Wer so dichtet, scheint nicht ganz bei Sinnen. Ferdinand Freilingrath ist der Erzeuger dieser Zeilen, geschrieben kurz nach Kriegsbeginn 1870. Der Sieg über Frankreich brachte deutsche Poeten dann vollends um den Verstand: rund 10tausend Gedichte sind zur Feier der Reichsgründung erschienen. Dabei hatte Freilingrath noch wenige Jahre zuvor zur demokratischen Fraktion gehört: mit seinem "Deutschland ist Hamlet"-Gedicht von 1844 hatte er den merkwürdigen Widerspruch zwischen Vision und Realität, zwischen Philosophie und nicht stattgehabter demokratischer Revolution beklagt. Dann wechselte er die Seite: kriegerische Einheit statt Freiheit. Und die nationale Panegyrik etwa eines Emanuel Geibel, an dessen deutschem Wesen schon 1861 die Welt genesen sollte, wird mit der Reichsgründung richtig erotisch:
Nun wirf hinweg den Witwenschleier!/Nun gürte dich zur Hochzeitsfeier, O Deutschland, hohe Siegerin!/Die du mit Klagen und Entsagen/Durch vier und sechzig Jahr getragen,/Die Zeit der Trauer ist dahin...
All diese überschwänglichen lyrischen Entäußerungen speisen sich aus einem Fundus, den der Tübinger Germanist Jürgen Schröder jetzt analysiert hat. Es ist die Germania des Tacitus, die im 16. Jahrhundert von deutschen Humanisten rezipiert wurde und deutsche Sittsamkeit und Kampfeskraft pries, die das Rückgrat dieser Gedichte bildet. Weitere Zutaten der National-Lyrik, die sich über die Jahrhunderte herausfiltern lassen, sind vor allem mythische Stoffe wie der Barbarossa-Komplex, der Gott Wotan oder die Nibelungen. Besonders Wotan braust, wie Schröder nachweist, vom Burschenschaftslied des Juristen Karl Follen 1817 bis zu dem genau ein Jahrhundert später gefallenen Weltkriegs-Offizier Walter Flex durch die lyrischen Bildwelten. Oft ist die Motivik nur noch als Palimpsest lesbar. Während der verbalradikale Follen immerhin noch mit "Brause, du Freiheitssang,/ brause wie Wogendrang/ aus Felsenbrust" aufwartet, wandelt sich das Motiv bei Flex in das bekannte "Wildgänse rauschen durch die Nacht". Wotan braust aber auch "wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall" 1840 durch Max Schneckenburgers "Wacht am Rhein", und verkleidete Reste des graubärtigen Sturmgotts macht Schröder sogar noch in Theodor Storms 1852 geschriebener "grauen Stadt am Meer" aus.
Die demokratische Tradition hat es schwer inmitten der volltönenden nationalen Formelhaftigkeit. Schröder verteidigt den geistig nach Griechenland emigrierten Hölderlin gegen die nationale Vereinnahmung und führt mit präzisen Heine-, Herwegh- und Brecht-Interpretationen die vernunftbegabtere Poetik gegen die Deutschland-trunkenen Sänger an. Er argumentiert schamvoll mit der bleichen Mutter Deutschland gegen die regressive Beschwörung alter germanischer Kampfbünde.
Aber es ist eben ein kompliziertes Feld, das da bestellt sein will: die sozialistische Pathetik eines Johannes R. Becher ist poetisch leider nicht viel besser als die Sprachimpotenz mancher größenwahnsinniger Nazis. Immerhin läßt sich motivgeschichtlich manches zurückverfolgen. Die dümmliche Inanspruchnahme großer Geister (meist Bach und Goethe) für die eigenen Zwecke wird nicht nur von den Nazis, sondern auch von Becher betrieben. Und das männliche Eisen-Motiv wird von Ernst Moritz Arndts "Der Gott, der Eisen wachsen ließ" aus der Restaurationszeit bis zu Walter Flex' "Du Volk im grauen Eisenkleid" im ersten Weltkrieg weitergeschrieben. Unvergleichlich ist allerdings die masochistische Opferbereitschaft, mit der der Nazi-Dichter Heinrich Anacker sich 1931 dem Führer feilbot:
Wir werdend Volk, wir sind der rohe Stein -/Du, unser Führer, sollst der Steinmetz sein;/der Steinmetz, der mit schöpf'rischer Gewalt/ den Stein erlöst von seiner Ungestalt./Schlag immer zu! Wir halten duldend still,/da deine strenge Hand uns formen will./Wir leiden gern, hinopfernd Tag und Nacht,/wenn nur dein Hammerschlag uns klarer macht./Wie Michelangelo das Bild des Herrn,/schaffst du aus uns, was heut noch blaß und fern;/schaffst du aus uns, aus rohem Element,/des neuen Deutschland ewig Monument.
