancierte. Überhaupt eine dergestalt subalternde und derangierte Figur, die es dennoch Fäustchendick hinter den langen Ohren zu haben glaubt. Offenherzig stellt er sich vor mit "A - B - C - D - der Junggesellstand tut weh!"

    Die Partie des Volksschullehrers Baculus ist in Stuttgart mit Roland Bracht bestens besetzt: eine prächtige, hinreichend kernige und doch auch geschmeidige Bassstimme wird von einer idealen Statur und Statuarik ergänzt; köstlich sind die kleinen Retardierungen der Gesten mit denen der Würdenträger des kleinstaatlichen Kultur- und Bildungswesens seine Bedeutung unterstreicht und sich in den Disput um die angemessenen Formen der Sophokles-Pflege einmischt. Mit seinen Attacken auf den Berliner Antiken-Kult verhohnepipelte der Librettist, Komponist, Sänger, Dirigent und Demokrat Albert Lortzing 1842 den von anderen Künstlern - vornan vom Leipziger Rivalen Mendelssohn - mit irrigen Hoffnungen begleiteten Amtsantritt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Überhaupt meldeten sich im Sprachwitz des Stücks bemerkenswert unbotmäßige Töne - Kapitalistenkritik z.B., bevor der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital überhaupt weithin sichtbar aufgebrochen war.

    Baculus, wie der Lateiner weiß, ist der personifizierte Stecken und Stab (und Stütze dazu) - eine Namensgebung, die im Kontext dieses Stücks gleich in dreifacher Hinsicht anzüglich ist. Denn von Rohrstock dürfte dieser begnadete Pädagoge ebenso exzessiv Gebrauch gemacht haben wie er nun einmal eine Stütze der Gesellschaft in der Grafschaft war - und dann hat sich der alternde Bock, der einen kapitalen Bock schießen will, beim Wildern aber erwischt wird, auch noch eine Schülerin aufgerissen. Die Gretel hat er sich für seine Zwecke herangezogen, dieser heroische Heinrich Habakuk Baculus, der wohl ursprünglich auf den Namen Max Stock oder Jürgen Stocker getauft worden sein mag und, dank der literarischen Vorlage des Herrn von Kotzebue, beiläufig auch den großen Faust zu parodieren hat.

    Mit dem subtilen Witz des Stücks wußte Nigel Lowery wie die Mehrzahl seiner in weithin unverständlichem Deutsch singenden Interpreten wenig anzufangen. Der Regisseur und Bühnenbildner verlegte die Handlung nach Nordkorea. Er promovierte den Grafen von Eberbach (auch da ist Nomen Omen) zum fernöstlichen Militärmachthaber und dessen Schwager Kronthal vom Stallmeister zum Rennstallchef. In strenger Schrift schmückt die staatlich verordnete Hauptparole "Wir sind sehr froh" das Hochhaus im Hintergrund. Die Dialoge sind Filmeinblendungen überantwortet, die die Schul- und Propaganda-Filme der 60er Jahre parodieren. Das mag als pädagogisch wertvoll erscheinen.

    Die Folie der asiatischen Despotie kommt der Inszenierung zwischenzeitlich abhanden. Ohne zwingende Notwendigkeit verweigert sie die Billard-Szene, in der die adligen Herren um den ersten Zugriff auf ein falsches Gretchen spielen (sie wurde durch eine Schießerei ersetzt). Erst am Ende, wenn es um die Auflösung der ganzen bigotten Lügengespinste geht, kehrt der Blick auf Nordkorea wieder, das nun mit aller Macht auf dem Weg zur kapitalistischen Glückseligkeit versaut wird. Aber die Mittelstreckenmaßnahmen, die Lowery dieser Komischen Oper angedeihen läßt, haben nur halbe Reichweite. Sie vermögen das Werk vom Bann, der so lähmend über ihm liegt, nicht zu lösen.

    Die von Constantinos Carydis geleitete Premiere erreichte die nötige Balance zwischen dem weithin zu hoch ausgesteuerten Orchester und dem Ensemble auf der Bühne nicht und unterstrich schmerzlich, dass eine Interpretation des "Wildschütz" auf der Höhe der heutigen Theatermöglichkeiten weiterhin aussteht.