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Die Augen eines Mörders

Es ist Vollmond, als in einer andalusischen Kleinstadt ein bestialischer Mord begangen wird. Der Täter hat die zehn-jährige Fatima nicht einfach vergewaltigt und umgebracht, sondern ihre Genitalien zerfleischt und sie dann qualvoll ersticken lassen. Ein Inspektor, der sich als Terroristenfahnder im Baskenland einen Namen gemacht hat, sucht die Stadt ab nach einem Gesicht, nach einem Paar Augen. „Suche seine Augen", hatte ihm der greise Pater Orduña geraten. „Die Augen sind der Spiegel der Seele. In ihnen muß die schreckliche Tat zu lesen sein." Dieser volkstümliche Glaube stellt sich jedoch bald als Irrtum heraus. Als der Inspektor dem Mörder ohne es zu wissen gegenübersteht, erkennt er ihn nicht. Dazu Molina:

Cecilia Dreymüller |
    Es ist Vollmond, als in einer andalusischen Kleinstadt ein bestialischer Mord begangen wird. Der Täter hat die zehn-jährige Fatima nicht einfach vergewaltigt und umgebracht, sondern ihre Genitalien zerfleischt und sie dann qualvoll ersticken lassen. Ein Inspektor, der sich als Terroristenfahnder im Baskenland einen Namen gemacht hat, sucht die Stadt ab nach einem Gesicht, nach einem Paar Augen. "Suche seine Augen", hatte ihm der greise Pater Orduña geraten. "Die Augen sind der Spiegel der Seele. In ihnen muß die schreckliche Tat zu lesen sein." Dieser volkstümliche Glaube stellt sich jedoch bald als Irrtum heraus. Als der Inspektor dem Mörder ohne es zu wissen gegenübersteht, erkennt er ihn nicht. Dazu Molina:

    "Mich interessierte an diesem Thema das Schreckliche, was darin steckt. Was bringt einen Menschen plötzlich dazu, einen anderen zu vernichten und Angst und Schrecken zu verbreiten? Ein Mensch zudem, der normal ist, wenigstens im allgemeinen Sinne. Der beschriebene Mordfall beruht auf wirklichen Tatsachen, doch die Idee zu dem Buch kam mir, während ich noch in Granada lebte, wo das Verbrechen geschehen war. Als der Prozeß begann, sah ich ein Foto von dem Typ, der das getan hatte. Es war ein völlig unschuldiges Gesicht, das Gesicht eines guten Menschen, wie jedes andere auch. Daher rührt das im Buch so zentrale Motiv des Gesichts, das etwas verrät, oder der Augen, die der Spiegel der Seele sind. Natürlich stellt sich heraus, daß die Augen des Mörders nichts über den Mörder aussagen. Dahinter steht die Vorstellung, die wir alle teilen, daß im Blick oder im Auftreten dessen, der etwas Furchtbares getan hat, seine Tat zu erkennen ist. Anscheinend brauchen wir die Gewißheit, daß da etwas zu merken ist, um ruhig schlafen zu können. Einerseits, um das Böse zu erkennen und andererseits, um nicht an uns selbst zu zweifeln, dafür brauchen wir ein ganz deutliches Zeichen."

    "Antonio Muñoz Molina, vielprämierter spanischer Erfolgsautor, beschreibt in seinem Roman Die Augen eines Mörders die packende Jagd auf einen Serienkiller. Allerdings stellt sie nur den äußeren Handlungsrahmen des doppelbödig erzählten Kriminalromans dar. Muñoz Molina geht es nicht darum, die Abgründe der Perversion auszuleuchten, oder den moralischen Zeigefinder zu erheben. Vielmehr tastet er sich an die Grauzone des alltäglichen menschlichen Fehlverhaltens heran. Hier verwischen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Eine eindeutige Zuordnung von Schuld ist nicht mehr möglich. Dabei faßt der Roman über die individuelle Ebene hinaus auch die sozialen Konsequenzen ins Auge. In allen Büchern des 1956 im andalusischen Úbeda geborene Autors sind persönliche und kollektive Geschichte untrennbar miteinander verwoben:

    "Der Roman hat natürlich sehr viel mit der spanischen Zeitgeschichte zu tun. Spanien ist ein Land, das von einer Diktatur zur Demokratie übergegangen ist. Bei diesem Übergangsprozeß gibt es Vieles, das nicht von heute auf Morgen verschwindet. In Deutschland war auch nicht mit der Entnazifizierung die Vergangenheit einfach ausradiert. Deswegen spielt auch ETA eine Rolle in diesem Buch. Das gehört eben zur traurigen Wirklichkeit in Spanien. Hier gab es den Terrorismus und es gibt ihn weiterhin. Ich wollte zeigen, daß es in einer Zeit des Übergangs nur sehr wenige Menschen gibt, die wirklich unschuldig oder heldenhaft sind. Ich wollte einen Polizeibeamten darstellen, der weder wirklich gut noch wirklich schlecht ist, denn er hat eine politische und persönliche Vergangenheit, die doch ziemlich düster ist. Auch im Verhalten seiner Frau gegenüber ist er ja nicht gerade ein Vorbild. Aber ich wollte eben Menschen darstellen, nicht eine Linie ziehen zwischen den Guten und den Schlechten, denen die diesseits und denen die jenseits des Gesetzes stehen."

    Die Figur des Inspektors überzeugt in Antonio Muñoz Molinas Roman Die Augen eines Mörders gerade durch ihre Widersprüchlichkeit: im Beruf ein besessener, verhärteter Einzelgänger, privat ein schüchterner, unbeholfen Liebender. Aufgrund seiner zwielichtigen Vergangenheit als Franco-Spitzel und Terroristenjäger wird der Inspektor selbst zum Gejagten. Er weiß, daß früher oder später ETA die Rechnung mit ihm begleichen wird. Da auch ihm Blut an den Händen klebt, kann es kein Happy-end geben. Die Figuren von Muñoz Molina werden immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt. Sei es die dunkle Spur des spanischen Bürgerkriegs, wie in seinem Erstlingsroman Beatus Ille, oder die kollektive Erinnerung in seinem poetisch dichten Meisterstück Der polnische Reiter. Der Autor:

    "Die Vergangenheit ist Teil der Wirklichkeit - ganz besonders in Gesellschaften, die in Übergangsprozessen stecken und in denen im Laufe eines Menschenlebens viele und sehr unterschiedliche Dinge passiert sind. In einer Gesellschaft, in der sich wenig bewegt hat, ist die Präsenz der Vergangenheit viel geringer. In einer jedoch, die großen Veränderungen unterworfen war, ist das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer sehr konfliktreich. Das ist so in der ganzen europäischen Geschichte, in der deutschen wie in der spanischen; die Vergangenheit bricht plötzlich in die Gegenwart herein. Warum? Nehmen wir als Beispiel hier in Spanien den GAL-Prozeß letztes Jahr oder Argentinien, wo jetzt herauskommt, was aus denen geworden ist, die entführt wurden oder verschwunden sind. Da bricht die Vergangenheit mit aller Gewalt durch. Die Vergangenheit ist nie zu Ende, sie ist immer da, das ist eine Realität, und übrigens, glaube ich, eins der grundlegendsten Themen des Lebens überhaupt und Teil der zeitgenössischen Lebenserfahrung in Europa und in der ganzen Welt: die Vergangenheit weigert sich, vergangen zu sein."

    Durch Muñoz Molinas Beschäftigung mit der Vergangenheit rücken unmerklich auch überindividuelle Zusammenhänge in den Vordergrund. So ist es nur folgerichtig, daß der Roman nicht einen einzelnen Protagonisten, sondern fünf oder sechs aus nächster Nähe beobachtete Hauptpersonen präsentiert. Da sind zum einen die genretypischen Akteure - der namenlose, trenchcoattragende Inspektor, der pervertierte Mörder und die lämmergleichen Opfer - zum anderen verschiedene Figuren, die nur mittelbar mit den Morden in Verbindung stehen. So lernen wir die Familie der kleinen Fatima kennen und erhalten Einblick in einen Kinderalltag. Wir begleiten den greisen Pater Orduña, den ehemaligen Internatslehrer des Inspektors, auf seinen schlurfenden Gängen durch die Stadt. Oder wir blicken mit der Lehrerin des Opfers, Susanna Grey, der mit Abstand ungewöhnlichsten Romanfigur, durch das Fenster ihres Klassenzimmers in ein monotones, einsames Dasein, das nur durch die spröde Liebesbeziehung mit dem Inspektor aufgehellt wird. Molina:

    "Bei der Entstehung des Romans, war die Entwicklung der Figur Susannas sehr wichtig, denn sie hatte, als ich anfing zu schreiben, überhaupt keine Bedeutung. Sie war einfach nur die Lehrerin des Mädchens. Aber während des Schreibens begann diese Figur zu wachsen und ich mochte sie immer mehr. Zuletzt ist es so, daß wir über Susanna am meisten wissen, ihre Vorlieben und Abneigungen kennen, welche Musik sie mag, welchen Wein sie trinkt und so weiter. Für mich ist diese Figur der Balancepunkt des Romans. Ohne sie wäre er zu düster. Denn das ist auch im wirklichen Leben so. Ich versuche ein realistischer Autor zu sein. Das Leben ist nicht nur düster."

    "Sucht man nach literarischen Verwandten von Die Augen eines Mörders, denkt man spontan an Georges Simenon, dann an Barbara Vine. Auch der film noir stand offensichtlich Pate für Muñoz Molinas visuellen Erzählstil. Immer wieder überspringt er die Grenzen des Genres, auch schon im Umfang. Knapp fünfhundert Seiten ist der Roman lang und wirkt doch nie langatmig. Die Erzählung mäandert ganz unökonomisch um das Verbrechen herum und hält sich lange mit dem Privatleben der einzelnen Beteiligten auf. Ursprüngliche Nebensächlichkeiten rücken in den Vordergrund. Dabei ist die Intrige einfach gestrickt. Bereits nach fünfzig Seiten ist klar, wer der Mörder ist. Doch das spielt eigentlich nur eine Nebenrolle. Was wirklich interessiert, ist etwas ganz anderes. Die Liebesgeschichte zum Beispiel, die sich da entwickelt, oder die Erinnerungen der Pater Orduña an die Francozeit. Er habe keinen Kriminalroman, sondern einen Roman mit einem Kriminalbeamten schreiben wollen, sagt Muñoz Molina. Das ist ihm aber nur teilweise gelungen. Denn trotz aller tiefgehenden Einsichten in die menschliche Seele bleibt seine Erzählung am Plot haften. Eine Eigendynamik, bei der sich ein Gedanke vom Mordfall loslöst und frei schwebend entfaltet oder die Sprache mehr Spielraum erhält, entwickelt sich nicht. Der literarische Mehrwert des Romans liegt im Detail. Wenn er den Leser in das typisch kleinbürgerliche Wohnzimmer einer spanischen Arbeiterfamilie oder in eine Null-Acht-Fünfzehn Kneipe der andalusischen Provinz führt, hört man förmlich das durchdringende Zischen der Expresso-Maschine und das Rasseln der Spielautomaten. Kaum ein anderer Autor hat wohl ein solches Auge für die Eigenheiten seiner Landsleute, erkennt gerade in den trivialen Einzelheiten das Charakteristische, oder besitzt ein solch chamäleonisches Einfühlungsvermögen in seine zahlreichen Figuren. Eine der besten Stellen des Buches schildert, was das halberstickte, halb tot geschlagene Mädchen fühlt, als es aus der Ohnmacht aufgetaucht. Nur schwer kann man sich den physischen Eindrücken erwehren, die diese präzisen und dennoch nicht auf den Schockeffekt kalkulierten Beschreibungen hervorrufen. Muñoz Molina wurde mit 38 Jahren als jüngests Mitglied in die Königliche Akademie gewählt (das spanische Pendant der Académie Francaise in Frankreich). Er gilt als einer der besten Romanautoren Spaniens. Seinen Ruf verdankt er nicht zuletzt seinen stilistischen Fähigkeiten, als da sind: der versierte Umgang mit einem bemerkenswert reichen Wortschatz und eine an sieben Romanen und etlichen Erzähl- und Essaybänden erprobte Sprachsicherheit. Beide tragen auch hier wieder entscheidend zum Lesevergnügen bei. Die Augen eines Mörders bietet neben diesem sprachlichen Plus solide Unterhaltung und ein differenziertes, lebendiges Bild der aktuellen spanischen Gesellschaft.