"In diesem Lande leben wir/ wie Fremdlinge im eigenen Haus" hat später Wolf Biermann, Hölderlin variierend, über die DDR geschrieben. Für Nazi-Zeit und Nazi-Sprache galt dies noch verschärft. Die Haßgedichte eines Will Vesper, die Mischung aus christlicher Apokalypse und heidnischer Sage, die Todeslust eines Hermann Burte - all das macht heute nur noch müde und traurig. "Musik entsprang aus deinem Blut, ein Strom/ und wogte Lust am Tod in deine Lieder,/ ewig unfaßbar für Byzanz und Rom" dichtete Burte 1938 "An Deutschland". Man ist also fast erleichtert, endlich in den Nachkrieg zu gelangen. Aber auch hier ist Trauerarbeit zu leisten: Schröder präpariert die einzelnen Stränge und "geliehenen Worte" der "Todesfuge" heraus, das "rituelle Sich-Hineinsprechen in das tödliche Thema", er demonstriert die Adenauer-Zeit anhand von Enzensbergers zitierender und parodierender "Landessprache" und geht weiter zu Ingeborg Bachmanns gestundeter Zeit und zu Biermanns Leiden an Deutschland. Der deutschen Wiedervereinigung ist - in der Lyrik jedenfalls - die Euphorie dann gänzlich abhanden gekommen, es gibt nur eine nüchterne Bestandsaufnahme oder eine Verlustanzeige wie Volker Brauns Gedicht "Das Eigentum".
Die patriotische Lyrik scheint also, so Jürgen Schröders These, vorläufig an ein Ende gelangt. Ich weiß nicht, ob er da so richtig liegt. Ich glaube, die - wenngleich oft dilettantische - Lyrik-Produktion dieser Art hat sich nur verlagert, in die rechtsradikale Rockmusik oder ins Internet. Gleichviel: Schröder ist ein großer Interpret. Er spürt das schamhaft versteckte Memento mori im Deutschland-"Bekenntnis" des Arbeiterdichters Karl Bröger ebenso auf wie Conrad Ferdinand Meyers "Sistina", die der unsägliche Nazi Heinrich Anacker in seiner "Der Führer als Bildhauer des Volkes"-Lyrik benutzt und pervertiert. Schröder schreibt, was für einen Germanisten leider immer noch als ungewöhnlich gilt, einen sehr verständlichen Stil. Das Buch aber ist eine Fundgrube, die erst einmal durchgearbeitet sein will. Wer sich darauf einläßt, wird viel lernen über Deutschland und über die Art, wie hierzulande projiziert und gedichtet wurde. Man sollte sich allerdings wappnen: man braucht für dieses Thema einen langen Atem - und viel Geduld.
Nun wirf hinweg den Witwenschleier!/Nun gürte dich zur Hochzeitsfeier, O Deutschland, hohe Siegerin!/Die du mit Klagen und Entsagen/Durch vier und sechzig Jahr getragen,/Die Zeit der Trauer ist dahin...
All diese überschwänglichen lyrischen Entäußerungen speisen sich aus einem Fundus, den der Tübinger Germanist Jürgen Schröder jetzt analysiert hat. Es ist die Germania des Tacitus, die im 16. Jahrhundert von deutschen Humanisten rezipiert wurde und deutsche Sittsamkeit und Kampfeskraft pries, die das Rückgrat dieser Gedichte bildet. Weitere Zutaten der National-Lyrik, die sich über die Jahrhunderte herausfiltern lassen, sind vor allem mythische Stoffe wie der Barbarossa-Komplex, der Gott Wotan oder die Nibelungen. Besonders Wotan braust, wie Schröder nachweist, vom Burschenschaftslied des Juristen Karl Follen 1817 bis zu dem genau ein Jahrhundert später gefallenen Weltkriegs-Offizier Walter Flex durch die lyrischen Bildwelten. Oft ist die Motivik nur noch als Palimpsest lesbar. Während der verbalradikale Follen immerhin noch mit "Brause, du Freiheitssang,/ brause wie Wogendrang/ aus Felsenbrust" aufwartet, wandelt sich das Motiv bei Flex in das bekannte "Wildgänse rauschen durch die Nacht". Wotan braust aber auch "wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall" 1840 durch Max Schneckenburgers "Wacht am Rhein", und verkleidete Reste des graubärtigen Sturmgotts macht Schröder sogar noch in Theodor Storms 1852 geschriebener "grauen Stadt am Meer" aus.
Die demokratische Tradition hat es schwer inmitten der volltönenden nationalen Formelhaftigkeit. Schröder verteidigt den geistig nach Griechenland emigrierten Hölderlin gegen die nationale Vereinnahmung und führt mit präzisen Heine-, Herwegh- und Brecht-Interpretationen die vernunftbegabtere Poetik gegen die Deutschland-trunkenen Sänger an. Er argumentiert schamvoll mit der bleichen Mutter Deutschland gegen die regressive Beschwörung alter germanischer Kampfbünde.
Aber es ist eben ein kompliziertes Feld, das da bestellt sein will: die sozialistische Pathetik eines Johannes R. Becher ist poetisch leider nicht viel besser als die Sprachimpotenz mancher größenwahnsinniger Nazis. Immerhin läßt sich motivgeschichtlich manches zurückverfolgen. Die dümmliche Inanspruchnahme großer Geister (meist Bach und Goethe) für die eigenen Zwecke wird nicht nur von den Nazis, sondern auch von Becher betrieben. Und das männliche Eisen-Motiv wird von Ernst Moritz Arndts "Der Gott, der Eisen wachsen ließ" aus der Restaurationszeit bis zu Walter Flex' "Du Volk im grauen Eisenkleid" im ersten Weltkrieg weitergeschrieben. Unvergleichlich ist allerdings die masochistische Opferbereitschaft, mit der der Nazi-Dichter Heinrich Anacker sich 1931 dem Führer feilbot:
Wir werdend Volk, wir sind der rohe Stein -/Du, unser Führer, sollst der Steinmetz sein;/der Steinmetz, der mit schöpf'rischer Gewalt/ den Stein erlöst von seiner Ungestalt./Schlag immer zu! Wir halten duldend still,/da deine strenge Hand uns formen will./Wir leiden gern, hinopfernd Tag und Nacht,/wenn nur dein Hammerschlag uns klarer macht./Wie Michelangelo das Bild des Herrn,/schaffst du aus uns, was heut noch blaß und fern;/schaffst du aus uns, aus rohem Element,/des neuen Deutschland ewig Monument.
"In diesem Lande leben wir/ wie Fremdlinge im eigenen Haus" hat später Wolf Biermann, Hölderlin variierend, über die DDR geschrieben. Für Nazi-Zeit und Nazi-Sprache galt dies noch verschärft. Die Haßgedichte eines Will Vesper, die Mischung aus christlicher Apokalypse und heidnischer Sage, die Todeslust eines Hermann Burte - all das macht heute nur noch müde und traurig. "Musik entsprang aus deinem Blut, ein Strom/ und wogte Lust am Tod in deine Lieder,/ ewig unfaßbar für Byzanz und Rom" dichtete Burte 1938 "An Deutschland". Man ist also fast erleichtert, endlich in den Nachkrieg zu gelangen. Aber auch hier ist Trauerarbeit zu leisten: Schröder präpariert die einzelnen Stränge und "geliehenen Worte" der "Todesfuge" heraus, das "rituelle Sich-Hineinsprechen in das tödliche Thema", er demonstriert die Adenauer-Zeit anhand von Enzensbergers zitierender und parodierender "Landessprache" und geht weiter zu Ingeborg Bachmanns gestundeter Zeit und zu Biermanns Leiden an Deutschland. Der deutschen Wiedervereinigung ist - in der Lyrik jedenfalls - die Euphorie dann gänzlich abhanden gekommen, es gibt nur eine nüchterne Bestandsaufnahme oder eine Verlustanzeige wie Volker Brauns Gedicht "Das Eigentum".
Die patriotische Lyrik scheint also, so Jürgen Schröders These, vorläufig an ein Ende gelangt. Ich weiß nicht, ob er da so richtig liegt. Ich glaube, die - wenngleich oft dilettantische - Lyrik-Produktion dieser Art hat sich nur verlagert, in die rechtsradikale Rockmusik oder ins Internet. Gleichviel: Schröder ist ein großer Interpret. Er spürt das schamhaft versteckte Memento mori im Deutschland-"Bekenntnis" des Arbeiterdichters Karl Bröger ebenso auf wie Conrad Ferdinand Meyers "Sistina", die der unsägliche Nazi Heinrich Anacker in seiner "Der Führer als Bildhauer des Volkes"-Lyrik benutzt und pervertiert. Schröder schreibt, was für einen Germanisten leider immer noch als ungewöhnlich gilt, einen sehr verständlichen Stil. Das Buch aber ist eine Fundgrube, die erst einmal durchgearbeitet sein will. Wer sich darauf einläßt, wird viel lernen über Deutschland und über die Art, wie hierzulande projiziert und gedichtet wurde. Man sollte sich allerdings wappnen: man braucht für dieses Thema einen langen Atem - und viel Geduld.